Folker Bittmann

WisteV-Standards

Fortsetzung aus WiJ 2/2012, S. 142 – 148 (Themenblock 4: Bilanzstrafrecht)

In der WiJ werden aktuelle Thesen und Fragestellungen von Folker Bittmann, Dessau-Roßlauer Leitender Oberstaatsanwalt, in aufbereiteter und von ihm redaktionell verantworteter Form vorgestellt. Sie versuchen, den innerhalb von WisteV erzielten Diskussionsstand repräsentativ widerzuspiegeln, können aber nicht durchweg Ergebnis eines vereinsweiten Diskussionsprozesses sein. Sie stellen schon deshalb nie unverrückbare Endpunkte dar.

Vielmehr sind die Leser, ob WisteV-Mitglieder oder nicht, aufgerufen, sich am steten Prozess der Aktualisierung und Weiterentwicklung zu beteiligen und sich unter Angabe ihres Berufes zu einzelnen, bereits benannten oder auch zusätzlichen Aspekten zu positionieren. Im besten Falle findet so eine permanente Qualifizierung statt, die allen Interessierten eine verlässliche Orientierung bietet.

Anregungen, Kritik oder Widerspruch können gerichtet werden an: standards@wi-j.de„>standards@wi-j.de.

WisteV ist ein Zusammenschluss verschiedener am Wirtschaftsstrafrecht beteiligter Berufsgruppen. Das bietet den Vorteil, Themen aus unterschiedlicher Sicht betrachten zu können. Auch damit wird es allerdings nicht gelingen, in jeglicher Hinsicht Konsens herzustellen. Bereits das Anstreben eines solchen Zieles wäre von vorn herein, weil völlig unrealistisch, zum Scheitern verurteilt. Aber mehr Klarheit zu schaffen, hinsichtlich des Trennenden wie des Gemeinsamen, erscheint als wünschenswert, sinnvoll und vor allem erreichbar. Ungewissheiten mögen zwar den professionell am Wirtschaftsstrafrecht Beteiligten aus unterschiedlichen bis gegensätzlichen Gründen durchaus zupass kommen, weil dabei die Chance argumentativer Beeinflussung des Ergebnisses größer ist als beim Bewegen auf gesichertem Terrain. Aber derjenige, der sich fragt, wie er auf rechtmäßige Weise ein (wirtschaftliches) Ziel erreichen kann, der hat keinerlei Interesse an Ungewissheiten. Er strebt nach einem ‚safe harbour‘. Dieses Interesse ist völlig legitim: In einer freiheitlichen Gesellschaft darf – prinzipiell, trotz des faktisch erforderlichen Freischwimmens in einem Meer – und Mehr! – aus Bürokratie – frei gehandelt und damit auch frei gewirtschaftet werden. Um von dieser Freiheit innerhalb des legalen Rahmens Gebrauch machen zu können, bedarf es der Rechtssicherheit. Diese wird in einer sich wandelnden Welt immer nur partiell erreicht werden können. Das stellt die Sinnhaftigkeit dieses Ziels allerdings nicht in Frage.

WisteV hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, für möglichst viele Themenfelder Standards dergestalt zu entwickeln, dass einerseits Konsentiertes und andererseits Kontroverses formuliert wird. Geeignete Ausgangspunkte sind WisteV-Veranstaltungen zu aktuellen Themen. Deshalb sind insbesondere diejenigen, die Regional- oder Facharbeitskreis-Veranstaltungen organisieren, aufgerufen, das Diskutierte in diesen beiden Kategorien möglichst tiefgehend zusammenzufassen. Es ist allerdings auch ohne weiteres denkbar, derartige Aufstellungen auch aus anderem Anlass zu formulieren.

Die vorliegende Ausgabe des WiJ enthält zwei Themenblöcke. Der Themenblock 4: Bilanzstrafrecht (WiJ 2012, 216 – 218), der auf dem Vortrag von Prof. Dr. Martin Paul Waßmer, Universität Köln, im Rahmen der WisteV-wistra-Neujahrstagung 2012 beruhte (graue Schrift), wurde ergänzt um die Ausführungen, die Friedrich Graf von Kanitz auf der WisteV-Neujahrestagung 2012 machte. Der Themenblock 9 enthält neue Thesen zum Insolvenzstrafrecht auf Grundlage der durch den Arbeitskreis Insolvenzstrafrecht organisierten Tagung am 1.10.2012 zum Thema Funktion und Zukunft der Überschuldung als Insolvenzgrund in den Räumlichkeiten des BGH in Leipzig (siehe Tagungsbericht nachfolgend).

1. 4. Themenblock: Bilanzstrafrecht

Thesen 1 – 7: so Heft 2/2012; aus Gründen des Sachzusammenhangs finden sich die Thesen 3 – 6 hier nochmals unverändert abgedruckt:

These 3: Das Strafrecht ist limitiert bilanzrechtsakzessorisch, so dass nur wenige Bilanzverstöße eine Strafbarkeit begründen können.

These 4: Erfasst sind nur solche Bilanzfälschungen, die sowohl evident, d.h. „schlechthin unvertretbar“, als auch wesentlich und so erheblich sind, dass sie das „Gesamtbild“ der Darstellung beeinträchtigen.

These 5: Eine absolute Wahrheit im bilanziellen Sinne („die richtige Bilanz“) existiert nicht. Die Bilanzwahrheit ist aufgrund der Komplexität und demzufolge der Mehrdeutigkeit vielerrechnungslegungsrelevanter Sachverhalte „relativ“.

These 6: Die bloße Nutzung von Ansatz-, Bewertungs- und Darstellungswahlrechten, bilanzpolitischen Ermessensspielräumen, zulässigen sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen und Auslegungsspielräumen macht die Bilanz nicht unrichtig.

Für die Unrichtigkeit einer Bilanz bedeutet das (im Anschluß an das Referat von Friedrich Graf von Kanitz auf der WisteV-Neujahrestagung 2012):

a) Ausgangspunkt ist das Einblicksgebot nach der Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB: Es besteht die Pflicht, mit der Bilanz ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln.

b) Die Einhaltung der Vorschriften des kodifizierten Bilanzrechts begründet die tatsächliche Vermutung hinreichender Beachtung des Einblicksgebots.

c) Die Unrichtigkeit ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn eine Bilanz aufgrund von oder in Anlehnung an § 256 AktG nichtig ist, weil sie

aa) gläubigerschützende Vorschriften verletzt (Beispiel: fehlender Anhang, § 264 Abs. 1 S. 1 HGB, soweit auch nach MicroBilG noch erforderlich), § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG,

bb) wesentliche Gliederungsverstöße aufweist, welche die Klarheit und Übersichtlichkeit (nennenswert) beeinträchtigen (Beispiel: Verstoß gegen das Saldierungsverbot, § 246 Abs. 2 HGB), § 256 Abs. 4 AktG, und/oder

cc) die Vermögens- und/oder Ertragslage durch Verstoß gegen die Bewertungsnormen der §§ 253 – 256 HGB verschleiert und dadurch der Einblick (vgl. These 6 a) wesentlich (quantitativ und/oder qualitativ) getrübt wird (Beispiele: ‚Luftbuchungen‘, fehlende oder überhöhte Rückstellungen (vgl. § 249 HGB), Aktivierung von Erhaltungsaufwendungen oder Passivierung von Investitionen als Aufwand, unterlassene Abschreibungen oder Wertberichtigungen, Phasenverschiebung).

d) Gestaltungsfreiheit besteht unter Einhaltung der Erläuterungspflichten des § 284 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 sowie 3 – 5 HGB bei

aa) Ansatzwahlrechten, vgl. § 246 Abs. 3 HGB (selbstgeschaffene immaterielle Vermögensgegenstände, § 248 Abs. 2 HGB; aktive latente Steuern, § 274 Abs. 1 S. 2 HGB; Disagio, § 250 Abs. 3 S. 1 HGB),

bb) Bewertungswahlrechten, vgl. § 252Abs. 1 Nr. 6 HGB (Abschreibungen, §§ 275 Abs. 2 Nr. 7, 253 Abs. 3 – 5 HGB): linear oder degressiv <mit Spielräumen bei der zugrundegelegten Nutzungsdauer>; außerplanmäßige Abschreibungen auf nur vorübergehend wertgeminderte Finanzanlagen, § 253 Abs. 3 S. 4 HGB; Berücksichtigung von Gemeinkosten bei den Herstellungskosten, § 255 Abs. 2 S. 3 HGB),

cc) Nutzung des Bewertungsvereinfachungsverfahrens, § 256 HGB, im Fall des § 256 S. 2 HGB i.V.m. § 240 Abs. 3 oder 4 HGB,

dd) Darstellungswahlrechten (manche Pflichtinformationen dürfen in den Anhang Eingang finden anstatt in die Bilanz oder die Gewinn- und Verlustrechnung; Bilanzposten dürfen tiefer untergliedert, neue hinzugefügt werden), und

ee) Sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen (Factoring, Forfaitierung, Securitization, Veräußerung nicht betriebsnotwendigen Vermögens, Sale-and-lease-back, Sale-and-buy-back, Einsatz von Zweckgesellschaften, § 290 Abs. 2 Nr. 4 HGB, sowie Vorfakturierungen).

2. 9.Themenblock: Insolvenzstrafrecht

Konsens:

These 1: Wirtschaften hat auf eigene Rechnung zu geschehen.

These 2: In der Krise häufig auftretenden Impulsen, auf Kosten und zu Lasten Dritter (weiter) zu wirtschaften, ist mit rechtlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten.

These 3: Angesichts des ultima-ratio-Charakters des Strafrechts hat dies vorrangig auf zivilrechtlichen Wegen zu geschehen.

These 4: Es bedarf einerseits einer Rechtslage, die es dem redlichen Schuldner auch in der Krise in praktikabler Weise ermöglicht, sich rechtmäßig zu verhalten.

These 5: Es bedarf andererseits wirksam und zügig zu handhabender Instrumente, um unrechtmäßiges Verhalten des krisenbehafteten Schuldners oder eines seiner Repräsentanten korrigieren zu können.

These 6: Die im Interesse Dritter erfolgte Sanierung entbindet die Handelnden nicht vor der Haftung für ihr vorausgehendes persönliches Fehlverhalten.

These 7: Die zivilrechtlichen Mittel bedürfen der Ergänzung durch strafrechtliche.

These 8: Beide Regelungssysteme sind inhaltlich so aufeinander abzustimmen, dass Wertungswidersprüche vermieden werden.

These 9: Deshalb scheidet einerseits eine Bestrafung von Verhalten aus, hinsichtlich dessen eine natürlichen Person als Schuldner oder Repräsentant einen vom Zivilrecht eröffneten Weg zurück in die Rechtmäßigkeit erfolgreich beschritten hat.

These 10: Andererseits ist jedoch eine strafrechtliche Privilegierung ohne vorgelagertes zivilrechtliches Pendant zu vermeiden.

These 11: Die Tatbestände des geltenden Insolvenzstrafrechts bedürfen mangels nicht durchweg ausreichend spezifischer Wirkkraft (zumindest) der Nachjustierung.

These 12: Es bedarf der Prüfung, ob es in der Krisensituation wirtschaftlich sinnvolle Verhaltensweisen gibt, die nach geltendem (Zivil- und/oder Straf-) Recht sachwidrig verboten sind.

These 13: Dabei sind Erkenntnisse der Betriebswirtschaft verstärkt zu berücksichtigen.

These 14: Der Überschuldungstatbestand ist weder bei modifiziertem noch bei nicht modifiziertem Begriffsverständnis in der Lage, ausreichend handlungsleitend für die in den betroffenen Unternehmen Verantwortlichen zu wirken.

Kontrovers:

Frage 1: Kommt strafrechtliche Haftung nur nachrangig in Betracht, also bei Versagen der zivilrechtlichen Instrumente?

Frage 2: Oder ist eine Kombination aus zivil- und strafrechtlicher Haftung, wie sie derzeit gilt, prinzipiell sachgerecht?

Frage 3: Wie könnte strafrechtliche Nachrangigkeit ausgestaltet werden?

Frage 4: Ist strafrechtlich ein insolvenzrechtsakzessorisches Begriffsverständnis sachgerecht, wenn ja, in welchem Umfang, wenn nein, welche Abweichungen sind sinnvoll?

Frage 5: Sind insolvenzrechtliche Fahrlässigkeitstatbestände entbehrlich?

Frage 6: Sind die geltenden insolvenzstrafrechtlichen Tatbestände sachgerecht gestaltet, wenn ja, welche, wenn nein, welche nicht, welche könnten entfallen oder sollten verändert werden, ggf. welche weiteren Verhaltensweisen sollten zivil- und/oder strafrechtlich sanktioniert werden?

Frage 7: Ist ein auf (im Gegensatz zu den normativen Tatbestandsmerkmalen Überschuldung, drohender wie eingetretener Zahlungsunfähigkeit) sinnlich fassbares Verhalten beschränktes Insolvenzstrafrecht anzustreben, wenn ja, an welches Verhalten könnte es anknüpfen?

Frage 8: Soll eine insolvenz(straf)rechtliche Selbstanzeige in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 371 AO eingeführt werden, wenn ja, in welcher Gestalt?

Frage 9: Kann die Überschuldung als zwingender Insolvenzauslösetatbestand ganz entfallen oder ist sie als, wenn auch erst nachträglich wirkendes, aber absicherndes Kontrollinstrument auch strafrechtlich sinnvoll oder geboten?

Frage 10: Wenn auf Überschuldung als zwingender Insolvenzauslösetatbestand verzichtet werden sollte, soll es sich um einen ersatzlosen Verzicht handeln, wenn nein, was soll an die Stelle der Überschuldung treten?

Frage 11: Genügt ein anderes Verständnis, eine andere Definition der Überschuldung (zivilrechtlich, strafrechtlich)?[:en]

Fortsetzung aus WiJ 2/2012, S. 142 – 148 (Themenblock 4: Bilanzstrafrecht)

In der WiJ werden aktuelle Thesen und Fragestellungen von Folker Bittmann, Dessau-Roßlauer Leitender Oberstaatsanwalt, in aufbereiteter und von ihm redaktionell verantworteter Form vorgestellt. Sie versuchen, den innerhalb von WisteV erzielten Diskussionsstand repräsentativ widerzuspiegeln, können aber nicht durchweg Ergebnis eines vereinsweiten Diskussionsprozesses sein. Sie stellen schon deshalb nie unverrückbare Endpunkte dar.

Vielmehr sind die Leser, ob WisteV-Mitglieder oder nicht, aufgerufen, sich am steten Prozess der Aktualisierung und Weiterentwicklung zu beteiligen und sich unter Angabe ihres Berufes zu einzelnen, bereits benannten oder auch zusätzlichen Aspekten zu positionieren. Im besten Falle findet so eine permanente Qualifizierung statt, die allen Interessierten eine verlässliche Orientierung bietet.

Anregungen, Kritik oder Widerspruch können gerichtet werden an: standards@wi-j.de„>standards@wi-j.de.

WisteV ist ein Zusammenschluss verschiedener am Wirtschaftsstrafrecht beteiligter Berufsgruppen. Das bietet den Vorteil, Themen aus unterschiedlicher Sicht betrachten zu können. Auch damit wird es allerdings nicht gelingen, in jeglicher Hinsicht Konsens herzustellen. Bereits das Anstreben eines solchen Zieles wäre von vorn herein, weil völlig unrealistisch, zum Scheitern verurteilt. Aber mehr Klarheit zu schaffen, hinsichtlich des Trennenden wie des Gemeinsamen, erscheint als wünschenswert, sinnvoll und vor allem erreichbar. Ungewissheiten mögen zwar den professionell am Wirtschaftsstrafrecht Beteiligten aus unterschiedlichen bis gegensätzlichen Gründen durchaus zupass kommen, weil dabei die Chance argumentativer Beeinflussung des Ergebnisses größer ist als beim Bewegen auf gesichertem Terrain. Aber derjenige, der sich fragt, wie er auf rechtmäßige Weise ein (wirtschaftliches) Ziel erreichen kann, der hat keinerlei Interesse an Ungewissheiten. Er strebt nach einem ‚safe harbour‘. Dieses Interesse ist völlig legitim: In einer freiheitlichen Gesellschaft darf – prinzipiell, trotz des faktisch erforderlichen Freischwimmens in einem Meer – und Mehr! – aus Bürokratie – frei gehandelt und damit auch frei gewirtschaftet werden. Um von dieser Freiheit innerhalb des legalen Rahmens Gebrauch machen zu können, bedarf es der Rechtssicherheit. Diese wird in einer sich wandelnden Welt immer nur partiell erreicht werden können. Das stellt die Sinnhaftigkeit dieses Ziels allerdings nicht in Frage.

WisteV hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, für möglichst viele Themenfelder Standards dergestalt zu entwickeln, dass einerseits Konsentiertes und andererseits Kontroverses formuliert wird. Geeignete Ausgangspunkte sind WisteV-Veranstaltungen zu aktuellen Themen. Deshalb sind insbesondere diejenigen, die Regional- oder Facharbeitskreis-Veranstaltungen organisieren, aufgerufen, das Diskutierte in diesen beiden Kategorien möglichst tiefgehend zusammenzufassen. Es ist allerdings auch ohne weiteres denkbar, derartige Aufstellungen auch aus anderem Anlass zu formulieren.

Die vorliegende Ausgabe des WiJ enthält zwei Themenblöcke. Der Themenblock 4: Bilanzstrafrecht (WiJ 2012, 216 – 218), der auf dem Vortrag von Prof. Dr. Martin Paul Waßmer, Universität Köln, im Rahmen der WisteV-wistra-Neujahrstagung 2012 beruhte (graue Schrift), wurde ergänzt um die Ausführungen, die Friedrich Graf von Kanitz auf der WisteV-Neujahrestagung 2012 machte. Der Themenblock 9 enthält neue Thesen zum Insolvenzstrafrecht auf Grundlage der durch den Arbeitskreis Insolvenzstrafrecht organisierten Tagung am 1.10.2012 zum Thema Funktion und Zukunft der Überschuldung als Insolvenzgrund in den Räumlichkeiten des BGH in Leipzig (siehe Tagungsbericht nachfolgend).

1. 4. Themenblock: Bilanzstrafrecht

Thesen 1 – 7: so Heft 2/2012; aus Gründen des Sachzusammenhangs finden sich die Thesen 3 – 6 hier nochmals unverändert abgedruckt:

These 3: Das Strafrecht ist limitiert bilanzrechtsakzessorisch, so dass nur wenige Bilanzverstöße eine Strafbarkeit begründen können.

These 4: Erfasst sind nur solche Bilanzfälschungen, die sowohl evident, d.h. „schlechthin unvertretbar“, als auch wesentlich und so erheblich sind, dass sie das „Gesamtbild“ der Darstellung beeinträchtigen.

These 5: Eine absolute Wahrheit im bilanziellen Sinne („die richtige Bilanz“) existiert nicht. Die Bilanzwahrheit ist aufgrund der Komplexität und demzufolge der Mehrdeutigkeit vielerrechnungslegungsrelevanter Sachverhalte „relativ“.

These 6: Die bloße Nutzung von Ansatz-, Bewertungs- und Darstellungswahlrechten, bilanzpolitischen Ermessensspielräumen, zulässigen sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen und Auslegungsspielräumen macht die Bilanz nicht unrichtig.

Für die Unrichtigkeit einer Bilanz bedeutet das (im Anschluß an das Referat von Friedrich Graf von Kanitz auf der WisteV-Neujahrestagung 2012):

a) Ausgangspunkt ist das Einblicksgebot nach der Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB: Es besteht die Pflicht, mit der Bilanz ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln.

b) Die Einhaltung der Vorschriften des kodifizierten Bilanzrechts begründet die tatsächliche Vermutung hinreichender Beachtung des Einblicksgebots.

c) Die Unrichtigkeit ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn eine Bilanz aufgrund von oder in Anlehnung an § 256 AktG nichtig ist, weil sie

aa) gläubigerschützende Vorschriften verletzt (Beispiel: fehlender Anhang, § 264 Abs. 1 S. 1 HGB, soweit auch nach MicroBilG noch erforderlich), § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG,

bb) wesentliche Gliederungsverstöße aufweist, welche die Klarheit und Übersichtlichkeit (nennenswert) beeinträchtigen (Beispiel: Verstoß gegen das Saldierungsverbot, § 246 Abs. 2 HGB), § 256 Abs. 4 AktG, und/oder

cc) die Vermögens- und/oder Ertragslage durch Verstoß gegen die Bewertungsnormen der §§ 253 – 256 HGB verschleiert und dadurch der Einblick (vgl. These 6 a) wesentlich (quantitativ und/oder qualitativ) getrübt wird (Beispiele: ‚Luftbuchungen‘, fehlende oder überhöhte Rückstellungen (vgl. § 249 HGB), Aktivierung von Erhaltungsaufwendungen oder Passivierung von Investitionen als Aufwand, unterlassene Abschreibungen oder Wertberichtigungen, Phasenverschiebung).

d) Gestaltungsfreiheit besteht unter Einhaltung der Erläuterungspflichten des § 284 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 sowie 3 – 5 HGB bei

aa) Ansatzwahlrechten, vgl. § 246 Abs. 3 HGB (selbstgeschaffene immaterielle Vermögensgegenstände, § 248 Abs. 2 HGB; aktive latente Steuern, § 274 Abs. 1 S. 2 HGB; Disagio, § 250 Abs. 3 S. 1 HGB),

bb) Bewertungswahlrechten, vgl. § 252Abs. 1 Nr. 6 HGB (Abschreibungen, §§ 275 Abs. 2 Nr. 7, 253 Abs. 3 – 5 HGB): linear oder degressiv <mit Spielräumen bei der zugrundegelegten Nutzungsdauer>; außerplanmäßige Abschreibungen auf nur vorübergehend wertgeminderte Finanzanlagen, § 253 Abs. 3 S. 4 HGB; Berücksichtigung von Gemeinkosten bei den Herstellungskosten, § 255 Abs. 2 S. 3 HGB),

cc) Nutzung des Bewertungsvereinfachungsverfahrens, § 256 HGB, im Fall des § 256 S. 2 HGB i.V.m. § 240 Abs. 3 oder 4 HGB,

dd) Darstellungswahlrechten (manche Pflichtinformationen dürfen in den Anhang Eingang finden anstatt in die Bilanz oder die Gewinn- und Verlustrechnung; Bilanzposten dürfen tiefer untergliedert, neue hinzugefügt werden), und

ee) Sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen (Factoring, Forfaitierung, Securitization, Veräußerung nicht betriebsnotwendigen Vermögens, Sale-and-lease-back, Sale-and-buy-back, Einsatz von Zweckgesellschaften, § 290 Abs. 2 Nr. 4 HGB, sowie Vorfakturierungen).

2. 9.Themenblock: Insolvenzstrafrecht

Konsens:

These 1: Wirtschaften hat auf eigene Rechnung zu geschehen.

These 2: In der Krise häufig auftretenden Impulsen, auf Kosten und zu Lasten Dritter (weiter) zu wirtschaften, ist mit rechtlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten.

These 3: Angesichts des ultima-ratio-Charakters des Strafrechts hat dies vorrangig auf zivilrechtlichen Wegen zu geschehen.

These 4: Es bedarf einerseits einer Rechtslage, die es dem redlichen Schuldner auch in der Krise in praktikabler Weise ermöglicht, sich rechtmäßig zu verhalten.

These 5: Es bedarf andererseits wirksam und zügig zu handhabender Instrumente, um unrechtmäßiges Verhalten des krisenbehafteten Schuldners oder eines seiner Repräsentanten korrigieren zu können.

These 6: Die im Interesse Dritter erfolgte Sanierung entbindet die Handelnden nicht vor der Haftung für ihr vorausgehendes persönliches Fehlverhalten.

These 7: Die zivilrechtlichen Mittel bedürfen der Ergänzung durch strafrechtliche.

These 8: Beide Regelungssysteme sind inhaltlich so aufeinander abzustimmen, dass Wertungswidersprüche vermieden werden.

These 9: Deshalb scheidet einerseits eine Bestrafung von Verhalten aus, hinsichtlich dessen eine natürlichen Person als Schuldner oder Repräsentant einen vom Zivilrecht eröffneten Weg zurück in die Rechtmäßigkeit erfolgreich beschritten hat.

These 10: Andererseits ist jedoch eine strafrechtliche Privilegierung ohne vorgelagertes zivilrechtliches Pendant zu vermeiden.

These 11: Die Tatbestände des geltenden Insolvenzstrafrechts bedürfen mangels nicht durchweg ausreichend spezifischer Wirkkraft (zumindest) der Nachjustierung.

These 12: Es bedarf der Prüfung, ob es in der Krisensituation wirtschaftlich sinnvolle Verhaltensweisen gibt, die nach geltendem (Zivil- und/oder Straf-) Recht sachwidrig verboten sind.  

These 13: Dabei sind Erkenntnisse der Betriebswirtschaft verstärkt zu berücksichtigen.

These 14: Der Überschuldungstatbestand ist weder bei modifiziertem noch bei nicht modifiziertem Begriffsverständnis in der Lage, ausreichend handlungsleitend für die in den betroffenen Unternehmen Verantwortlichen zu wirken.

Kontrovers:

Frage 1: Kommt strafrechtliche Haftung nur nachrangig in Betracht, also bei Versagen der zivilrechtlichen Instrumente?

Frage 2: Oder ist eine Kombination aus zivil- und strafrechtlicher Haftung, wie sie derzeit gilt, prinzipiell sachgerecht?

Frage 3: Wie könnte strafrechtliche Nachrangigkeit ausgestaltet werden?

Frage 4: Ist strafrechtlich ein insolvenzrechtsakzessorisches Begriffsverständnis sachgerecht, wenn ja, in welchem Umfang, wenn nein, welche Abweichungen sind sinnvoll?

Frage 5: Sind insolvenzrechtliche Fahrlässigkeitstatbestände entbehrlich?

Frage 6: Sind die geltenden insolvenzstrafrechtlichen Tatbestände sachgerecht gestaltet, wenn ja, welche, wenn nein, welche nicht, welche könnten entfallen oder sollten verändert werden, ggf. welche weiteren Verhaltensweisen sollten zivil- und/oder strafrechtlich sanktioniert werden?

Frage 7: Ist ein auf (im Gegensatz zu den normativen Tatbestandsmerkmalen Überschuldung, drohender wie eingetretener Zahlungsunfähigkeit) sinnlich fassbares Verhalten beschränktes Insolvenzstrafrecht anzustreben, wenn ja, an welches Verhalten könnte es anknüpfen?

Frage 8: Soll eine insolvenz(straf)rechtliche Selbstanzeige in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 371 AO eingeführt werden, wenn ja, in welcher Gestalt?

Frage 9: Kann die Überschuldung als zwingender Insolvenzauslösetatbestand ganz entfallen oder ist sie als, wenn auch erst nachträglich wirkendes, aber absicherndes Kontrollinstrument auch strafrechtlich sinnvoll oder geboten?

Frage 10: Wenn auf Überschuldung als zwingender Insolvenzauslösetatbestand verzichtet werden sollte, soll es sich um einen ersatzlosen Verzicht handeln, wenn nein, was soll an die Stelle der Überschuldung treten?

Frage 11: Genügt ein anderes Verständnis, eine andere Definition der Überschuldung (zivilrechtlich, strafrechtlich)?

Autorinnen und Autoren

  • Folker Bittmann
    Nach dem ersten Staatsexamen 1980 in Heidelberg und dem zweiten 1985 in Stuttgart war LOStA a.d. Rechtsanwalt Folker Bittmann zunächst kurze Zeit Rechtsanwalt in Heidelberg. 1986 wechselte er zur Staatsanwaltschaft Darmstadt, 1987 zur Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und übernahm dort nach gut einem halben Jahr ein insolvenzrechtliches Dezernat und 1992 zusätzlich die Koordination der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, bevor ihm 1993 die Leitung der Wirtschafts- und Korruptionsabteilungen der Staatsanwaltschaft Halle übertragen wurde. Seit 2005 leitete er die Staatsanwaltschaft Dessau, seit 2007 Dessau-Roßlau. Seit Sommer 2018 ist er Rechtsanwalt bei verte|rechtsanwälte.

WiJ

  • Dr. Carolin Raspé , Dr. Roland Stein

    Strafrechtliche Risiken bei der Sanktions- Compliance Teil 1

    Außenwirtschaftsrecht Kriegswaffenkontrollrecht

  • Sigrid Mehring-Zier

    Wirtschaftsvölkerstrafrecht in der europäischen Praxis – und Deutschland?

    Auslandsbezüge EU Internationales Strafrecht Rechtshilfe

  • Jakob Lehners

    Digitale Akteneinsicht in der Untersuchungshaft

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)