Länderbericht Schweiz: Aktuelles Wirtschaftsstrafrecht
I. Einleitung
Seit dem letzten Länderbericht zum schweizerischen Wirtschaftsstrafrecht[1] erging eine Vielzahl der höchstrichterlichen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Strafprozessrecht, welches am 1. Januar 2011 in einer eidgenössischen StPO vereinheitlicht wurde. Aufgrund ihres noch jungen Alters sind hier noch immer viele Fragen ungeklärt bzw. in Praxis und Lehre bereits umstritten, so dass dementsprechend oft die Gerichte bemüht und Grundsatzentscheide gefällt werden müssen. Gleichwohl gibt es auch in Hinblick auf das materielle Wirtschaftsstrafrecht Neues. Dies insbesondere, wie zwei der nachfolgend aufgeführten Entscheide zeigen, im Bereich der Urkundendelikte (Art. 251 StGB). Aber auch zur Gewerbsmässigkeit des Betruges (Art. 146 Abs. 2 StGB) erging ein richtungsweisendes Urteil des Bundesgerichts. Von erheblicher Bedeutung ist zudem ein Entscheid des Bundesstrafgerichts, welcher sich zumindest mittelbar mit dem Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht bzw. deren in verschiedenen Gesetzen geregelten Verfahrensrechts (StPO einerseits, VStrR andererseits) auseinandersetzt. Für den wirtschaftsstrafrechtlich Interessierten ist dies deswegen von Bedeutung, weil das Verwaltungsstrafrecht wichtige Teilrechtsgebiete wie etwa das Mehrwertsteuerstrafrecht, das Zollstrafrecht und das Kartellstrafrecht umfasst und daher von grosser praktischer Relevanz ist. Die gesetzgeberischen Vorhaben folgen den aus den Medien bekannten Ereignissen: Im Nachgang zu den Fifa-Skandalen rückt die Privatbestechung in den Fokus, welche in Art. 4a UWG bisher eher ein Schattendasein führte. Das sog. Whistleblowing – derzeit durch hohe Belohnungen für die Tippgeber in den USA in aller Munde[2] – soll als Rechtfertigungsgrund anerkannt werden.[3] Zudem soll die Geldwäschereibekämpfung (noch) weiter verstärkt werden[4] und die Verjährungsfristen für „schwere Vergehen“ auf zehn Jahre verlängert werden. Diesmal kein Thema ist dagegen das mittlerweile gescheiterte deutsch-schweizerische Steuerabkommen.[5] Die Reaktionen in Deutschland und der Schweiz – zunächst Hoffnung auf den Vermittlungsausschuss, dann Verweigerung eines neuen Abkommens – dürften bekannt sein.
II. Neue wirtschaftsstrafrechtliche Gesetzgebungsvorhaben
1. Privatbestechung soll Offizialdelikt werden
Die Bestechung von Privatpersonen, derzeit noch geregelt in den Art. 4a und 23 des Bundesgesetzes über den unlauteren Wettbewerb (UWG), soll zum Offizialdelikt werden.[6] Angeregt wurde dies durch die Initiative „Fifa. Bestechung von Privatpersonen als Offizialdelikt“, welche wiederum, der Name legt es nahe, durch die Vorgänge beim Fussballweltverband Fifa motiviert war. Das Delikt soll künftig zudem nicht mehr im UWG geregelt werden, sondern den Bestechungsdelikten des Neunzehnten Titels des StGB beigefügt werden. In diesem Fall wären dann auch Bestechungshandlungen innerhalb solcher Organisationen wie der Fifa strafbar. Diese unterfallen heute nicht dem UWG. Die Rechtskommissionen von National- und Ständerat haben der Initiative Folge gegeben, so dass nun eine konkrete Vorlage ausgearbeitet werden wird. Dabei wird aber besonders umsichtig und detailliert geprüft werden müssen, welche Auswirkungen eine solche Änderung auf das Bestechungsrecht der Schweiz hat.[7]
2. Geldwäschereibekämpfung: Stärkung der Meldestelle für Geldwäscherei (MROS)
In der Schweiz werden Meldungen nach dem Geldwäschereigesetz (GwG) bei der MROS eingereicht. Die MROS, welche dem Bundesamt für Polizei (fedpol) angegliedert ist, hat die Aufgabe, Verdachtsmeldung bezüglich Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung sowie betreffend solcher Gelder, welche aus einer kriminellen Organisation stammen, entgegenzunehmen, zu analysieren und ggf. an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. Da diese Verdachtsmeldungen von den dem Geldwäschereigesetz unterworfenen Personen (sog. Finanzintermediären, welchen das GwG im Verdachtsfall Meldepflichten auferlegt, vgl. Art. 2 GwG[8]) stammen, kommt der MROS eine Filterfunktion zwischen diesen und den Strafverfolgungsbehörden zu. Die Stellung der MROS soll nun weiter gestärkt werden. Am 27. Juni 2012 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft zuhanden des Parlaments, nach welcher die MROS zukünftig mit ihren Partnerstellen im Ausland Finanzinformationen austauschen kann. Ausserdem soll sie mit diesen ausländischen Partnern selbstständig Verträge über die technische Zusammenarbeit abschliessen können. Zudem, und das ist ebenfalls von großer Bedeutung, sollen ihre Kompetenzen gegenüber den Finanzintermediären ausgebaut werden.[9]
3. Whistleblowing als Rechtfertigungsgrund
Angesichts der weltweiten Entwicklungen und wohl auch aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichts vom 12. Dezember 2011,[10] erging nun ein Vorstoss von Nationalrat Filippo Leutenegger. In diesem fordert er, dass Whistleblowing als zur Wahrung höherstehender Interessen anerkannt und deswegen als Rechtfertigungsgrund anerkannt wird. Die Rechtskommissionen von National- und Ständerat haben diesen Vorstoss bisher noch nicht behandelt. Jositsch schätzt eine Anerkennung durch diese Institutionen aber eher skeptisch ein, obwohl das Bundesgericht Whistleblowing im vorgängig genannten Entscheid durchaus als aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund anerkannt hat. Er führt diesbezüglich aus: „Man kann (…) feststellen, dass bisher beim Schutz von Whistleblowern im Parlament wenig erreicht werden konnte. Ein diesbezüglicher Vorstoss von Alt-Nationalrat Remo Gysin, der den Schutz im Arbeitsrecht anstrebt, stösst aufgrund der finanziellen Auswirkungen in der Umsetzung auf erheblichen Widerstand seitens der Wirtschaft, weshalb interessant sein wird, inwiefern der Vorstoss von Nationalrat Leutenegger, der sich auf das Strafrecht konzentriert, eine Chance haben wird.“[11]
4. Verlängerung der Verjährungsfristen
Nachdem von Seiten des Parlaments mittels Motion vorgebracht wurde, dass die Verjährungsvorschriften für Wirtschaftsdelikte – etwa die ungetreue Geschäftsbesorgung nach Art. 158 StGB – mit sieben Jahren zu kurz bemessen sind und ausgeweitet werden sollten[12], will der Bundesrat die Verjährungsfrist für die Verfolgung von schweren Vergehen nun auf zehn Jahre erhöhen. Er hat dazu am 7. November 2012 eine dementsprechende Botschaft zuhanden des Parlaments verabschiedet.[13] In der Vernehmlassung wurde das Vorhaben mehrheitlich begrüßt.[14] „Schwere Vergehen“ in diesem Sinne sind alle Vergehenstatbestände, welche eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsehen. Damit sind nunmehr nicht mehr nur „Wirtschaftsdelikte“, sondern eine Vielzahl der Tatbestände des Besonderen Teils des schweizerischen Strafgesetzbuches von der Verjährungsverlängerung betroffen.
III. Neues aus der wirtschaftsstrafrechtlichen Rechtsprechung
1. Entscheid des Bundesgerichts vom 24. Mai 2012[15] (Urkundenfälschung durch Ausstellung inhaltlich unwahrer Rechnungen)
a) Sachverhalt
Zwischen 1998 und 1999 stellten die Beschuldigten, nach Absprache mit dem Geschäftsführer einer Aktiengesellschaft, demselben falsche Rechnungen für diverse Lieferungen und Arbeitsleistungen aus, die in Wahrheit zugunsten der privaten Liegenschaft des Geschäftsführers erfolgten.
Die Rechnungen wurden zu Unrecht an die Aktiengesellschaft adressiert und waren inhaltlich unwahr. Der Geschäftsführer erfasste die in Rechnung gestellten Beträge in der Buchhaltung seiner Aktiengesellschaft als erfolgswirksame Aufwände. Dabei legte er den Verbuchungen die inhaltlich unwahren Rechnungen als Belege zugrunde. Erstinstanzlich wurden die Beschuldigten wegen jeweils einfacher oder mehrfacher Urkundenfälschung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB verurteilt. Demgegenüber sprach das Obergericht des Kantons Solothurn die Beschuldigten wieder frei. Dagegen führte die Staatsanwaltschaft Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
b) Urteil
Zunächst fasst das Bundesgericht die bisherige Rechtsprechung zur Urkundenqualität gemäss Art. 110 Abs. 4 StGB zusammen. Es bestätigt die Vorinstanz darin, dass Rechnungen nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Regel nicht als Urkunden zu verstehen sind. Denn Rechnungen, ihrem Wesen nach blosse Behauptungen und nicht beweismässige Feststellungen, seien grundsätzlich nicht zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet. Ausnahmsweise können aber auch Rechnungen Urkundenqualität aufweisen, nämlich wenn sie als Buchhaltungsbelege Eingang in eine kaufmännische Buchhaltung finden. Dies deshalb, weil ihnen aufgrund dieses speziellen Verwendungszwecks eine erhöhte Wahrheitsgarantie zukomme. Ist ein Schriftstück bereits bei der Erstellung objektiv und subjektiv dazu bestimmt, Bestandteil einer kaufmännischen Buchführung zu werden, kommt ihm nach bisheriger Rechtsprechung nicht erst mit der Verbuchung der darin enthaltenen Angaben, sondern schon mit der Erstellung Urkundencharakter zu.
Das Bundesgericht hält in seinem Entscheid vom 24. Mai 2012 an dieser verschiedentlich kritisierten Rechtsprechung fest. Dies bedeutet, dass auch weiterhin Dritte in die Pflicht genommen werden können, die im Einvernehmen mit einer buchführungspflichtigen Rechnungsempfängerin inhaltlich unwahre Rechnungen anfertigen, mit welchen deren Buchhaltung verfälscht werden soll. Steht ein solches Zusammenwirken des Rechnungsausstellers mit dem Rechnungsempfänger fest, sei die inhaltlich unwahre Rechnung aufgrund ihrer Zweckbestimmung als Buchhaltungsbeleg bereits mit ihrer Erstellung und nicht erst mit der Verbuchung eine gefälschte Urkunde. Täter und nicht bloss Gehilfe, im Sinne einer Urkundenfälschung, könne daher auch ein Rechnungsaussteller sein, welcher nicht selber für die Buchhaltung verantwortlich ist. Gestützt auf diese Erwägungen kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Erstellung der inhaltlich unwahren Rechnungen und deren Verwendung als Buchhaltungsbelege den objektiven Tatbestand der Urkundenfälschung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB erfüllt.
c) Bemerkungen
Urkunden im strafrechtlichen Sinne sind menschliche Gedankenerklärungen, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt sind und einen Aussteller erkennen lassen. Dies folgt aus der – inhaltlich unvollständigen – Legaldefinition des Art. 110 Abs. 4 Satz 1 StGB. Massgebend für die Beweiseignung ist nicht die Beweiskraft, also nicht die Glaubhaftigkeit im konkreten Einzelfall, sondern die generelle Beweistauglichkeit, d.h. die generelle Eignung überhaupt Beweis zu erbringen. Daraus folgt, dass der Urkundencharakter eines Schriftstücks relativ ist. So belegt eine Rechnung zwar, dass ihr Aussteller vom Adressat der Rechnung, den im Rechnungsbeleg genannten Betrag zur Zahlung einfordert, nicht aber, dass die verlangte Zahlung den Leistungen des Rechnungsstellers entspricht, also berechtigt ist.[16] Demzufolge stellte auch schon nach früherer Praxis, die von jemandem ausgestellte unzutreffende Rechnung keine Falschbeurkundung dar. Anders verhält es sich zu Recht, wenn die Rechnung zum Bestandteil einer Buchhaltung wird oder ihre Richtigkeit aus einem anderen Grund als durch objektive Garantien der Wahrheit als gewährleistet erscheint.[17]
2. Entscheid des Bundesgerichts vom 22. Oktober 2012[18] (Urkundenfälschung durch E-Mails ist möglich, selbst wenn sie weder eine elektronische Signatur aufweisen noch ausgedruckt wurden)
a) Sachverhalt
Der Beschuldigte hat zwischen 1998 und 2008 auf deliktische Weise Darlehen in der Höhe von insgesamt rund CHF 6,3 Mio. erlangt. Dabei spiegelte er den Geschädigten vor, eine Restforderung aus einem Vertragsverhältnis zwischen der nationalen nigerianischen Ölgesellschaft und einem schottischen Konglomerat erworben zu haben. Der Beschuldigte gab jeweils an, den Vertrag und damit auch die offene Restforderung von USD 21,5 Mio. für GBP 50’000 von einer englischen Gesellschaft abgekauft zu haben und zur Durchsetzung der Forderung, Geld für die Bezahlung von Anwälten, Treuhändern, Bankgebühren und Spesen etc. benötigt zu haben. Um diese Aussagen glaubhaft darzustellen, hatte der Beschwerdeführer mehrfach an ihn gerichtete E-Mails von Drittpersonen inhaltlich abgeändert und diese an die verschiedenen Geschädigten weitergeleitet.
Am 5. Februar 2010 wurde der Beschuldigte vom Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft des gewerbsmässigen Betruges, der Veruntreuung sowie der mehrfachen Urkundenfälschung für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft sprach den Beschuldigten mit Urteil vom 21. Juni 2011 des gewerbsmässigen Betruges, der Veruntreuung, der mehrfachen Urkundenfälschung sowie der Zechprellerei schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 4½ Jahren. Dagegen führte dieser Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
b) Urteil
Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass E-Mails ohne elektronische Unterschrift nicht als Urkunden gemäss Art. 110 Abs. 4 StGB verstanden werden können. Die Vorinstanz hatte dazu festgestellt, dass E-Mails grundsätzlich Beweisurkunden darstellen, wobei es nicht darauf ankommen könne, ob sie mit einer elektronischen Signatur versehen sind oder nicht. Demgegenüber war die erste Instanz noch zum Schluss gelangt, dass eine E-Mail, welche nicht mit einer elektronischen Signatur versehen und damit beliebig veränderbar sei, die Voraussetzungen für eine Urkunde im Sinne von Art. 110 Abs. 4 StGB nicht erfülle. In Bezug auf die in der Anklageschrift genannten E-Mails erachtete sie daher den Tatbestand der Urkundenfälschung, Art. 251 Ziff. 1 StGB, als nicht erfüllt.
Gemäss den Ausführungen des Bundesgerichts steht ausser Frage, dass E-Mails Urkunden darstellen, sofern der Aussteller erkennbar ist und sie beim Empfänger ausgedruckt oder anders sichtbar gemacht werden. Den Ausführungen der Vorinstanz folgend, stellt das Bundesgericht sodann fest, dass auch einer noch nicht ausgedruckten E-Mail grundsätzlich der Charakter einer (Computer-)Urkunde zukommen kann. Die Abänderung einer E-Mail könne daher ohne weiteres den Tatbestand der Urkundenfälschung erfüllen, soweit es nach der Manipulation weiterversendet werde und seinen Adressaten auch erreiche. Die Erkennbarkeit des Ausstellers der Urkunde ergebe sich dabei in der Regel aus der Absenderadresse oder aus dem jeweiligen Inhalt des E-Mails selbst. Dieses werde dem Empfänger auf seinem passwortgeschützten E-Mail-Account zugestellt und automatisch auf diesem gespeichert. Dadurch seien die Beständigkeit und die Beweisfunktion der Erklärung auch bei einem E-Mail gegeben. Denn gemäss dem Bundesgericht müssen (Computer-)Urkunden nur das Merkmal der Beweiseignung aufweisen, was nicht mit Beweiskraft oder Beweisdienlichkeit verwechselt werden dürfe. Darüber hinaus würden sich die Beweiseignung und -bestimmung eines E-Mails auch schon aus dem Umstand ergeben, dass E-Mails im regulären Geschäftsverkehr weit verbreitet sind. Das Bundesgericht wies die Beschwerde deswegen ab, soweit es auf sie eingetreten war.
c) Bemerkungen
Gemäss der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts kam einem E-Mail sicher Urkundenqualität zu, wenn es ausgedruckt wurde.[19] Nach diesem neuen Bundesgerichtsentscheid sind die genügende Beständigkeit und Beweisfunktion einer E-Mail nun aber schon gegeben, wenn das E-Mail an einen passwortgeschützten E-Mail-Account geschickt wird. Damit kommt praktisch allen E-Mails automatisch Urkundenqualität zu und jede Veränderung eines E-Mails, welches anschliessend weiterverschickt wird, kann die Voraussetzungen einer Urkundenfälschung oder Falschbeurkundung gemäss Art 251 StGB erfüllen.
Problematisch ist ganz grundsätzlich allerdings, dass der Gesetzgeber sich bei der gesetzlichen Erfassung der sogenannten Computerurkunde vom „Vorbild“ der Schrifturkunde hat leiten lassen und die Computerurkunde gem. Art. 110 Abs. 4 Satz 2 StGB der Schriftform gleichgestellt hat, sofern sie demselben Zweck dient. Damit verlangt der Gesetzgeber, dass die bekannten Urkundenmerkmale auch auf die Computerurkunde angewendet bzw. übertragen werden. Folglich bedarf auch die Computerurkunde, genauso wie die Schrifturkunde, einer gewissen Beständigkeit im Sinne der Verkörperungs- bzw. Perpetuierungsfunktion. Dies ist, abgesehen von den weiteren Urkundenmerkmalen, bei elektronischen Aufzeichnungen sicher das problematischste Merkmal und bereitet besondere Schwierigkeiten. Hinreichende Beständigkeit wird man wohl nur bei sogenannten Permanentspeichern annehmen dürfen, wie es z.B. bei der Festplatte eines Computers und externen Speichermedien wie CD-ROMs der Fall ist. Gelangt die elektronische Erklärung hingegen nur auf einen Arbeitsspeicher oder temporären Zwischenspeicher, genügt dies wohl nach wie vor nicht für die Bejahung einer hinreichenden Beständigkeit.[20] Urkundenqualität ist dann nicht gegeben. Insofern kommt es bei elektronisch gespeicherten Gedankenerklärungen (immer noch) sehr auf den Einzelfall an, ob die Urkundenqualität angenommen werden kann.
Zudem ist zu bedenken, dass sich das Bundesgericht bei seinen Ausführungen zur Urkundenqualität von elektrisch gespeicherten Dokumenten ausschliesslich auf den gängigen E-Mailverkehr bezogen hat. Welche Bedeutung dieses Urteil allenfalls für andere digitale Kommunikationsformen wie Chat, Twitter, Facebook, allenfalls sogar SMS haben wird, bleibt vorerst offen. Die Argumentation des Bundesgerichtes, dass Beständigkeit und Beweisfunktion einer Erklärung nun schon durch Abspeicherung auf einem passwortgeschützten Account oder durch den Umstand der weiten Verbreitung im regulären Geschäftsverkehr gegeben sein können, lässt sich jedenfalls grundsätzlich ohne weiteres auch auf andere digitale Kommunikationsformen als den E-Mailverkehr übertragen.
3. Entscheid des Bundesgerichts vom 24. August 2012[21] (Systemloses Vorgehen als gewerbsmässiger Betrug)
a) Sachverhalt
Der Beschuldigte erwarb im Jahre 2004 die Aktienmäntel von zwei Aktiengesellschaften, welche er anschliessend umfirmierte. Das statutarisch festgelegte Grundkapital der Gesellschaften betrug CHF 120’000.– bzw. CHF 100’000.–. Die Gesellschaften verfügten jedoch weder jemals über Eigenmittel noch über Bankguthaben. Der Beschuldigte verkaufte den Geschädigten/Investoren in unterschiedlichem Umfang Aktien der beiden Gesellschaften. Ausserdem zahlte der Beschwerdeführer ihm gewährte Darlehen anstatt durch Geld durch die Übergabe von Aktien der genannten Gesellschaften zurück. Die Vorinstanz hielt fest, dass der Beschuldigte bei der Investorensuche jeweils system- und strategielos vorging. Er habe aber gewusst, dass seine Angaben beim Verkauf der Aktien nicht der Wahrheit entsprachen und nahm eine Täuschung und Schädigung der Anleger zumindest in Kauf.
Das Obergericht des Kantons Zug sprach den Beschuldigten am 8. März 2012 zweitinstanzlich des gewerbsmässigen Betrugs schuldig. Dagegen führte der Beschuldigte Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
b) Urteil
Nebst einer allgemeinen Willkürrüge machte der Beschwerdeführer insbesondere geltend, dass sein Handeln das Qualifikationsmerkmal der Gewerbsmässigkeit gemäss Art. 146 Abs. 2 StGB nicht erfüllt habe. Er argumentierte, dass sein von der Vorinstanz festgestelltes system- und strategieloses Vorgehen bei der Investorensuche der Gewerbsmässigkeit des Betrugs entgegenstehe. Der Vorinstanz folgend lehnt das Bundesgericht die Beschwerde der fehlenden Gewerbsmässigkeit ab. Es hält fest, dass Gewerbsmässigkeit im Sinne von Art. 146 Abs. 2 StGB grundsätzlich gegeben ist, wenn die deliktische Tätigkeit nach der Art eines Berufes ausgeübt wird. Dies sei abhängig von der investierten Zeit, den aufgewendeten Mitteln, von der Häufigkeit der Einzelakte sowie von der Höhe und Regelmässigkeit der angestrebten Einnahmen. Aus dem vom Beschwerdeführer betriebenen Aufwand, dem jeweils gleichlautenden Lügengebäude und den erzielten Einkünften ergebe sich, dass der Betrug des Beschuldigten nach der Art eines Berufes ausgeübt worden sei. Weiter stellt das Bundesgericht fest, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer die Geschädigten Investoren system- bzw. strukturlos oder sogar zufällig und planlos anging, eine Subsumtion unter Art. 146 Abs. 2 StGB nicht ausschliesse. Folgerichtig wies das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit es auf sie eingetreten war.
c) Bemerkungen
Das Bundesgericht hat entschieden, dass eine deliktische Tätigkeit nach der Art eines Berufes auch plan- und strukturlos ausgeübt werden kann.
Dem ist zu folgen. In der älteren Lehre ist zwar verschiedentlich versucht worden, den Begriff der Gewerbsmässigkeit auf „planmässig organisiertes gewinnstrebiges Vorgehen“ zu beschränken[22] und auch in der Praxis waren Schritte in Richtung einer restriktiveren Auslegung dieses Qualifikationsmerkmals festzustellen.[23] Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung geht zur Einengung des Merkmals der Gewerbsmässigkeit allerdings, wie auch der hier besprochene Entscheid zeigt, für die Umschreibung des Begriffs Gewerbsmässigkeit vom Terminus des berufsmässigen Handelns aus. Nicht auf das planmässige oder strukturierte Vorgehen kommt es demnach an, sondern darauf, dass der Täter sich auf derart regelmässige Einnahmen aus seiner deliktischen Tätigkeit verlässt, dass ein Ausstieg aus der Delinquenz kaum noch möglich ist. Dies ist sachlich richtig, denn über das Qualifikationsmerkmal der Gewerbsmässigkeit soll gerade derjenige Täter höher bestraft werden, der eine besondere soziale Gefährlichkeit offenbart, weil er vor dem Hintergrund seiner Lebensumstände und der zu ihrer Finanzierung benötigten Einkünfte geradezu auf das weitere Begehen von Straftaten angewiesen ist.[24]
4. Beschluss des Bundesstrafgerichts vom 11. Juli 2012[25] (keine analoge Anwendung von Art. 248 Abs. 2 StPO auf das Verwaltungsstrafverfahrensrecht)
a) Sachverhalt
Das Sekretariat der Wettbewerbskommission (nachfolgend: Weko) eröffnete eine Untersuchung nach dem Kartellgesetz (KG) gegen die A-SA. Der Untersuchung lag der Verdacht von Gebietsabsprachen und damit eines Verstosses gegen Art. 5 KG zugrunde. Im Rahmen dieser Untersuchung führte die Weko bei der A-SA eine Hausdurchsuchung durch und stellte dabei verschiedene Unterlagen und Datenträger sicher. Die A-SA verlangte anlässlich der Hausdurchsuchung die Versiegelung eines Datenträgers, weil sich darauf Korrespondenz zwischen ihr und ihrem Anwalt befinde.
Mit Gesuch vom 5. April 2012 – also fast vier Monate nach der Versiegelung – beantragte die Weko bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts die Entsiegelung. Die A-SA wandte neben anderen Gründen gegen eine Entsiegelung ein, dass das Entsiegelungsgesuch mit Blick auf Art. 248 Abs. 2 StPO, der zur Einreichung des Entsiegelungsgesuchs eine Frist von 20 Tagen vorsieht, verspätet sei. Die Weko stellte sich hingegen auf den Standpunkt, dass das VStrR zwar keine Frist vorsehe, die vorgenannte Vorschrift der StPO aber auch nicht analog herangezogen werden könne und daher das Gesuch rechtzeitig eingereicht worden sei.
b) Urteil
Das Bundesstrafgericht folgt dem Verweis der A-SA auf Art. 248 Abs. 2 StPO nicht. Dies mit der Begründung, dass Art. 1 Abs. 2 StPO vorsehe, dass die Verfahrensvorschriften anderer Bundesgesetze (gegenüber den Bestimmungen der StPO) vorbehalten bleiben. Zu den Verfahrensgesetzen, die nicht von der StPO verdrängt werden, sondern anwendbar blieben, gehöre das VStrR. Das VStrR sei vom Gesetzgeber bei der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts bzw. beim Erlass der StPO bewusst ausgeklammert worden. Das Bundesstrafgericht gelangt deswegen zu dem Schluss: „Im Bereich des Verwaltungsstrafrechts des Bundes sind daher nur jene Regeln der StPO zur Anwendung zu bringen, auf welche das VStrR explizit verweist.“
Da das Verwaltungsstrafgesetz die Siegelung zwar in Art. 50 VStrR regele, anders als die StPO aber keine spezielle Entsiegelungsfrist vorsehe und auch nicht ausdrücklich auf jene der StPO verweise, hiess die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts das Entsiegelungsgesuch der WeKo folgerichtig gut.
c) Bemerkungen
Der prozessrechtliche Entscheid des Bundesstrafgerichts hat für das Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht bzw. für deren jeweilige Verfahrensrechte weitreichende Bedeutung. Er vermag nicht zu überzeugen.
In Lehre und Praxis ist – im Gegensatz zum deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht[26] – nahezu unstreitig, dass das Verwaltungsstrafrecht echtes Strafrecht darstellt und dabei begrifflich dem Nebenstrafrecht zuzuordnen ist.[27] Aufgrund dieser Wesensgleichheit ist jede Ausdehnung des Ahndungsbereichs des Verwaltungsstrafrechts gegenüber dem Strafrecht wertungswidersprüchlich. Das gilt nicht nur für das materielle Recht, sondern muss auch für das Verfahrensrecht gelten. Denn Letzteres dient der Durchsetzung von Ersterem. Es kann nicht angehen, dass der einer Straftat nach Art. 146 StGB (Betrug) beschuldigten Person grösserer prozessualer Schutz zusteht, als derjenigen, welcher ein verwaltungsstrafrechtlicher Vorwurf nach Art. 14 VStrR (Leistungs- und Abgabebetrug) gemacht wird. Denn beiden drohen empfindliche Freiheitsstrafen.
Aber nicht nur systematische Gründe sprechen für eine solche Ansicht. Das Verwaltungsstrafverfahren ist auf eine besonders schnelle Durchführung der Untersuchung ausgelegt. Das zeigt sich etwa an den sehr kurzen Beschwerdefristen (3 Tage). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verständlich, dass die Untersuchungsbehörde nahezu unbeschränkt zuwarten können soll, bevor sie ihr Entsiegelungsgesuch stellt. Das kann nicht nur das Verfahren auf unbestimmte Dauer verlängern, sondern erschwert auch eine effektive Verteidigung des Beschuldigten.[28]
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass der hier besprochene Entscheid eine frühere Empfehlung des Bundesstrafgerichts konterkariert. So führte das Gericht am 14. Januar 2010 noch aus: „Der Gesuchstellerin [in jenem Fall ebenfalls die Weko; Anm. der Verfasser] wird jedoch empfohlen, sich bei weiteren Entsiegelungsgesuchen an der künftigen Frist von 20 Tagen zu orientieren.“[29]
[:en]
I. Einleitung
Seit dem letzten Länderbericht zum schweizerischen Wirtschaftsstrafrecht[1] erging eine Vielzahl der höchstrichterlichen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Strafprozessrecht, welches am 1. Januar 2011 in einer eidgenössischen StPO vereinheitlicht wurde. Aufgrund ihres noch jungen Alters sind hier noch immer viele Fragen ungeklärt bzw. in Praxis und Lehre bereits umstritten, so dass dementsprechend oft die Gerichte bemüht und Grundsatzentscheide gefällt werden müssen. Gleichwohl gibt es auch in Hinblick auf das materielle Wirtschaftsstrafrecht Neues. Dies insbesondere, wie zwei der nachfolgend aufgeführten Entscheide zeigen, im Bereich der Urkundendelikte (Art. 251 StGB). Aber auch zur Gewerbsmässigkeit des Betruges (Art. 146 Abs. 2 StGB) erging ein richtungsweisendes Urteil des Bundesgerichts. Von erheblicher Bedeutung ist zudem ein Entscheid des Bundesstrafgerichts, welcher sich zumindest mittelbar mit dem Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht bzw. deren in verschiedenen Gesetzen geregelten Verfahrensrechts (StPO einerseits, VStrR andererseits) auseinandersetzt. Für den wirtschaftsstrafrechtlich Interessierten ist dies deswegen von Bedeutung, weil das Verwaltungsstrafrecht wichtige Teilrechtsgebiete wie etwa das Mehrwertsteuerstrafrecht, das Zollstrafrecht und das Kartellstrafrecht umfasst und daher von grosser praktischer Relevanz ist. Die gesetzgeberischen Vorhaben folgen den aus den Medien bekannten Ereignissen: Im Nachgang zu den Fifa-Skandalen rückt die Privatbestechung in den Fokus, welche in Art. 4a UWG bisher eher ein Schattendasein führte. Das sog. Whistleblowing – derzeit durch hohe Belohnungen für die Tippgeber in den USA in aller Munde[2] – soll als Rechtfertigungsgrund anerkannt werden.[3] Zudem soll die Geldwäschereibekämpfung (noch) weiter verstärkt werden[4] und die Verjährungsfristen für „schwere Vergehen“ auf zehn Jahre verlängert werden. Diesmal kein Thema ist dagegen das mittlerweile gescheiterte deutsch-schweizerische Steuerabkommen.[5] Die Reaktionen in Deutschland und der Schweiz – zunächst Hoffnung auf den Vermittlungsausschuss, dann Verweigerung eines neuen Abkommens – dürften bekannt sein.
II. Neue wirtschaftsstrafrechtliche Gesetzgebungsvorhaben
1. Privatbestechung soll Offizialdelikt werden
Die Bestechung von Privatpersonen, derzeit noch geregelt in den Art. 4a und 23 des Bundesgesetzes über den unlauteren Wettbewerb (UWG), soll zum Offizialdelikt werden.[6] Angeregt wurde dies durch die Initiative „Fifa. Bestechung von Privatpersonen als Offizialdelikt“, welche wiederum, der Name legt es nahe, durch die Vorgänge beim Fussballweltverband Fifa motiviert war. Das Delikt soll künftig zudem nicht mehr im UWG geregelt werden, sondern den Bestechungsdelikten des Neunzehnten Titels des StGB beigefügt werden. In diesem Fall wären dann auch Bestechungshandlungen innerhalb solcher Organisationen wie der Fifa strafbar. Diese unterfallen heute nicht dem UWG. Die Rechtskommissionen von National- und Ständerat haben der Initiative Folge gegeben, so dass nun eine konkrete Vorlage ausgearbeitet werden wird. Dabei wird aber besonders umsichtig und detailliert geprüft werden müssen, welche Auswirkungen eine solche Änderung auf das Bestechungsrecht der Schweiz hat.[7]
2. Geldwäschereibekämpfung: Stärkung der Meldestelle für Geldwäscherei (MROS)
In der Schweiz werden Meldungen nach dem Geldwäschereigesetz (GwG) bei der MROS eingereicht. Die MROS, welche dem Bundesamt für Polizei (fedpol) angegliedert ist, hat die Aufgabe, Verdachtsmeldung bezüglich Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung sowie betreffend solcher Gelder, welche aus einer kriminellen Organisation stammen, entgegenzunehmen, zu analysieren und ggf. an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. Da diese Verdachtsmeldungen von den dem Geldwäschereigesetz unterworfenen Personen (sog. Finanzintermediären, welchen das GwG im Verdachtsfall Meldepflichten auferlegt, vgl. Art. 2 GwG[8]) stammen, kommt der MROS eine Filterfunktion zwischen diesen und den Strafverfolgungsbehörden zu. Die Stellung der MROS soll nun weiter gestärkt werden. Am 27. Juni 2012 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft zuhanden des Parlaments, nach welcher die MROS zukünftig mit ihren Partnerstellen im Ausland Finanzinformationen austauschen kann. Ausserdem soll sie mit diesen ausländischen Partnern selbstständig Verträge über die technische Zusammenarbeit abschliessen können. Zudem, und das ist ebenfalls von großer Bedeutung, sollen ihre Kompetenzen gegenüber den Finanzintermediären ausgebaut werden.[9]
3. Whistleblowing als Rechtfertigungsgrund
Angesichts der weltweiten Entwicklungen und wohl auch aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichts vom 12. Dezember 2011,[10] erging nun ein Vorstoss von Nationalrat Filippo Leutenegger. In diesem fordert er, dass Whistleblowing als zur Wahrung höherstehender Interessen anerkannt und deswegen als Rechtfertigungsgrund anerkannt wird. Die Rechtskommissionen von National- und Ständerat haben diesen Vorstoss bisher noch nicht behandelt. Jositsch schätzt eine Anerkennung durch diese Institutionen aber eher skeptisch ein, obwohl das Bundesgericht Whistleblowing im vorgängig genannten Entscheid durchaus als aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund anerkannt hat. Er führt diesbezüglich aus: „Man kann (…) feststellen, dass bisher beim Schutz von Whistleblowern im Parlament wenig erreicht werden konnte. Ein diesbezüglicher Vorstoss von Alt-Nationalrat Remo Gysin, der den Schutz im Arbeitsrecht anstrebt, stösst aufgrund der finanziellen Auswirkungen in der Umsetzung auf erheblichen Widerstand seitens der Wirtschaft, weshalb interessant sein wird, inwiefern der Vorstoss von Nationalrat Leutenegger, der sich auf das Strafrecht konzentriert, eine Chance haben wird.“[11]
4. Verlängerung der Verjährungsfristen
Nachdem von Seiten des Parlaments mittels Motion vorgebracht wurde, dass die Verjährungsvorschriften für Wirtschaftsdelikte – etwa die ungetreue Geschäftsbesorgung nach Art. 158 StGB – mit sieben Jahren zu kurz bemessen sind und ausgeweitet werden sollten[12], will der Bundesrat die Verjährungsfrist für die Verfolgung von schweren Vergehen nun auf zehn Jahre erhöhen. Er hat dazu am 7. November 2012 eine dementsprechende Botschaft zuhanden des Parlaments verabschiedet.[13] In der Vernehmlassung wurde das Vorhaben mehrheitlich begrüßt.[14] „Schwere Vergehen“ in diesem Sinne sind alle Vergehenstatbestände, welche eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsehen. Damit sind nunmehr nicht mehr nur „Wirtschaftsdelikte“, sondern eine Vielzahl der Tatbestände des Besonderen Teils des schweizerischen Strafgesetzbuches von der Verjährungsverlängerung betroffen.
III. Neues aus der wirtschaftsstrafrechtlichen Rechtsprechung
1. Entscheid des Bundesgerichts vom 24. Mai 2012[15] (Urkundenfälschung durch Ausstellung inhaltlich unwahrer Rechnungen)
a) Sachverhalt
Zwischen 1998 und 1999 stellten die Beschuldigten, nach Absprache mit dem Geschäftsführer einer Aktiengesellschaft, demselben falsche Rechnungen für diverse Lieferungen und Arbeitsleistungen aus, die in Wahrheit zugunsten der privaten Liegenschaft des Geschäftsführers erfolgten.
Die Rechnungen wurden zu Unrecht an die Aktiengesellschaft adressiert und waren inhaltlich unwahr. Der Geschäftsführer erfasste die in Rechnung gestellten Beträge in der Buchhaltung seiner Aktiengesellschaft als erfolgswirksame Aufwände. Dabei legte er den Verbuchungen die inhaltlich unwahren Rechnungen als Belege zugrunde. Erstinstanzlich wurden die Beschuldigten wegen jeweils einfacher oder mehrfacher Urkundenfälschung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB verurteilt. Demgegenüber sprach das Obergericht des Kantons Solothurn die Beschuldigten wieder frei. Dagegen führte die Staatsanwaltschaft Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
b) Urteil
Zunächst fasst das Bundesgericht die bisherige Rechtsprechung zur Urkundenqualität gemäss Art. 110 Abs. 4 StGB zusammen. Es bestätigt die Vorinstanz darin, dass Rechnungen nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Regel nicht als Urkunden zu verstehen sind. Denn Rechnungen, ihrem Wesen nach blosse Behauptungen und nicht beweismässige Feststellungen, seien grundsätzlich nicht zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet. Ausnahmsweise können aber auch Rechnungen Urkundenqualität aufweisen, nämlich wenn sie als Buchhaltungsbelege Eingang in eine kaufmännische Buchhaltung finden. Dies deshalb, weil ihnen aufgrund dieses speziellen Verwendungszwecks eine erhöhte Wahrheitsgarantie zukomme. Ist ein Schriftstück bereits bei der Erstellung objektiv und subjektiv dazu bestimmt, Bestandteil einer kaufmännischen Buchführung zu werden, kommt ihm nach bisheriger Rechtsprechung nicht erst mit der Verbuchung der darin enthaltenen Angaben, sondern schon mit der Erstellung Urkundencharakter zu.
Das Bundesgericht hält in seinem Entscheid vom 24. Mai 2012 an dieser verschiedentlich kritisierten Rechtsprechung fest. Dies bedeutet, dass auch weiterhin Dritte in die Pflicht genommen werden können, die im Einvernehmen mit einer buchführungspflichtigen Rechnungsempfängerin inhaltlich unwahre Rechnungen anfertigen, mit welchen deren Buchhaltung verfälscht werden soll. Steht ein solches Zusammenwirken des Rechnungsausstellers mit dem Rechnungsempfänger fest, sei die inhaltlich unwahre Rechnung aufgrund ihrer Zweckbestimmung als Buchhaltungsbeleg bereits mit ihrer Erstellung und nicht erst mit der Verbuchung eine gefälschte Urkunde. Täter und nicht bloss Gehilfe, im Sinne einer Urkundenfälschung, könne daher auch ein Rechnungsaussteller sein, welcher nicht selber für die Buchhaltung verantwortlich ist. Gestützt auf diese Erwägungen kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Erstellung der inhaltlich unwahren Rechnungen und deren Verwendung als Buchhaltungsbelege den objektiven Tatbestand der Urkundenfälschung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB erfüllt.
c) Bemerkungen
Urkunden im strafrechtlichen Sinne sind menschliche Gedankenerklärungen, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt sind und einen Aussteller erkennen lassen. Dies folgt aus der – inhaltlich unvollständigen – Legaldefinition des Art. 110 Abs. 4 Satz 1 StGB. Massgebend für die Beweiseignung ist nicht die Beweiskraft, also nicht die Glaubhaftigkeit im konkreten Einzelfall, sondern die generelle Beweistauglichkeit, d.h. die generelle Eignung überhaupt Beweis zu erbringen. Daraus folgt, dass der Urkundencharakter eines Schriftstücks relativ ist. So belegt eine Rechnung zwar, dass ihr Aussteller vom Adressat der Rechnung, den im Rechnungsbeleg genannten Betrag zur Zahlung einfordert, nicht aber, dass die verlangte Zahlung den Leistungen des Rechnungsstellers entspricht, also berechtigt ist.[16] Demzufolge stellte auch schon nach früherer Praxis, die von jemandem ausgestellte unzutreffende Rechnung keine Falschbeurkundung dar. Anders verhält es sich zu Recht, wenn die Rechnung zum Bestandteil einer Buchhaltung wird oder ihre Richtigkeit aus einem anderen Grund als durch objektive Garantien der Wahrheit als gewährleistet erscheint.[17]
2. Entscheid des Bundesgerichts vom 22. Oktober 2012[18] (Urkundenfälschung durch E-Mails ist möglich, selbst wenn sie weder eine elektronische Signatur aufweisen noch ausgedruckt wurden)
a) Sachverhalt
Der Beschuldigte hat zwischen 1998 und 2008 auf deliktische Weise Darlehen in der Höhe von insgesamt rund CHF 6,3 Mio. erlangt. Dabei spiegelte er den Geschädigten vor, eine Restforderung aus einem Vertragsverhältnis zwischen der nationalen nigerianischen Ölgesellschaft und einem schottischen Konglomerat erworben zu haben. Der Beschuldigte gab jeweils an, den Vertrag und damit auch die offene Restforderung von USD 21,5 Mio. für GBP 50’000 von einer englischen Gesellschaft abgekauft zu haben und zur Durchsetzung der Forderung, Geld für die Bezahlung von Anwälten, Treuhändern, Bankgebühren und Spesen etc. benötigt zu haben. Um diese Aussagen glaubhaft darzustellen, hatte der Beschwerdeführer mehrfach an ihn gerichtete E-Mails von Drittpersonen inhaltlich abgeändert und diese an die verschiedenen Geschädigten weitergeleitet.
Am 5. Februar 2010 wurde der Beschuldigte vom Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft des gewerbsmässigen Betruges, der Veruntreuung sowie der mehrfachen Urkundenfälschung für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft sprach den Beschuldigten mit Urteil vom 21. Juni 2011 des gewerbsmässigen Betruges, der Veruntreuung, der mehrfachen Urkundenfälschung sowie der Zechprellerei schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 4½ Jahren. Dagegen führte dieser Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
b) Urteil
Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass E-Mails ohne elektronische Unterschrift nicht als Urkunden gemäss Art. 110 Abs. 4 StGB verstanden werden können. Die Vorinstanz hatte dazu festgestellt, dass E-Mails grundsätzlich Beweisurkunden darstellen, wobei es nicht darauf ankommen könne, ob sie mit einer elektronischen Signatur versehen sind oder nicht. Demgegenüber war die erste Instanz noch zum Schluss gelangt, dass eine E-Mail, welche nicht mit einer elektronischen Signatur versehen und damit beliebig veränderbar sei, die Voraussetzungen für eine Urkunde im Sinne von Art. 110 Abs. 4 StGB nicht erfülle. In Bezug auf die in der Anklageschrift genannten E-Mails erachtete sie daher den Tatbestand der Urkundenfälschung, Art. 251 Ziff. 1 StGB, als nicht erfüllt.
Gemäss den Ausführungen des Bundesgerichts steht ausser Frage, dass E-Mails Urkunden darstellen, sofern der Aussteller erkennbar ist und sie beim Empfänger ausgedruckt oder anders sichtbar gemacht werden. Den Ausführungen der Vorinstanz folgend, stellt das Bundesgericht sodann fest, dass auch einer noch nicht ausgedruckten E-Mail grundsätzlich der Charakter einer (Computer-)Urkunde zukommen kann. Die Abänderung einer E-Mail könne daher ohne weiteres den Tatbestand der Urkundenfälschung erfüllen, soweit es nach der Manipulation weiterversendet werde und seinen Adressaten auch erreiche. Die Erkennbarkeit des Ausstellers der Urkunde ergebe sich dabei in der Regel aus der Absenderadresse oder aus dem jeweiligen Inhalt des E-Mails selbst. Dieses werde dem Empfänger auf seinem passwortgeschützten E-Mail-Account zugestellt und automatisch auf diesem gespeichert. Dadurch seien die Beständigkeit und die Beweisfunktion der Erklärung auch bei einem E-Mail gegeben. Denn gemäss dem Bundesgericht müssen (Computer-)Urkunden nur das Merkmal der Beweiseignung aufweisen, was nicht mit Beweiskraft oder Beweisdienlichkeit verwechselt werden dürfe. Darüber hinaus würden sich die Beweiseignung und -bestimmung eines E-Mails auch schon aus dem Umstand ergeben, dass E-Mails im regulären Geschäftsverkehr weit verbreitet sind. Das Bundesgericht wies die Beschwerde deswegen ab, soweit es auf sie eingetreten war.
c) Bemerkungen
Gemäss der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts kam einem E-Mail sicher Urkundenqualität zu, wenn es ausgedruckt wurde.[19] Nach diesem neuen Bundesgerichtsentscheid sind die genügende Beständigkeit und Beweisfunktion einer E-Mail nun aber schon gegeben, wenn das E-Mail an einen passwortgeschützten E-Mail-Account geschickt wird. Damit kommt praktisch allen E-Mails automatisch Urkundenqualität zu und jede Veränderung eines E-Mails, welches anschliessend weiterverschickt wird, kann die Voraussetzungen einer Urkundenfälschung oder Falschbeurkundung gemäss Art 251 StGB erfüllen.
Problematisch ist ganz grundsätzlich allerdings, dass der Gesetzgeber sich bei der gesetzlichen Erfassung der sogenannten Computerurkunde vom „Vorbild“ der Schrifturkunde hat leiten lassen und die Computerurkunde gem. Art. 110 Abs. 4 Satz 2 StGB der Schriftform gleichgestellt hat, sofern sie demselben Zweck dient. Damit verlangt der Gesetzgeber, dass die bekannten Urkundenmerkmale auch auf die Computerurkunde angewendet bzw. übertragen werden. Folglich bedarf auch die Computerurkunde, genauso wie die Schrifturkunde, einer gewissen Beständigkeit im Sinne der Verkörperungs- bzw. Perpetuierungsfunktion. Dies ist, abgesehen von den weiteren Urkundenmerkmalen, bei elektronischen Aufzeichnungen sicher das problematischste Merkmal und bereitet besondere Schwierigkeiten. Hinreichende Beständigkeit wird man wohl nur bei sogenannten Permanentspeichern annehmen dürfen, wie es z.B. bei der Festplatte eines Computers und externen Speichermedien wie CD-ROMs der Fall ist. Gelangt die elektronische Erklärung hingegen nur auf einen Arbeitsspeicher oder temporären Zwischenspeicher, genügt dies wohl nach wie vor nicht für die Bejahung einer hinreichenden Beständigkeit.[20] Urkundenqualität ist dann nicht gegeben. Insofern kommt es bei elektronisch gespeicherten Gedankenerklärungen (immer noch) sehr auf den Einzelfall an, ob die Urkundenqualität angenommen werden kann.
Zudem ist zu bedenken, dass sich das Bundesgericht bei seinen Ausführungen zur Urkundenqualität von elektrisch gespeicherten Dokumenten ausschliesslich auf den gängigen E-Mailverkehr bezogen hat. Welche Bedeutung dieses Urteil allenfalls für andere digitale Kommunikationsformen wie Chat, Twitter, Facebook, allenfalls sogar SMS haben wird, bleibt vorerst offen. Die Argumentation des Bundesgerichtes, dass Beständigkeit und Beweisfunktion einer Erklärung nun schon durch Abspeicherung auf einem passwortgeschützten Account oder durch den Umstand der weiten Verbreitung im regulären Geschäftsverkehr gegeben sein können, lässt sich jedenfalls grundsätzlich ohne weiteres auch auf andere digitale Kommunikationsformen als den E-Mailverkehr übertragen.
3. Entscheid des Bundesgerichts vom 24. August 2012[21] (Systemloses Vorgehen als gewerbsmässiger Betrug)
a) Sachverhalt
Der Beschuldigte erwarb im Jahre 2004 die Aktienmäntel von zwei Aktiengesellschaften, welche er anschliessend umfirmierte. Das statutarisch festgelegte Grundkapital der Gesellschaften betrug CHF 120’000.– bzw. CHF 100’000.–. Die Gesellschaften verfügten jedoch weder jemals über Eigenmittel noch über Bankguthaben. Der Beschuldigte verkaufte den Geschädigten/Investoren in unterschiedlichem Umfang Aktien der beiden Gesellschaften. Ausserdem zahlte der Beschwerdeführer ihm gewährte Darlehen anstatt durch Geld durch die Übergabe von Aktien der genannten Gesellschaften zurück. Die Vorinstanz hielt fest, dass der Beschuldigte bei der Investorensuche jeweils system- und strategielos vorging. Er habe aber gewusst, dass seine Angaben beim Verkauf der Aktien nicht der Wahrheit entsprachen und nahm eine Täuschung und Schädigung der Anleger zumindest in Kauf.
Das Obergericht des Kantons Zug sprach den Beschuldigten am 8. März 2012 zweitinstanzlich des gewerbsmässigen Betrugs schuldig. Dagegen führte der Beschuldigte Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
b) Urteil
Nebst einer allgemeinen Willkürrüge machte der Beschwerdeführer insbesondere geltend, dass sein Handeln das Qualifikationsmerkmal der Gewerbsmässigkeit gemäss Art. 146 Abs. 2 StGB nicht erfüllt habe. Er argumentierte, dass sein von der Vorinstanz festgestelltes system- und strategieloses Vorgehen bei der Investorensuche der Gewerbsmässigkeit des Betrugs entgegenstehe. Der Vorinstanz folgend lehnt das Bundesgericht die Beschwerde der fehlenden Gewerbsmässigkeit ab. Es hält fest, dass Gewerbsmässigkeit im Sinne von Art. 146 Abs. 2 StGB grundsätzlich gegeben ist, wenn die deliktische Tätigkeit nach der Art eines Berufes ausgeübt wird. Dies sei abhängig von der investierten Zeit, den aufgewendeten Mitteln, von der Häufigkeit der Einzelakte sowie von der Höhe und Regelmässigkeit der angestrebten Einnahmen. Aus dem vom Beschwerdeführer betriebenen Aufwand, dem jeweils gleichlautenden Lügengebäude und den erzielten Einkünften ergebe sich, dass der Betrug des Beschuldigten nach der Art eines Berufes ausgeübt worden sei. Weiter stellt das Bundesgericht fest, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer die Geschädigten Investoren system- bzw. strukturlos oder sogar zufällig und planlos anging, eine Subsumtion unter Art. 146 Abs. 2 StGB nicht ausschliesse. Folgerichtig wies das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit es auf sie eingetreten war.
c) Bemerkungen
Das Bundesgericht hat entschieden, dass eine deliktische Tätigkeit nach der Art eines Berufes auch plan- und strukturlos ausgeübt werden kann.
Dem ist zu folgen. In der älteren Lehre ist zwar verschiedentlich versucht worden, den Begriff der Gewerbsmässigkeit auf „planmässig organisiertes gewinnstrebiges Vorgehen“ zu beschränken[22] und auch in der Praxis waren Schritte in Richtung einer restriktiveren Auslegung dieses Qualifikationsmerkmals festzustellen.[23] Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung geht zur Einengung des Merkmals der Gewerbsmässigkeit allerdings, wie auch der hier besprochene Entscheid zeigt, für die Umschreibung des Begriffs Gewerbsmässigkeit vom Terminus des berufsmässigen Handelns aus. Nicht auf das planmässige oder strukturierte Vorgehen kommt es demnach an, sondern darauf, dass der Täter sich auf derart regelmässige Einnahmen aus seiner deliktischen Tätigkeit verlässt, dass ein Ausstieg aus der Delinquenz kaum noch möglich ist. Dies ist sachlich richtig, denn über das Qualifikationsmerkmal der Gewerbsmässigkeit soll gerade derjenige Täter höher bestraft werden, der eine besondere soziale Gefährlichkeit offenbart, weil er vor dem Hintergrund seiner Lebensumstände und der zu ihrer Finanzierung benötigten Einkünfte geradezu auf das weitere Begehen von Straftaten angewiesen ist.[24]
4. Beschluss des Bundesstrafgerichts vom 11. Juli 2012[25] (keine analoge Anwendung von Art. 248 Abs. 2 StPO auf das Verwaltungsstrafverfahrensrecht)
a) Sachverhalt
Das Sekretariat der Wettbewerbskommission (nachfolgend: Weko) eröffnete eine Untersuchung nach dem Kartellgesetz (KG) gegen die A-SA. Der Untersuchung lag der Verdacht von Gebietsabsprachen und damit eines Verstosses gegen Art. 5 KG zugrunde. Im Rahmen dieser Untersuchung führte die Weko bei der A-SA eine Hausdurchsuchung durch und stellte dabei verschiedene Unterlagen und Datenträger sicher. Die A-SA verlangte anlässlich der Hausdurchsuchung die Versiegelung eines Datenträgers, weil sich darauf Korrespondenz zwischen ihr und ihrem Anwalt befinde.
Mit Gesuch vom 5. April 2012 – also fast vier Monate nach der Versiegelung – beantragte die Weko bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts die Entsiegelung. Die A-SA wandte neben anderen Gründen gegen eine Entsiegelung ein, dass das Entsiegelungsgesuch mit Blick auf Art. 248 Abs. 2 StPO, der zur Einreichung des Entsiegelungsgesuchs eine Frist von 20 Tagen vorsieht, verspätet sei. Die Weko stellte sich hingegen auf den Standpunkt, dass das VStrR zwar keine Frist vorsehe, die vorgenannte Vorschrift der StPO aber auch nicht analog herangezogen werden könne und daher das Gesuch rechtzeitig eingereicht worden sei.
b) Urteil
Das Bundesstrafgericht folgt dem Verweis der A-SA auf Art. 248 Abs. 2 StPO nicht. Dies mit der Begründung, dass Art. 1 Abs. 2 StPO vorsehe, dass die Verfahrensvorschriften anderer Bundesgesetze (gegenüber den Bestimmungen der StPO) vorbehalten bleiben. Zu den Verfahrensgesetzen, die nicht von der StPO verdrängt werden, sondern anwendbar blieben, gehöre das VStrR. Das VStrR sei vom Gesetzgeber bei der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts bzw. beim Erlass der StPO bewusst ausgeklammert worden. Das Bundesstrafgericht gelangt deswegen zu dem Schluss: „Im Bereich des Verwaltungsstrafrechts des Bundes sind daher nur jene Regeln der StPO zur Anwendung zu bringen, auf welche das VStrR explizit verweist.“
Da das Verwaltungsstrafgesetz die Siegelung zwar in Art. 50 VStrR regele, anders als die StPO aber keine spezielle Entsiegelungsfrist vorsehe und auch nicht ausdrücklich auf jene der StPO verweise, hiess die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts das Entsiegelungsgesuch der WeKo folgerichtig gut.
c) Bemerkungen
Der prozessrechtliche Entscheid des Bundesstrafgerichts hat für das Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht bzw. für deren jeweilige Verfahrensrechte weitreichende Bedeutung. Er vermag nicht zu überzeugen.
In Lehre und Praxis ist – im Gegensatz zum deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht[26] – nahezu unstreitig, dass das Verwaltungsstrafrecht echtes Strafrecht darstellt und dabei begrifflich dem Nebenstrafrecht zuzuordnen ist.[27] Aufgrund dieser Wesensgleichheit ist jede Ausdehnung des Ahndungsbereichs des Verwaltungsstrafrechts gegenüber dem Strafrecht wertungswidersprüchlich. Das gilt nicht nur für das materielle Recht, sondern muss auch für das Verfahrensrecht gelten. Denn Letzteres dient der Durchsetzung von Ersterem. Es kann nicht angehen, dass der einer Straftat nach Art. 146 StGB (Betrug) beschuldigten Person grösserer prozessualer Schutz zusteht, als derjenigen, welcher ein verwaltungsstrafrechtlicher Vorwurf nach Art. 14 VStrR (Leistungs- und Abgabebetrug) gemacht wird. Denn beiden drohen empfindliche Freiheitsstrafen.
Aber nicht nur systematische Gründe sprechen für eine solche Ansicht. Das Verwaltungsstrafverfahren ist auf eine besonders schnelle Durchführung der Untersuchung ausgelegt. Das zeigt sich etwa an den sehr kurzen Beschwerdefristen (3 Tage). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verständlich, dass die Untersuchungsbehörde nahezu unbeschränkt zuwarten können soll, bevor sie ihr Entsiegelungsgesuch stellt. Das kann nicht nur das Verfahren auf unbestimmte Dauer verlängern, sondern erschwert auch eine effektive Verteidigung des Beschuldigten.[28]
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass der hier besprochene Entscheid eine frühere Empfehlung des Bundesstrafgerichts konterkariert. So führte das Gericht am 14. Januar 2010 noch aus: „Der Gesuchstellerin [in jenem Fall ebenfalls die Weko; Anm. der Verfasser] wird jedoch empfohlen, sich bei weiteren Entsiegelungsgesuchen an der künftigen Frist von 20 Tagen zu orientieren.“[29]
[1] Heiniger/Frank, Länderbericht Schweiz: Wirtschaftsstrafrecht, WiJ 2012, S. 203ff. (abrufbar unter: http://www.wi-j.de/index.php/de/wij/aktuelle-ausgabe/item/105-länderbericht-schweiz-aktuelles-wirtschaftsstrafrecht (zuletzt besucht am 23.12.2012).
[2] Vgl. etwa „Olympus zahlt Woodward Millionenabfindung“ in Spiegel-Online vom 8. Juni 2012, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/olympus-zahlt-michael-woodford-millionenabfindung-a-837749.html (zuletzt besucht am 23.12.2012).
[3] Vgl. Eicker, Zur prozeduralen Rechtfertigung von Whistleblowing in der Privatwirtschaft nach Schweizer (Straf-)Recht de lege ferenda,NK 2/2012, 68 ff.
[4] Einen Überblick über die Entwicklung der Geldwäschereibekämpfung in der Schweiz findet sich in Graber/Oberholzer, GwG, 3. Aufl., 2009, S. 1ff.
[5] Wehrenberg/Frank/Isenring/Götze, Länderbericht Schweiz: Aktuelles Wirtschaftsstrafrecht, WiJ 2012, S. 47, 52ff. (abrufbar unter: http://www.wi-j.de/index.php/de/wij/aktuelle-ausgabe/item/58-länderbericht-schweiz; zuletzt besucht am 23.12.2012) und Heiniger/Frank, a.a.O., S. 203, 204f.
[9] Botschaft zur Änderung des Geldwäschereigesetzes vom 27.6.2012, BBl 2012, 6941; abrufbar unter: http://www.admin.ch/ch/d/ff/2012/6941.pdf (zuletzt besucht am 23.12.2012) ; vgl. auch die Medienmitteilung des Schweizerischen Bundesrates vom selben Tage: Geldwäschereibekämpfung: Stärkung der Möglichkeiten der Meldestelle; abrufbar unter: http://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/dokumentation/mi/2012/2012-06-27.html (zuletzt besucht am 23.12.2012). Für weitere Informationen vgl. auch Hasler, ForumPoenale 2012, S. 129 und 320.
[11] Jositsch, Aktuelle Tendenzen in der strafrechtlichen und in der strafprozessrechtlichen Gesetzgebung, in: Jusletter 19. November 2012, Rz. 4.
[13] http://www.bj.admin.ch/bj/de/home/dokumentation/medieninformationen/2012/ref_2012-11-070.html (zuletztbesucht am 23.12.2012).
[15] Entscheid des Bundesgerichts BGE 138 IV 130 (6B_571/2011) vom 24. Mai 2012, abrufbar unter:
http://www.polyreg.ch/d/informationen/bgeunpubliziert/Jahr_2011/Entscheide_6B_2011/6B.571__2011.html(zuletzt besucht am 23.12. 2012).
[18] Entscheid des Bundesgerichts 6B_130/2012 vom 22. Oktober 2012, abrufbar unter: http://www.polyreg.ch/d/informationen/bgeunpubliziert/Jahr_2012/Entscheide_6B_2012/6B.130__2012.html (zuletzt besucht am 23.12.2012).
[20] Boog in: Niggli/Wiprächtiger, Basler Kommentar zum Strafrecht I, 2. Aufl., 2007, Art. 110 Abs. 4 N 75.
[21] Entscheid des Bundesgerichts 6B_263/2012 vom 24. August 2012, abrufbar unter:
http://www.polyreg.ch/d/informationen/bgeunpubliziert/Jahr_2012/Entscheide_6B_2012/6B.263__2012.html (zuletzt besucht am 23.12.2012).
[23] Vgl. Niggli/Riedo in: Wiprächtiger/Niggli, Basler Kommentar zum Strafrecht I, 2. Aufl., 2007, Art. 139 N 82 m.w.Hinw.
[24] Vgl. Niggli/Riedo in: Wiprächtiger/Niggli, Basler Kommentar zum Strafrecht I, 2. Aufl., 2007, Art. 139 N 88.
[25] Beschluss des Bundesstrafgerichts BE.2012.4 vom 11. Juli 2012, abrufbar unter:
http://entscheide.weblaw.ch/cache/f.php?url=links.weblaw.ch/BSTGER-11.07.2012_BE.2012.4 (zuletzt besucht am 23.12.2012). Vgl. hierzu auch die Anmerkung von Achermann, Zum Verhältnis Strafprozessrecht und Verwaltungsstrafverfahrensrecht, in: Digitaler Rechtsprechungs-Kommentar, Push-Service Entscheide, publiziert am 1. Oktober 2012.
[26] Zur umstrittenen Rechtsnatur des Ordnungswidrigkeitenrechts vgl. Bohnert in Senge, Karlsruher Kommentar zum OWiG, 3. Aufl., 2006, Einleitung, Rn. 109ff. Jüngst wird wieder vermehrt eine qualitative Unterscheidbarkeit angenommen, vgl. Klesczewski, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2010, Rz. 4ff.
[27] Vgl. Eicker/Frank/Achermann, Verwaltungsstrafrecht und Verwaltungsstrafverfahrensrecht (2011), S. 4 ff. m.w.Hinw. Erwähnenswert ist, dass das schweizerische Verwaltungsstrafrecht zwar dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht ähnlich ist, aber dennoch weit über dieses hinausgeht. So können im Verwaltungsstrafrecht etwa Freiheitsstrafen verhängt werden (bspw. nach Art. 14 VStrR und Art. 86 HMG).