Folker Bittmann

WisteV-Standards

WisteV-Standards

Fortsetzung des Artikels aus WiJ 1/2012 Seite 62 – 80: Themenblöcke 1-3.

In der WiJ werden aktuelle Thesen und Fragestellungen von Folker Bittmann, Dessau-Roßlauer Leitender Oberstaatsanwalt, in aufbereiteter und von ihm redaktionell verantworteter Form vorgestellt. Sie versuchen, den innerhalb von WisteV erzielten Diskussionsstand repräsentativ widerzuspiegeln, können aber nicht durchweg Ergebnis eines vereinsweiten Diskussionsprozesses sein. Sie stellen schon deshalb nie unverrückbare Endpunkte dar.

Vielmehr sind die Leser, ob WisteV-Mitglieder oder nicht, aufgerufen, sich am steten Prozess der Aktualisierung und Weiterentwicklung zu beteiligen und sich unter Angabe ihres Berufes zu einzelnen, bereits benannten oder auch zusätzlichen Aspekten zu positionieren. Im besten Falle findet so eine permanente Qualifizierung statt, die allen Interessierten eine verlässliche Orientierung bietet.

Anregungen, Kritik oder Widerspruch können gerichtet werden an: standards@wi-j.de

WisteV ist ein Zusammenschluss verschiedener am Wirtschaftsstrafrecht beteiligter Berufsgruppen. Das bietet den Vorteil, Themen aus unterschiedlicher Sicht betrachten zu können. Auch damit wird es allerdings nicht gelingen, in jeglicher Hinsicht Konsens herzustellen. Bereits das Anstreben eines solchen Zieles wäre von vorn herein, weil völlig unrealistisch, zum Scheitern verurteilt. Aber mehr Klarheit zu schaffen, hinsichtlich des Trennenden wie des Gemeinsamen, erscheint als wünschenswert, sinnvoll und vor allem erreichbar. Ungewissheiten mögen zwar den professionell am Wirtschaftsstrafrecht Beteiligten aus unterschiedlichen bis gegensätzlichen Gründen durchaus zupass kommen, weil dabei die Chance argumentativer Beeinflussung des Ergebnisses größer ist als beim Bewegen auf gesichertem Terrain. Aber derjenige, der sich fragt, wie er auf rechtmäßige Weise ein (wirtschaftliches) Ziel erreichen kann, der hat keinerlei Interesse an Ungewissheiten. Er strebt nach einem ‚safe harbour‘. Dieses Interesse ist völlig legitim: in einer freiheitlichen Gesellschaft darf – prinzipiell, trotz des faktisch erforderlichen Freischwimmens in einem Meer <und Mehr!> aus Bürokratie – frei gehandelt und damit auch frei gewirtschaftet werden. Um von dieser Freiheit innerhalb des legalen Rahmens Gebrauch machen zu können, bedarf es der Rechtssicherheit. Diese wird in einer sich wandelnden Welt immer nur partiell erreicht werden können. Das stellt die Sinnhaftigkeit dieses Ziels allerdings nicht in Frage.

WisteV hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, für möglichst viele Themenfelder Standards dergestalt zu entwickeln, dass einerseits Konsentiertes und andererseits Kontroverses formuliert wird. Geeignete Ausgangspunkte sind WisteV-Veranstaltungen zu aktuellen Themen. Deshalb sind insbesondere diejenigen, die Regional- oder Facharbeitskreis-Veranstaltungen organisieren, aufgerufen, das Diskutierte in diesen beiden Kategorien möglichst tiefgehend zusammenzufassen. Es ist allerdings auch ohne weiteres denkbar, derartige Aufstellungen auch aus anderem Anlass zu formulieren.

4) Themenblock: Bilanzstrafrecht

Redaktionell aufbereitet von Folker Bittmann auf der Basis einer von Prof. Dr. Martin Paul Waßmer, Universität Köln, erstellten Zusammenfassung seines Vortrags auf der WisteV-wistra-Neujahrstagung im Januar 2012 in Frankfurt am Main. Nähere Informationen zu der Tagung finden Sie unter www.wistev.de (Archiv).

Konsens:

These 1: Das Bilanzstrafrecht schützt vor einer vorsätzlichen unrichtigen oder verschleiernden Darstellung der Verhältnisse, § 331 Nrn. 1 und 2 HGB. Hingegen genügt Leichtfertigkeit bei Offenlegung einer unrichtigen oder verschleiernden Darstellung eines nach internationalen Rechnungsstandards erstellten Einzelabschlusses, wenn dieser nach § 325 Abs. 2a und b HGB von der Pflicht zur Erstellung eines HGB-Jahresabschlusses befreit, § 331 Nr. 1a, sowie Nr. 3 für den Konzernabschluss.

These 2: Das Insolvenzstrafrecht schützt zusätzlich – aber nur beim Handeln in der Krise und zusätzlich im Fall der Zahlungseinstellung, der Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse – vor der Aufstellung von Bilanzen, bei denen die Übersicht über den Vermögensstand vorsätzlich oder fahrlässig erschwert ist, § 283 Abs. 1 Nr. 7a, Abs. 4 Nr. 1 und 5 Nr. 1 StGB.

These 3: Das Strafrecht ist limitiert bilanzrechtsakzessorisch, so dass nur wenige Bilanzverstöße eine Strafbarkeit begründen können.

These 4: Erfasst sind nur solche Bilanzfälschungen, die sowohl evident, d.h. „schlechthin unvertretbar“, als auch wesentlich und so erheblich sind, dass sie das „Gesamtbild“ der Darstellung beeinträchtigen.

These 5: Eine absolute Wahrheit im bilanziellen Sinne („die richtige Bilanz“) existiert nicht. Die Bilanzwahrheit ist aufgrund der Komplexität und demzufolge der Mehrdeutigkeit vieler rechnungslegungsrelevanter Sachverhalte „relativ“.

These 6: Die bloße Nutzung von Ansatz-, Bewertungs- und Darstellungswahlrechten, bilanzpolitischen Ermessensspielräumen, zulässigen sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen und Auslegungsspielräumen macht die Bilanz nicht unrichtig.

These 7: Mit der VO (EG) Nr. 1606/2002 wurden 2005 die vom IASB herausgegebenen IFRS zum Rechnungslegungsstandard für Konzernabschlüsse von kapitalmarktorientierten Gesellschaften in der EU. Da eine unmittelbare Anwendung derStandards privater Gremien ausscheidet, sind nur diejenigen Standards verbindlich, die nach Durchlaufen des sog. Komitologie-/Endorsement-Verfahrens durch Verordnungen anerkannt und veröffentlicht sind („EU-IFRS“).

These 8: Die Einbeziehung der „EU-IFRS“ ist verfassungsrechtlich prinzipiell unbedenklich, da die deutschen Repräsentanten ausreichend am Komitologie-/Endorsement-Verfahren beteiligt sind. Bedenken könnte jedoch die nur zurückhaltende Nutzung der vorhandenen Kontrollmöglichkeiten wecken.

These 9: Beim deutschen HGB-Abschluss steht der Gläubigerschutz und damit der Kapitalerhalt im Vordergrund. Dagegen geht es beim angelsächsisch geprägten IFRS-Abschluss um die Kapitalmarktinformation und damit die Performance.

These 10: Der IFRS-Abschluss baut viel stärker als der HGB-Abschluss auf Prognosen statt auf Fakten auf. Dieser Paradigmenwechsel von einer „objektiven“ zu einer „subjektiven“ Bewertung ermöglicht eine kaum angreifbare „Bilanzkosmetik“.

These 11: Beim IFRS-Abschluss führen strukturelle Mängel und Gestaltungsmöglichkeiten dazu, dass der Grundsatz der Bilanzwahrheit viel stärker als beim HGB-Abschluss relativiert ist. Dadurch büßt auch das Bilanzstrafrecht an Schärfe ein.

These 12: Lückenhafte, unklare oder abdingbare Vorgaben der Rechnungslegung – sei es nach HGB, sei es nach IFRS –, scheiden als Basis für eine Bestrafung aus.

These 13: Es ist daher die Aufgabe des Gesetzgebers, durch klare Vorgaben Lücken, Ungereimtheiten und unverantwortlichen Spielräumen entgegenzuwirken, um eine stabile und überzeugende Grundlage für die strafrechtliche Bewertung der Rechnungslegung zu schaffen, und die Aufgabe der Wissenschaft, den Gesetzgebungsprozess durch die Systematisierung und Systembildung des Bilanzrechts zu unterstützen.

5) Themenblock: Verwendungsverbot, § 97 Abs. 1 S. 3 InsO

Aufbereitet und zusammengefasst von Folker Bittmann nach einer Tagung des WisteV-Arbeitskreises ‚Insolvenzstrafrecht‘ am 29.11.2011 in den Räumen des BGH. Nähere Informationen zu der Tagung finden Sie unter www.wistev.de (Archiv).

Grundlegendes:

Die Ergebnisse unterscheiden sich grundlegend danach, ob man

a) § 97 Abs. 1 S. 3 InsO für sich betrachtet und diese Bestimmung allein auf der Basis der Gesetzgebungsmaterialien der InsO auslegt mit der möglichen Folge eines im Extrem bis zur Unzulässigkeit der Lektüre der Insolvenzakten seitens der Justiz (Staatsanwaltschaft und Strafgericht) reichenden Beweiserhebungsverbots, oder

b) § 97 Abs. 1 S. 3 InsO als durch das Justizmitteilungsgesetz modifiziert betrachtet.

Es ist derzeit nicht ersichtlich, dass und wie diese sich gegenüberstehenden Fronten aufgeweicht werden könnten. Die nachfolgenden Thesen beruhen auf der zu b) dargelegten Grundannahme. Deshalb ist ‚Konsens‘ in Klammern gesetzt. Allerdings stehen diese (begrenzt) konsentierten Aussagen mit Ausnahme der Thesen 6 und 7 (das gilt eingeschränkt auch für die Thesen 27, 28 und 32) nicht in einem (logischen) Widerspruch zur Grundannahme a).

(Konsens):

These 1: Es besteht ein Zielkonflikt zwischen der umfassenden Auskunftspflicht im Insolvenzverfahren und dem verfassungsverbürgten Schweigerecht im Ermittlungs- und Strafverfahren.

These 2: Im Jahre 1981 entwickelte BVerfGE 56, 37 ff. eine Lösung dahingehend, daß zwar die Auskunftspflicht uneingeschränkt besteht, hinsichtlich der erteilten Auskunft aber ein strafprozessuales Verwertungsverbot eingreift. Dessen konkrete Ausgestaltung (einschließlich der etwaigen Regelung einer Früh- und Fernwirkung) könne aber nur der Gesetzgeber vornehmen. Ein über ein Verwertungsverbot hinausgehendes Verwendungsverbot befürwortete hingegen der damalige Richter am BVerfG Heußner in seinem Sondervotum.

These 3: Mit § 97 Abs. 1 S. 3 führte die 1994 verabschiedete, am 1.1.1999 in Kraft getretene Insolvenzordnung ausdrücklich ein Verwendungsverbot ein: Die Auskunft darf seitdem auch nicht mehr den Weg zu Erkenntnisquellen weisen.

These 4: Allerdings schuf das bereits zum 1.6.1998 in Kraft getretene Justizmitteilungsgesetz die gesetzliche Grundlage für die ‚Mitteilungen in Zivilsachen‘ denen zufolge die Insolvenzgerichte die Staatsanwaltschaften über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ebenso zu unterrichten haben wie über die Abweisung eines Insolvenzantrags mangels Masse.

These 5: Das Insolvenzgericht darf die Staatsanwaltschaft von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ebenso wie von einer Antragsabweisung mangels Masse in Kenntnis setzen – auch bei einem Eigenantrag.

These 6: Die Staatsanwaltschaft darf Insolvenzakten lesen.

These 7: Die Staatsanwaltschaft darf im Insolvenzeröffnungs- und im Insolvenzverfahren pflichtgemäß erteilte Auskünfte des Schuldners bzw. des vertretungsberechtigten Organs, soweit sie Inhalt der Insolvenzakte geworden sind, ebenso wie Passagen der Insolvenzakten, in denen auf solche Auskünfte Bezug genommen wird, zwar lesen, aber weder ohne weiteres verwerten noch verwenden.

These 8: Soweit der Inhalt der Insolvenzakte nicht auf in These 7 genannten Auskünften beruht, ist er verwendbar, d.h. aus ihm darf Verdacht geschöpft werden und er darf den Zugang zu Beweismitteln weisen.

These 9: Das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO greift nur bei Vorliegen folgender tatbestandlicher Voraussetzungen ein:

  • Auskunft,
  • beruhend auf Auskunftspflicht gemäß § 97 Abs. 1 S. 1 InsO,
  • Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Auskunftspflichtigen oder dessen Angehörige (§ 52 Abs. 1 StPO), und
  • fehlende Zustimmung des die Auskunft Erteilenden.

These 10: § 97 Abs. 1 S. 3 InsO erstreckt sich nicht auf Angaben im Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens.

These 11: Soweit im oder aus Anlass des Eigenantrags Auskünfte in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht erteilt werden, greift ein verfassungsunmittelbares Verwertungsverbot in Anlehnung an BVerfGE 56, 37 ff. ein.

These 12: Das Verwertungsverbot gemäß These 11 erstreckt sich mit Inkrafttreten des ESUG auch für die dem Eigenantrag beizufügende Gläubigerliste.

These 13: Entgegen OLG Jena (12.8.2010 – 1 Ss 45/10) fallen auch Angaben gegenüber dem schlichten Gutachter im Insolvenzeröffnungsverfahren unter die Auskunftspflicht: er ist bloßer Helfer des Insolvenzgerichts, Angaben dem Gutachter gegenüber sind folglich mittelbare Angaben gegenüber dem Insolvenzgericht, so dass sie vom Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO erfasst werden.

These 14: Bestünde gegenüber dem Gutachter keine Auskunftspflicht, so wären dennoch erteilte Auskünfte freiwillig, so dass nicht einmal ein verfassungsunmittelbares Verwertungsverbot in Anlehnung an BVerfGE 56, 37 ff. eingriffe. Diese Rechtslage würde eine Belehrungspflicht verlangen.

These 15: § 97 Abs. 1 S. 3 InsO erfasst alle auf der Auskunftspflicht des § 97 Abs. 1 S. 1 InsO beruhenden, nicht nur die im Wege des Zwangs erteilten Auskünfte.

These 16: Im Verfahren gegen weitere Verantwortliche (z.B. Mitgeschäftsführer) sind die erteilten Auskünfte verwertbar.

These 17: Freiwillige Äußerungen sind hingegen frei verwert- und (erst recht) verwendbar.

These 18: In äußerst seltenen Ausnahmefällen können Auskünfte auch gegenüber dem Insolvenzgericht oder Insolvenzverwalter freiwillig sein. Denkbar ist das etwa bei Irrtum über die Person des Insolvenzverwalters oder eines seiner Mitarbeiter und bei Äußerungen in privatem Rahmen <‘Bierlaune‘>.

These 19: Freiwillig sind alle Angaben, die der Auskunftspflichtige Dritten gegenüber tätigte (z.B. gegenüber dem Leiter der eigenen Buchhaltung).

These 20: Beruht eine Information auch auf einer vom Auskunftspflichtigen unabhängigen Quelle, so darf sie verwertet werden.

These 21: Falsche Angaben sind nicht Ausfluß der Auskunftspflicht. Sie können also frei verwertet werden.

These 22: Schweigen ist keine Erteilung einer Auskunft, darf folglich verwertet und verwendet werden.

These 23: Das gilt auch für beredtes Schweigen. Soweit es einen Informationsgehalt aufweist, fällt es nicht unter § 97 Abs. 1 S. 3 InsO (Beispiel: Angaben Ende 2011 „Bilanzen 2000 bis 2008 liegen vor“. Hier ist nicht die Auskunft selbst verwert- und verwendbar, wohl aber die Lücke: Bilanzen 2009 und 2010 fehlen).

These 24: Handelsbücher werden nicht aufgrund insolvenzrechtlicher Pflichten geführt, ebensowenig Bilanzen aus diesem Grund erstellt: Beide sind deshalb frei verwert- und verwendbar.

These 25: Das gilt aber nur für das Buchwerk selbst. Das bedeutet, daß eine im Insolvenzverfahren erteilte Auskunft über das Versteck unter § 97 Abs. 1 S. 3 InsO fällt.

These 26: (Verallgemeinerung von These 25): Hinsichtlich der Nutzung bereits im Insolvenzverfahren aufgedeckter eigenständiger Informationsquellen liegt keine Verwendung einer Auskunft (im Ermittlungs- oder Strafverfahren) vor, also z.B. betreffend vom Insolvenzverwalter aufgrund einer Auskunft oder nach Auswertung ihm zugänglich gemachter Buchführungsunterlagen und Bilanzen zur Masse gezogenes Auslandsvermögen. Das Gesetz kennt keine mittelbare Fernwirkung.

These 27: Wurden in Erfüllung von § 97 Abs. 1 S. 1 InsO getätigte Angaben ohne Zustimmung strafprozessual verwertet, so darf die Information im Ermittlungs- und Strafverfahren nur dann weiter genutzt werden, wenn sie sich auch auf eine von der Auskunft unabhängige, also uneingeschränkt verwertbare Quelle zurückführen lässt.

These 28: Da es der Prüfung im Ermittlungs- und Strafverfahren unterliegt, ob eine Auskunft auf der insolvenzrechtlichen Auskunftspflicht beruht oder nicht und ob sie unter § 97 Abs. 1 S. 3 InsO fällt, handelt es sich bei dieser Vorschrift allein um ein Verwertungs- und Verwendungs-, nicht aber um ein Beweiserhebungsverbot.

These 29: Der Insolvenzverwalter kann als Zeuge vernommen werden. Er verfügt über kein Schweigerecht.

These 30: Sofern der als Zeuge vernommene Insolvenzverwalter Informationen wiedergibt, die ausschließlich auf einer im Eröffnungs- oder Insolvenzverfahren erteilten Pflichtauskunft beruhen und der Pflichtige keine Zustimmung zur Verwertung und Verwendung erteilt hat, greift das Verwertungs- und Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO ein.

These 31: Das Insolvenzgutachten kann grundsätzlich nicht als schriftliches Beweismittel im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt werden, § 250 S. 2 StPO. Anderes gilt nur unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StPO.

These 32: Ein auf den Inhalt der Insolvenzakte gestützter Vorhalt ist zulässig, soweit die vorgehaltene Stelle nicht unter das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO fällt.

Kontrovers:

Frage 1: Gilt These 16 nur im Fall selbständiger Verfahren oder auch bei Ermittlungen in einem Verfahren gegen alle Verantwortlichen?

Frage 2: Gilt § 97 Abs. 1 S. 3 InsO auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren nach § 30 OWiG? Das Gesetz trifft keine Regelung. Das Bundesverfassungsgericht hält es für verfassungsgemäß, wenn das Organ insoweit kein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt bekommt: Ist dieser Gedanke auf das Verwendungsverbot gemäß § 97 I 3 InsO übertragbar?

6) Themenblock: Verfahrensdauer

Aufbereitet und zusammengestellt von Folker Bittmann nach einer Tagung der Regionalgruppe Osten am 9.2.2012 in Berlin zu dem Thema: Überlange Verfahrensdauer in Wirtschaftsstrafsachen: Ursachen und Abhilfen. Nähere Informationen zu der Tagung finden Sie unter www.wistev.de (Archiv).

Konsens:

These 1: Für die Strafzumessung bedarf es der Unterscheidung zwischen folgenden, ggf. mildernden Erwägungen:

  • (Langer) Abstand zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung.
  • (Besondere) Belastungen aufgrund der Durchführung des Verfahrens.
  • (Rechtstaatswidrige) Verfahrensverzögerungen.

Nachfolgende Thesen beziehen sich allein auf den Aspekt (3).

These 2: Prozessual zulässiges Verhalten führt nicht zu einer rechtstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Das gilt für das Verhalten aller Beteiligten.

These 3: Verzögerungen, die ihre Ursache zwar im Verantwortungsbereich der Justiz haben, aber auf einer insgesamt akzeptablen Arbeitsorganisation beruhen, sind nicht rechtstaatswidrig.

These 4: Eine rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerung lässt sich nicht allein mit zeitlichen Umständen begründen. Es müssen vielmehr fallbezogen die jeweiligen Umstände und deren Ursachen berücksichtigt werden.

These 5: Bei der Einzelfallbetrachtung sind Umfang, Schwierigkeitsgrad und das Verhalten der Beteiligten in den Blick zu nehmen.

These 6: Die Vollstreckungslösung ist der früher praktizierten Strafzumessungslösung überlegen.

These 7: Die Verzögerungsrüge mit der Möglichkeit einer Entschädigung steht neben der Vollstreckungslösung. Es lässt sich noch nicht absehen, ob es sich dabei ausschließlich um ein Alternativverhältnis handelt.

These 8: Die Verfahrensdauer in Wirtschaftsstrafsachen findet ihre wesentliche Ursache in der Komplexität der Materie und ist nicht prinzipiell einer Gruppe von Verfahrensbeteiligten anzulasten. Das gilt auch in Bezug auf die Wehrhaftigkeit der Angeklagten.

These 9: Es besteht ein Missverhältnis zwischen den der Komplexität geschuldeten Anforderungen an die Justiz und deren Ausstattung.

These 10: Die durchaus wünschenswerte Vereinfachung der Rechtslage darf nicht dazu führen, dass an insgesamt unvermeidliche Verstöße strafrechtliche Folgen geknüpft werden, auch wenn jeder einzelne auf einer für sich gesehen vermeidbaren Sorgfaltswidrigkeit beruht.

These 11: Zwischen praktikablen Möglichkeiten der Berechnung des Nachteils bei der Untreue auch in komplexen Sachverhalten und dem Bedürfnis nach alternativen (nicht notwendig: straf-)rechtlichen Lösungen besteht ein inhaltlicher Zusammenhang.

These 12: Es sollte auf Gesetzesebene geprüft werden, ob

in Wirtschaftsstrafsachen nur Schöffen mit besonderer Sachkunde eingesetzt werden (nach den Vorbildern der Kammer für Handelssachen und dem Arbeitsgerichtsgesetz), und

der Einsatz von Richtern und Staatsanwälten auf dem Gebiet der Wirtschaftsstrafsachen besser dotiert werden sollte.

These 13: Auf der Basis des derzeitigen Rechtszustands ist über eine Reduzierung der Komplexität in jedem Verfahren (in Anlehnung an den Rechtsgedanken der §§ 154, 154a StPO) zu entscheiden. Das gilt für jedes Verfahrensstadium.

These 14: (Justiz-)Organisatorisch sollte geprüft werden,

  • ob und wie der wirtschaftliche Sachverstand innerhalb der Justiz vermehrt werden muss und kann,
  • wie sichergestellt werden kann, dass Staatsanwälte und Richter mit besonderen Kenntnissen des Wirtschaftslebens möglichst lange und intensiv ihre Fähigkeiten anwenden können und nicht (ohne adäquaten Ersatz) anderweit verwendet werden,
  • auf welche Weise das justizielle Verfahrensmanagement verbessert werden kann,
  • ob eine Entlastung der erkennenden Richter durch Assistenten sachgerecht wäre,
  • ob und wie die Verteidigung frühzeitiger als bisher und zwar auch schon im Ermittlungsverfahren einbezogen werden kann, und
  • ob die Konzentration der Wirtschaftsstrafsachen auf einen Senat des BGH wünschenswert wäre

[:en]

WisteV-Standards

Fortsetzung des Artikels aus WiJ 1/2012 Seite 62 – 80: Themenblöcke 1-3.

In der WiJ werden aktuelle Thesen und Fragestellungen von Folker Bittmann, Dessau-Roßlauer Leitender Oberstaatsanwalt, in aufbereiteter und von ihm redaktionell verantworteter Form vorgestellt. Sie versuchen, den innerhalb von WisteV erzielten Diskussionsstand repräsentativ widerzuspiegeln, können aber nicht durchweg Ergebnis eines vereinsweiten Diskussionsprozesses sein. Sie stellen schon deshalb nie unverrückbare Endpunkte dar.

Vielmehr sind die Leser, ob WisteV-Mitglieder oder nicht, aufgerufen, sich am steten Prozess der Aktualisierung und Weiterentwicklung zu beteiligen und sich unter Angabe ihres Berufes zu einzelnen, bereits benannten oder auch zusätzlichen Aspekten zu positionieren. Im besten Falle findet so eine permanente Qualifizierung statt, die allen Interessierten eine verlässliche Orientierung bietet.

Anregungen, Kritik oder Widerspruch können gerichtet werden an: standards@wi-j.de

WisteV ist ein Zusammenschluss verschiedener am Wirtschaftsstrafrecht beteiligter Berufsgruppen. Das bietet den Vorteil, Themen aus unterschiedlicher Sicht betrachten zu können. Auch damit wird es allerdings nicht gelingen, in jeglicher Hinsicht Konsens herzustellen. Bereits das Anstreben eines solchen Zieles wäre von vorn herein, weil völlig unrealistisch, zum Scheitern verurteilt. Aber mehr Klarheit zu schaffen, hinsichtlich des Trennenden wie des Gemeinsamen, erscheint als wünschenswert, sinnvoll und vor allem erreichbar. Ungewissheiten mögen zwar den professionell am Wirtschaftsstrafrecht Beteiligten aus unterschiedlichen bis gegensätzlichen Gründen durchaus zupass kommen, weil dabei die Chance argumentativer Beeinflussung des Ergebnisses größer ist als beim Bewegen auf gesichertem Terrain. Aber derjenige, der sich fragt, wie er auf rechtmäßige Weise ein (wirtschaftliches) Ziel erreichen kann, der hat keinerlei Interesse an Ungewissheiten. Er strebt nach einem ‚safe harbour‘. Dieses Interesse ist völlig legitim: in einer freiheitlichen Gesellschaft darf – prinzipiell, trotz des faktisch erforderlichen Freischwimmens in einem Meer <und Mehr!> aus Bürokratie – frei gehandelt und damit auch frei gewirtschaftet werden. Um von dieser Freiheit innerhalb des legalen Rahmens Gebrauch machen zu können, bedarf es der Rechtssicherheit. Diese wird in einer sich wandelnden Welt immer nur partiell erreicht werden können. Das stellt die Sinnhaftigkeit dieses Ziels allerdings nicht in Frage.

WisteV hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, für möglichst viele Themenfelder Standards dergestalt zu entwickeln, dass einerseits Konsentiertes und andererseits Kontroverses formuliert wird. Geeignete Ausgangspunkte sind WisteV-Veranstaltungen zu aktuellen Themen. Deshalb sind insbesondere diejenigen, die Regional- oder Facharbeitskreis-Veranstaltungen organisieren, aufgerufen, das Diskutierte in diesen beiden Kategorien möglichst tiefgehend zusammenzufassen. Es ist allerdings auch ohne weiteres denkbar, derartige Aufstellungen auch aus anderem Anlass zu formulieren.

4) Themenblock: Bilanzstrafrecht

Redaktionell aufbereitet von Folker Bittmann auf der Basis einer von Prof. Dr. Martin Paul Waßmer, Universität Köln, erstellten Zusammenfassung seines Vortrags auf der WisteV-wistra-Neujahrstagung im Januar 2012 in Frankfurt am Main. Nähere Informationen zu der Tagung finden Sie unter www.wistev.de (Archiv).

Konsens:

These 1: Das Bilanzstrafrecht schützt vor einer vorsätzlichen unrichtigen oder verschleiernden Darstellung der Verhältnisse, § 331 Nrn. 1 und 2 HGB. Hingegen genügt Leichtfertigkeit bei Offenlegung einer unrichtigen oder verschleiernden Darstellung eines nach internationalen Rechnungsstandards erstellten Einzelabschlusses, wenn dieser nach § 325 Abs. 2a und b HGB von der Pflicht zur Erstellung eines HGB-Jahresabschlusses befreit, § 331 Nr. 1a, sowie Nr. 3 für den Konzernabschluss.

These 2: Das Insolvenzstrafrecht schützt zusätzlich – aber nur beim Handeln in der Krise und zusätzlich im Fall der Zahlungseinstellung, der Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse – vor der Aufstellung von Bilanzen, bei denen die Übersicht über den Vermögensstand vorsätzlich oder fahrlässig erschwert ist, § 283 Abs. 1 Nr. 7a, Abs. 4 Nr. 1 und 5 Nr. 1 StGB.

These 3: Das Strafrecht ist limitiert bilanzrechtsakzessorisch, so dass nur wenige Bilanzverstöße eine Strafbarkeit begründen können.

These 4: Erfasst sind nur solche Bilanzfälschungen, die sowohl evident, d.h. „schlechthin unvertretbar“, als auch wesentlich und so erheblich sind, dass sie das „Gesamtbild“ der Darstellung beeinträchtigen.

These 5: Eine absolute Wahrheit im bilanziellen Sinne („die richtige Bilanz“) existiert nicht. Die Bilanzwahrheit ist aufgrund der Komplexität und demzufolge der Mehrdeutigkeit vieler rechnungslegungsrelevanter Sachverhalte „relativ“.

These 6: Die bloße Nutzung von Ansatz-, Bewertungs- und Darstellungswahlrechten, bilanzpolitischen Ermessensspielräumen, zulässigen sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen und Auslegungsspielräumen macht die Bilanz nicht unrichtig.

These 7: Mit der VO (EG) Nr. 1606/2002 wurden 2005 die vom IASB herausgegebenen IFRS zum Rechnungslegungsstandard für Konzernabschlüsse von kapitalmarktorientierten Gesellschaften in der EU. Da eine unmittelbare Anwendung derStandards privater Gremien ausscheidet, sind nur diejenigen Standards verbindlich, die nach Durchlaufen des sog. Komitologie-/Endorsement-Verfahrens durch Verordnungen anerkannt und veröffentlicht sind („EU-IFRS“).

These 8: Die Einbeziehung der „EU-IFRS“ ist verfassungsrechtlich prinzipiell unbedenklich, da die deutschen Repräsentanten ausreichend am Komitologie-/Endorsement-Verfahren beteiligt sind. Bedenken könnte jedoch die nur zurückhaltende Nutzung der vorhandenen Kontrollmöglichkeiten wecken.

These 9: Beim deutschen HGB-Abschluss steht der Gläubigerschutz und damit der Kapitalerhalt im Vordergrund. Dagegen geht es beim angelsächsisch geprägten IFRS-Abschluss um die Kapitalmarktinformation und damit die Performance.

These 10: Der IFRS-Abschluss baut viel stärker als der HGB-Abschluss auf Prognosen statt auf Fakten auf. Dieser Paradigmenwechsel von einer „objektiven“ zu einer „subjektiven“ Bewertung ermöglicht eine kaum angreifbare „Bilanzkosmetik“.

These 11: Beim IFRS-Abschluss führen strukturelle Mängel und Gestaltungsmöglichkeiten dazu, dass der Grundsatz der Bilanzwahrheit viel stärker als beim HGB-Abschluss relativiert ist. Dadurch büßt auch das Bilanzstrafrecht an Schärfe ein.

These 12: Lückenhafte, unklare oder abdingbare Vorgaben der Rechnungslegung – sei es nach HGB, sei es nach IFRS –, scheiden als Basis für eine Bestrafung aus.

These 13: Es ist daher die Aufgabe des Gesetzgebers, durch klare Vorgaben Lücken, Ungereimtheiten und unverantwortlichen Spielräumen entgegenzuwirken, um eine stabile und überzeugende Grundlage für die strafrechtliche Bewertung der Rechnungslegung zu schaffen, und die Aufgabe der Wissenschaft, den Gesetzgebungsprozess durch die Systematisierung und Systembildung des Bilanzrechts zu unterstützen.

5) Themenblock: Verwendungsverbot, § 97 Abs. 1 S. 3 InsO

Aufbereitet und zusammengefasst von Folker Bittmann nach einer Tagung des WisteV-Arbeitskreises ‚Insolvenzstrafrecht‘ am 29.11.2011 in den Räumen des BGH. Nähere Informationen zu der Tagung finden Sie unter www.wistev.de (Archiv).

Grundlegendes:

Die Ergebnisse unterscheiden sich grundlegend danach, ob man

a) § 97 Abs. 1 S. 3 InsO für sich betrachtet und diese Bestimmung allein auf der Basis der Gesetzgebungsmaterialien der InsO auslegt mit der möglichen Folge eines im Extrem bis zur Unzulässigkeit der Lektüre der Insolvenzakten seitens der Justiz (Staatsanwaltschaft und Strafgericht) reichenden Beweiserhebungsverbots, oder

b) § 97 Abs. 1 S. 3 InsO als durch das Justizmitteilungsgesetz modifiziert betrachtet.

Es ist derzeit nicht ersichtlich, dass und wie diese sich gegenüberstehenden Fronten aufgeweicht werden könnten. Die nachfolgenden Thesen beruhen auf der zu b) dargelegten Grundannahme. Deshalb ist ‚Konsens‘ in Klammern gesetzt. Allerdings stehen diese (begrenzt) konsentierten Aussagen mit Ausnahme der Thesen 6 und 7 (das gilt eingeschränkt auch für die Thesen 27, 28 und 32) nicht in einem (logischen) Widerspruch zur Grundannahme a).

(Konsens):

These 1: Es besteht ein Zielkonflikt zwischen der umfassenden Auskunftspflicht im Insolvenzverfahren und dem verfassungsverbürgten Schweigerecht im Ermittlungs- und Strafverfahren.

These 2: Im Jahre 1981 entwickelte BVerfGE 56, 37 ff. eine Lösung dahingehend, daß zwar die Auskunftspflicht uneingeschränkt besteht, hinsichtlich der erteilten Auskunft aber ein strafprozessuales Verwertungsverbot eingreift. Dessen konkrete Ausgestaltung (einschließlich der etwaigen Regelung einer Früh- und Fernwirkung) könne aber nur der Gesetzgeber vornehmen. Ein über ein Verwertungsverbot hinausgehendes Verwendungsverbot befürwortete hingegen der damalige Richter am BVerfG Heußner in seinem Sondervotum.

These 3: Mit § 97 Abs. 1 S. 3 führte die 1994 verabschiedete, am 1.1.1999 in Kraft getretene Insolvenzordnung ausdrücklich ein Verwendungsverbot ein: Die Auskunft darf seitdem auch nicht mehr den Weg zu Erkenntnisquellen weisen.

These 4: Allerdings schuf das bereits zum 1.6.1998 in Kraft getretene Justizmitteilungsgesetz die gesetzliche Grundlage für die ‚Mitteilungen in Zivilsachen‘ denen zufolge die Insolvenzgerichte die Staatsanwaltschaften über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ebenso zu unterrichten haben wie über die Abweisung eines Insolvenzantrags mangels Masse.

These 5: Das Insolvenzgericht darf die Staatsanwaltschaft von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ebenso wie von einer Antragsabweisung mangels Masse in Kenntnis setzen – auch bei einem Eigenantrag.

These 6: Die Staatsanwaltschaft darf Insolvenzakten lesen.

These 7: Die Staatsanwaltschaft darf im Insolvenzeröffnungs- und im Insolvenzverfahren pflichtgemäß erteilte Auskünfte des Schuldners bzw. des vertretungsberechtigten Organs, soweit sie Inhalt der Insolvenzakte geworden sind, ebenso wie Passagen der Insolvenzakten, in denen auf solche Auskünfte Bezug genommen wird, zwar lesen, aber weder ohne weiteres verwerten noch verwenden.

These 8: Soweit der Inhalt der Insolvenzakte nicht auf in These 7 genannten Auskünften beruht, ist er verwendbar, d.h. aus ihm darf Verdacht geschöpft werden und er darf den Zugang zu Beweismitteln weisen.

These 9: Das Verwendungsverbotdes § 97 Abs. 1 S. 3 InsO greift nur bei Vorliegen folgender tatbestandlicher Voraussetzungen ein:

  • Auskunft,
  • beruhend auf Auskunftspflicht gemäß § 97 Abs. 1 S. 1 InsO,
  • Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Auskunftspflichtigen oder dessen Angehörige (§ 52 Abs. 1 StPO), und
  • fehlende Zustimmung des die Auskunft Erteilenden.

These 10: § 97 Abs. 1 S. 3 InsO erstreckt sich nicht auf Angaben im Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens.

These 11: Soweit im oder aus Anlass des Eigenantrags Auskünfte in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht erteilt werden, greift ein verfassungsunmittelbares Verwertungsverbot in Anlehnung an BVerfGE 56, 37 ff. ein.

These 12: Das Verwertungsverbot gemäß These 11 erstreckt sich mit Inkrafttreten des ESUG auch für die dem Eigenantrag beizufügende Gläubigerliste.

These 13: Entgegen OLG Jena (12.8.2010 – 1 Ss 45/10) fallen auch Angaben gegenüber dem schlichten Gutachter im Insolvenzeröffnungsverfahren unter die Auskunftspflicht: er ist bloßer Helfer des Insolvenzgerichts, Angaben dem Gutachter gegenüber sind folglich mittelbare Angaben gegenüber dem Insolvenzgericht, so dass sie vom Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO erfasst werden.

These 14: Bestünde gegenüber dem Gutachter keine Auskunftspflicht, so wären dennoch erteilte Auskünfte freiwillig, so dass nicht einmal ein verfassungsunmittelbares Verwertungsverbot in Anlehnung an BVerfGE 56, 37 ff. eingriffe. Diese Rechtslage würde eine Belehrungspflicht verlangen.

These 15: § 97 Abs. 1 S. 3 InsO erfasst alle auf der Auskunftspflicht des § 97 Abs. 1 S. 1 InsO beruhenden, nicht nur die im Wege des Zwangs erteilten Auskünfte.

These 16: Im Verfahren gegen weitere Verantwortliche (z.B. Mitgeschäftsführer) sind die erteilten Auskünfte verwertbar.

These 17: Freiwillige Äußerungen sind hingegen frei verwert- und (erst recht) verwendbar.

These 18: In äußerst seltenen Ausnahmefällen können Auskünfte auch gegenüber dem Insolvenzgericht oder Insolvenzverwalter freiwillig sein. Denkbar ist das etwa bei Irrtum über die Person des Insolvenzverwalters oder eines seiner Mitarbeiter und bei Äußerungen in privatem Rahmen <‘Bierlaune‘>.

These 19: Freiwillig sind alle Angaben, die der Auskunftspflichtige Dritten gegenüber tätigte (z.B. gegenüber dem Leiter der eigenen Buchhaltung).

These 20: Beruht eine Information auch auf einer vom Auskunftspflichtigen unabhängigen Quelle, so darf sie verwertet werden.

These 21: Falsche Angaben sind nicht Ausfluß der Auskunftspflicht. Sie können also frei verwertet werden.

These 22: Schweigen ist keine Erteilung einer Auskunft, darf folglich verwertet und verwendet werden.

These 23: Das gilt auch für beredtes Schweigen. Soweit es einen Informationsgehalt aufweist, fällt es nicht unter § 97 Abs. 1 S. 3 InsO (Beispiel: Angaben Ende 2011 „Bilanzen 2000 bis 2008 liegen vor“. Hier ist nicht die Auskunft selbst verwert- und verwendbar, wohl aber die Lücke: Bilanzen 2009 und 2010 fehlen).

These 24: Handelsbücher werden nicht aufgrund insolvenzrechtlicher Pflichten geführt, ebensowenig Bilanzen aus diesem Grund erstellt: Beide sind deshalb frei verwert- und verwendbar.

These 25: Das gilt aber nur für das Buchwerk selbst. Das bedeutet, daß eine im Insolvenzverfahren erteilte Auskunft über das Versteck unter § 97 Abs. 1 S. 3 InsO fällt.

These 26: (Verallgemeinerung von These 25): Hinsichtlich der Nutzung bereits im Insolvenzverfahren aufgedeckter eigenständiger Informationsquellen liegt keine Verwendung einer Auskunft (im Ermittlungs- oder Strafverfahren) vor, also z.B. betreffend vom Insolvenzverwalter aufgrund einer Auskunft oder nach Auswertung ihm zugänglich gemachter Buchführungsunterlagen und Bilanzen zur Masse gezogenes Auslandsvermögen. Das Gesetz kennt keine mittelbare Fernwirkung.

These 27: Wurden in Erfüllung von § 97 Abs. 1 S. 1 InsO getätigte Angaben ohne Zustimmung strafprozessual verwertet, so darf die Information im Ermittlungs- und Strafverfahren nur dann weiter genutzt werden, wenn sie sich auch auf eine von der Auskunft unabhängige, also uneingeschränkt verwertbare Quelle zurückführen lässt. 

These 28: Da es der Prüfung im Ermittlungs- und Strafverfahren unterliegt, ob eine Auskunft auf der insolvenzrechtlichen Auskunftspflicht beruht oder nicht und ob sie unter § 97 Abs. 1 S. 3 InsO fällt, handelt es sich bei dieser Vorschrift allein um ein Verwertungs- und Verwendungs-, nicht aber um ein Beweiserhebungsverbot.

These 29: Der Insolvenzverwalter kann als Zeuge vernommen werden. Er verfügt über kein Schweigerecht.

These 30: Sofern der als Zeuge vernommene Insolvenzverwalter Informationen wiedergibt, die ausschließlich auf einer im Eröffnungs- oder Insolvenzverfahren erteilten Pflichtauskunft beruhen und der Pflichtige keine Zustimmung zur Verwertung und Verwendung erteilt hat, greift das Verwertungs- und Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO ein.

These 31: Das Insolvenzgutachten kann grundsätzlich nicht als schriftliches Beweismittel im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt werden, § 250 S. 2 StPO. Anderes gilt nur unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StPO.

These 32: Ein auf den Inhalt der Insolvenzakte gestützter Vorhalt ist zulässig, soweit die vorgehaltene Stelle nicht unter das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 InsO fällt.

Kontrovers:

Frage 1: Gilt These 16 nur im Fall selbständiger Verfahren oder auch bei Ermittlungen in einem Verfahren gegen alle Verantwortlichen?

Frage 2: Gilt § 97 Abs. 1 S. 3 InsO auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren nach § 30 OWiG? Das Gesetz trifft keine Regelung. Das Bundesverfassungsgericht hält es für verfassungsgemäß, wenn das Organ insoweit kein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt bekommt: Ist dieser Gedanke auf das Verwendungsverbot gemäß § 97 I 3 InsO übertragbar?

6) Themenblock: Verfahrensdauer

Aufbereitet und zusammengestellt von Folker Bittmann nach einer Tagung der Regionalgruppe Osten am 9.2.2012 in Berlin zu dem Thema: Überlange Verfahrensdauer in Wirtschaftsstrafsachen: Ursachen und Abhilfen. Nähere Informationen zu der Tagung finden Sie unter www.wistev.de (Archiv).

Konsens:

These 1: Für die Strafzumessung bedarf es der Unterscheidung zwischen folgenden, ggf. mildernden Erwägungen:

  • (Langer) Abstand zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung.
  • (Besondere) Belastungen aufgrund der Durchführung des Verfahrens.
  • (Rechtstaatswidrige) Verfahrensverzögerungen.

Nachfolgende Thesen beziehen sich allein auf den Aspekt (3).

These 2: Prozessual zulässiges Verhalten führt nicht zu einer rechtstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Das gilt für das Verhalten aller Beteiligten.

These 3: Verzögerungen, die ihre Ursache zwar im Verantwortungsbereich der Justiz haben, aber auf einer insgesamt akzeptablen Arbeitsorganisation beruhen, sind nicht rechtstaatswidrig.

These 4: Eine rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerung lässt sich nicht allein mit zeitlichen Umständen begründen. Es müssen vielmehr fallbezogen die jeweiligen Umstände und deren Ursachen berücksichtigt werden.

These 5: Bei der Einzelfallbetrachtung sind Umfang, Schwierigkeitsgrad und das Verhalten der Beteiligten in den Blick zu nehmen.

These 6: Die Vollstreckungslösung ist der früher praktizierten Strafzumessungslösung überlegen.

These 7: Die Verzögerungsrüge mit der Möglichkeit einer Entschädigung steht neben der Vollstreckungslösung. Es lässt sich noch nicht absehen, ob es sich dabei ausschließlich um ein Alternativverhältnis handelt.

These 8: Die Verfahrensdauer in Wirtschaftsstrafsachen findet ihre wesentliche Ursache in der Komplexität der Materie und ist nicht prinzipiell einer Gruppe von Verfahrensbeteiligten anzulasten. Das gilt auch in Bezug auf die Wehrhaftigkeit der Angeklagten.

These 9: Es besteht ein Missverhältnis zwischen den der Komplexität geschuldeten Anforderungen an die Justiz und deren Ausstattung.

These 10: Die durchaus wünschenswerte Vereinfachung der Rechtslage darf nicht dazu führen, dass an insgesamt unvermeidliche Verstöße strafrechtliche Folgen geknüpft werden, auch wenn jeder einzelne auf einer für sich gesehen vermeidbaren Sorgfaltswidrigkeit beruht.

These 11: Zwischen praktikablen Möglichkeiten der Berechnung des Nachteils bei der Untreue auch in komplexen Sachverhalten und dem Bedürfnis nach alternativen (nicht notwendig: straf-)rechtlichen Lösungen besteht ein inhaltlicher Zusammenhang.

These 12: Es sollte auf Gesetzesebene geprüft werden, ob

in Wirtschaftsstrafsachen nur Schöffen mit besonderer Sachkunde eingesetzt werden (nach den Vorbildern der Kammer für Handelssachen und dem Arbeitsgerichtsgesetz), und

der Einsatz von Richtern und Staatsanwälten auf dem Gebiet der Wirtschaftsstrafsachen besser dotiert werden sollte.

These 13: Auf der Basis des derzeitigen Rechtszustands ist über eine Reduzierung der Komplexität in jedem Verfahren (in Anlehnung an den Rechtsgedanken der §§ 154, 154a StPO) zu entscheiden. Das gilt für jedes Verfahrensstadium.

These 14: (Justiz-)Organisatorisch sollte geprüft werden,

  • ob und wie der wirtschaftliche Sachverstand innerhalb der Justiz vermehrt werden muss und kann,
  • wie sichergestellt werden kann, dass Staatsanwälte und Richter mit besonderen Kenntnissen des Wirtschaftslebens möglichst lange und intensiv ihre Fähigkeiten anwenden können und nicht (ohne adäquaten Ersatz) anderweit verwendet werden,
  • auf welche Weise das justizielle Verfahrensmanagement verbessert werden kann,
  • ob eine Entlastung der erkennenden Richter durch Assistenten sachgerecht wäre,
  • ob und wie die Verteidigung frühzeitiger als bisher und zwar auch schon im Ermittlungsverfahren einbezogen werden kann, und
  • ob die Konzentration der Wirtschaftsstrafsachen auf einen Senat des BGH wünschenswert wäre

Autorinnen und Autoren

  • Folker Bittmann
    Nach dem ersten Staatsexamen 1980 in Heidelberg und dem zweiten 1985 in Stuttgart war LOStA a.d. Rechtsanwalt Folker Bittmann zunächst kurze Zeit Rechtsanwalt in Heidelberg. 1986 wechselte er zur Staatsanwaltschaft Darmstadt, 1987 zur Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und übernahm dort nach gut einem halben Jahr ein insolvenzrechtliches Dezernat und 1992 zusätzlich die Koordination der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, bevor ihm 1993 die Leitung der Wirtschafts- und Korruptionsabteilungen der Staatsanwaltschaft Halle übertragen wurde. Seit 2005 leitete er die Staatsanwaltschaft Dessau, seit 2007 Dessau-Roßlau. Seit Sommer 2018 ist er Rechtsanwalt bei verte|rechtsanwälte.

WiJ

  • Dr. Elias Schönborn , Jan Uwe Thiel

    Gesetzliche Regelungen zur Handy-Sicherstellung sind verfassungswidrig (Österreich)

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Tino Haupt

    Der Zugriff auf Fahrzeugdaten aus strafprozessualer Perspektive

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Florian Neuber

    Verteidigung ohne Grenzen?

    Internationales Strafrecht