Verteidigungsunterlagen sind auch vor Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens geschützt
Anm. zu LG Gießen, Beschl. v. 25.06.2012 – 7 Qs 100/12 [1]
1. Aus dem aus Art. 6 Abs. 3 MRK, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden rechtsstaatlichen Gebot, dem Beschuldigten die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben, folgt, dass Unterlagen, die sich im Gewahrsam des Beschuldigten befinden und die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren angefertigt hat, über den Wortlaut von § 97 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen. (Ls. d. Red.)
2. Aus dem in § 148 Abs. 1 StPO garantierten ungehinderten Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger wird allgemein gefolgert, dass Verteidigungsunterlagen von der Beschlagnahme auch sonst ausgenommen sind, ohne Rücksicht darauf, wo sie sich befinden. (Ls. d. Red.)
3. Voraussetzung für die Beschlagnahmefreiheit von Mitteilungen aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO ist das Bestehen des Verteidigungsverhältnisses. (Ls. d. Red.)
4. Das aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO folgende Beschlagnahmeverbot gilt auch für Verteidigungsunterlagen, die vor förmlicher Einleitung des Ermittlungsverfahrens gefertigt wurden. (amtlicher Leitsatz)
LG Gießen, Beschl. v. 25.06.2012 – 7 Qs 100/12
Anmerkung:
Die 7. Große Strafkammer des LG Gießen hat eine Entscheidung getroffen, die in ihrer Tragweite für strafrechtlich beratende Rechtsanwälte und Inhouse-Juristen kaum überschätzt werden kann. Sie stellt in begrüßenswerter Deutlichkeit klar, dass es für die Beschlagnahmefreiheit von Verteidigungsunterlagen nicht darauf ankommt, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem die Unterlagen gefertigt wurden, bereits offiziell gegen den Mandanten ermittelt wurde.
Die Entscheidung:
In dem der Entscheidung zugrundeliegendem Fall erteilte der spätere Beschuldigte mit Vollmachtsurkunde vom 1. Februar seinem Rechtsanwalt, einem Fachanwalt für Strafrecht, das Mandat. Dem Mandat lag der „Auftrag über die Beratung und Vertretung in der Angelegenheit ‚Verkauf von Grundstücken der … in …‘“ zugrunde. In diesem „Beratungs- und Vertretungsmandat in der Angelegenheit‚ Beratung und Rechtsgutachten zur strafrechtlichen Beurteilung sog. Rückvergütungsvereinbarungen‘“ schloss der Rechtsanwalt mit dem Mandanten eine auf den 21. Februar datierte Vergütungsvereinbarung.
Dem Beschluss ist weiter zu entnehmen, dass der Mandant einen Leitz-Ordner Unterlagen angelegt hatte, der erkennbar, also für einen Außenstehenden nachvollziehbar, zum Zwecke seiner Verteidigung angefertigt wurde. Der Inhalt des Ordners legt auch für einen Außenstehenden nahe, dass die Unterlagen zur Vorbereitung einer Verteidigung konzipiert waren. Sie enthalten etwa Darstellungen des Sachverhalts und Überlegungen zu den in Betracht kommenden Strafvorschriften. Ferner war dazu in dem Ordner ein Gutachten enthalten, das vom 28. Februar datierte.
Dem Beschluss zufolge wurden am 29. März des gleichen Jahres die Räume des Mandanten durchsucht und unter anderem der Ordner mit den Verteidigungsunterlagen bei dem dann Beschuldigten sichergestellt.
Mit Beschluss vom 27. April hat das Amtsgericht die Beschlagnahme des sichergestellten und im Beschluss näher aufgeführten Leitz-Ordners angeordnet, da der Beschuldigte der Beihilfe zur Untreue und der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr verdächtig sei.
Mit seiner Beschwerde machte der Betroffene insbesondere geltend, dass die Unterlagen als Verteidigungsunterlagen einem Beschlagnahmeverbot unterlägen. Das LG Gießen hob auf die Beschwerde die Beschlagnahme der als Verteidigungsunterlagen eingestuften Schriftstücke in dem Leitz-Ordner auf.
Das Gericht begründet seine Entscheidung damit, dass die Unterlagen einem aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO folgenden Beschlagnahmeverbot unterliegen. Sie werden von § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO erfasst, auch wenn sie sich nicht im Gewahrsam des zeugnisverweigerungsberechtigten Rechtsanwalts befanden. Das aus § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO resultierende Beschlagnahmeverbot erstreckt sich nach § 97 Abs. 2 S. 1 StPO unmittelbar zwar nur auf Gegenstände, die sich im Gewahrsam der zeugnisverweigerungsberechtigten Person befinden. Aus dem aus Art. 6 Abs. 3 MRK, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden rechtsstaatlichen Gebot, dem Beschuldigten die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben, folgt jedoch, dass Unterlagen, die sich im Gewahrsam des Beschuldigten befinden und die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren angefertigt hat, über den Wortlaut von § 97 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen. Zudem wird aus dem in § 148 Abs. 1 StPO garantierten ungehinderten Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger allgemein gefolgert, dass Verteidigungsunterlagen von der Beschlagnahme auch sonst ausgenommen sind, ohne Rücksicht darauf, wo sie sich befinden. Voraussetzung für die Beschlagnahmefreiheit von Mitteilungen aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO ist allerdings das Bestehen des Verteidigungsverhältnisses.
Dem LG Gießen zufolge kommt es gerade nicht darauf an, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem die Unterlagen und Aufzeichnungen gefertigt wurden, bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten eingeleitet war, d.h. ob er seitens der Staatsanwaltschaft als Beschuldigter geführt wurde. Verteidigung kann auch schon stattfinden, wenn gegen den Betroffenen noch nicht förmlich ermittelt wird, wenn nur der Rechtsanwalt aus gutem Grund seine Tätigkeit materiell als Verteidigung ansehen darf. Wendet sich jemand an einen Rechtsanwalt, um sich in einer strafrechtlichen Angelegenheit beraten und vertreten zu lassen, die ihn als möglicher Täter oder Teilnehmer betrifft, bevor ein Ermittlungsverfahren förmlich gegen ihn eingeleitet wurde, ist der schriftliche und mündliche Verkehr zwischen Rechtsanwalt und Betroffenem in gleichem Maße schützenswert, als wenn bereits ein Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt wird. § 148 StPO ist Ausdruck einer Rechtsgarantie, die der Gewährleistung einer wirksamen Strafverteidigung dient, indem sie die Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem nach außen hin abschirmt und gegen Eingriffe schützt. Eine solche schützenswerte Vertrauensbeziehung zu dem beauftragten Rechtsanwalt besteht auch dann, wenn der Betroffene lediglich befürchtet, es werde zukünftig ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, und sich insoweit strafrechtlich beraten lässt. Zudem hängt es bisweilen von Zufälligkeiten (z.B. Zeitablauf bis zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft von gewonnenen Erkenntnissen) ab, wann förmlich die Beschuldigteneigenschaft festgestellt wird.
Durch dieses Ergebnis wird dem LG Gießen zufolge auch der Schutz des Geheimhaltungsinteresses nicht über Gebühr ausgedehnt. Denn geschützt wird durch das Beschlagnahmeverbot nicht jeder Kontakt mit einem Rechtsanwalt, sondern lediglich die konkrete Beziehung zu ihm als zeugnisverweigerungsberechtigtem Verteidiger in einer bestimmten strafrechtlichen Angelegenheit. Denn § 148 StPO findet keine Anwendung, wenn sich Beschuldigter und Verteidiger aus einem anderen Anlass in Verbindung setzen. Außerdem ist es einem Beschuldigten verwehrt, die Beschlagnahme von Unterlagen und Aufzeichnungen schon dadurch zu verhindern, dass er diese einfach als Verteidigungsunterlagen bezeichnet oder mit solchen Unterlagen vermischt.
Würdigung:
Die Entscheidung des LG Gießen ist vorbehaltlos zu begrüßen. Sie bildet das erforderliche Gegengewicht zu den Beschlüssen, die zuletzt etwa vom LG Hamburg,[2] LG Bonn[3] und vom LG Mannheim[4] ergangen sind. Man konnte sich nach diesen Entscheidungen des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass aktuell am Beschlagnahmeprivileg für Mandats- und Verteidigungsunterlagen gerüttelt werden sollte. Die Schwerpunkte der Entscheidungen mögen anders gelagert gewesen sein. Sie betrafen anwaltliche Berichte, die im Rahmen unternehmensinterner Untersuchungen erstellt wurden. Im Kern ging es jedoch wiederholt um die Beschlagnahmefreiheit von Unterlagen, die von Rechtsanwälten im Kontext von Ermittlungen wegen Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten angefertigt wurden. Im Ergebnis wurde ein Beschlagnahmeprivileg jeweils abgelehnt. Zum Teil wurde angeführt, dass keine Veranlassung bestünde, einem lediglich potenziell Beschuldigten, der in dem Verfahren bislang nur als Zeuge in Betracht kam, den Schutz eines Beschlagnahmeprivilegs zuzubilligen. An anderer Stelle hieß es, dass die Rechtsanwälte ja nicht durch die von der Beschlagnahme Betroffenen, sondern durch deren Konzernmutter mandatiert worden wären. So kamen die Gerichte allesamt zu dem Ergebnis, dass jedenfalls eines nicht vorliegen würde: ein Verteidigungsverhältnis im Sinne von § 148 Abs. 1 StPO.
Es ist das Verdienst des LG Gießen, dass es der Versuchung widerstand, sich in den Reigen der ausschließlich formalen Betrachtungen einzureihen. Es verweist zu Recht darauf, dass für die Frage der Beschlagnahmefreiheit das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant in materieller Hinsicht darauf zu untersuchen ist, ob ein besonders geschütztes Verteidigungsverhältnis vorliegt. Die Prämisse, dass Verteidigung auch dann schon stattfinden kann, wenn gegen den Betroffenen noch nicht förmlich ermittelt wird, wenn nur der Rechtsanwalt aus gutem Grund seine Tätigkeit materiell als Verteidigung ansehen darf, verdient volle Unterstützung.[5] § 148 StPO ist Ausdruck einer Rechtsgarantie, die der Gewährleistung einer wirksamen Strafverteidigung dient, indem sie die Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem nach außen hin abschirmt und gegen Eingriffe schützt.[6] Eine solche schützenswerte Vertrauensbeziehung zu dem beauftragten Rechtsanwalt besteht auch dann, wenn der Betroffene lediglich befürchtet, es werde zukünftig ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, und sich insoweit strafrechtlich beraten lässt. Zudem hängt es bisweilen von Zufälligkeiten (z.B. Zeitablauf bis zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft von gewonnenen Erkenntnissen) ab, wann förmlich die Beschuldigteneigenschaft festgestellt wird. Ferner kann es nicht den Strafverfolgungsbehörden überlassen bleiben, durch Eintragen oder Nichteintragen des Betroffenen in ein Verfahrensregister zu steuern, ob ein Beschlagnahmeverbot besteht. Andernfalls könnten sich die Behörden den Zugriff auf solche Unterlagen, die der Sache nach als Verteidigungsunterlagen einzuordnen sind, allein dadurch bewahren, dass sie mit dem Eintragen des Verdächtigen als Beschuldigten bis nach der Beschlagnahme zuwarten.
Es kommt für die Frage, ob eine von § 148 Abs. 1 StPO geschützte Beziehung besteht, nach richtiger Ansicht nicht auf eine formale Beschuldigteneigenschaft des Mandanten, sondern auf ein materielles Verteidigungsverhältnis an. Wie auch schon bei der Phase der Mandatsanbahnung, bei der der Rechtssuchende zwar schon Beschuldigter, der Rechtsanwalt aber noch nicht bevollmächtigter Verteidiger ist,[7] gilt der Schutz auch dann, wenn der Betroffene nur befürchten muss, es werde zukünftig ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, und sich insoweit strafrechtlich beraten lässt.
Zusammenfassung:
Das LG Gießen macht in dem Beschluss deutlich, dass es nicht darauf ankommt, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem Verteidigungsunterlagen gefertigt wurden, bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten eingeleitet war. Es ist vielmehr darauf abzustellen, ob der Sache nach eine anwaltliche Beratung zu möglichen strafrechtlichen Vorwürfen erfolgt. In diesem Fall ist der schriftliche und mündliche Verkehr zwischen Rechtsanwalt und Betroffenem in gleichem Maße schützenswert, als wenn bereits ein Ermittlungsverfahren geführt wird. Die Entscheidung verdient im Ergebnis und vor allem in ihrer Deutlichkeit volle Zustimmung. Sie ist für die anwaltliche Arbeit von hoher praktischer Relevanz.
Praxistipp: Ein anwaltliches Beratungsmandat zu potenziell strafrechtlichen Fragestellungen oder zu solchen einer Ordnungswidrigkeit sollte laufend darauf überprüft werden, ob sich gegen den Mandanten der Verdacht einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit richten kann. In diesem Fall kann das Mandat als Verteidigungsmandat gegen ein drohendes Bußgeld- oder Ermittlungsverfahren ausgestaltet und deutlich als solches bezeichnet werden. Dies dient dem Schutz vertraulicher Mandatsunterlagen als Verteidigungsunterlagen. |
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Anm. zu LG Gießen, Beschl. v. 25.06.2012 – 7 Qs 100/12 [1]
1. Aus dem aus Art. 6 Abs. 3 MRK, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden rechtsstaatlichen Gebot, dem Beschuldigten die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben, folgt, dass Unterlagen, die sich im Gewahrsam des Beschuldigten befinden und die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren angefertigt hat, über den Wortlaut von § 97 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen. (Ls. d. Red.)
2. Aus dem in § 148 Abs. 1 StPO garantierten ungehinderten Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger wird allgemein gefolgert, dass Verteidigungsunterlagen von der Beschlagnahme auch sonst ausgenommen sind, ohne Rücksicht darauf, wo sie sich befinden. (Ls. d. Red.)
3. Voraussetzung für die Beschlagnahmefreiheit von Mitteilungen aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO ist das Bestehen des Verteidigungsverhältnisses. (Ls. d. Red.)
4. Das aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO folgende Beschlagnahmeverbot gilt auch für Verteidigungsunterlagen, die vor förmlicher Einleitung des Ermittlungsverfahrens gefertigt wurden. (amtlicher Leitsatz)
LG Gießen, Beschl. v. 25.06.2012 – 7 Qs 100/12
Anmerkung:
Die 7. Große Strafkammer des LG Gießen hat eine Entscheidung getroffen, die in ihrer Tragweite für strafrechtlich beratende Rechtsanwälte und Inhouse-Juristen kaum überschätzt werden kann. Sie stellt in begrüßenswerter Deutlichkeit klar, dass es für die Beschlagnahmefreiheit von Verteidigungsunterlagen nicht darauf ankommt, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem die Unterlagen gefertigt wurden, bereits offiziell gegen den Mandanten ermittelt wurde.
Die Entscheidung:
In dem der Entscheidung zugrundeliegendem Fall erteilte der spätere Beschuldigte mit Vollmachtsurkunde vom 1. Februar seinem Rechtsanwalt, einem Fachanwalt für Strafrecht, das Mandat. Dem Mandat lag der „Auftrag über die Beratung und Vertretung in der Angelegenheit ‚Verkauf von Grundstücken der … in …‘“ zugrunde. In diesem „Beratungs- und Vertretungsmandat in der Angelegenheit‚ Beratung und Rechtsgutachten zur strafrechtlichen Beurteilung sog. Rückvergütungsvereinbarungen‘“ schloss der Rechtsanwalt mit dem Mandanten eine auf den 21. Februar datierte Vergütungsvereinbarung.
Dem Beschluss ist weiter zu entnehmen, dass der Mandant einen Leitz-Ordner Unterlagen angelegt hatte, der erkennbar, also für einen Außenstehenden nachvollziehbar, zum Zwecke seiner Verteidigung angefertigt wurde. Der Inhalt des Ordners legt auch für einen Außenstehenden nahe, dass die Unterlagen zur Vorbereitung einer Verteidigung konzipiert waren. Sie enthalten etwa Darstellungen des Sachverhalts und Überlegungen zu den in Betracht kommenden Strafvorschriften. Ferner war dazu in dem Ordner ein Gutachten enthalten, das vom 28. Februar datierte.
Dem Beschluss zufolge wurden am 29. März des gleichen Jahres die Räume des Mandanten durchsucht und unter anderem der Ordner mit den Verteidigungsunterlagen bei dem dann Beschuldigten sichergestellt.
Mit Beschluss vom 27. April hat das Amtsgericht die Beschlagnahme des sichergestellten und im Beschluss näher aufgeführten Leitz-Ordners angeordnet, da der Beschuldigte der Beihilfe zur Untreue und der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr verdächtig sei.
Mit seiner Beschwerde machte der Betroffene insbesondere geltend, dass die Unterlagen als Verteidigungsunterlagen einem Beschlagnahmeverbot unterlägen. Das LG Gießen hob auf die Beschwerde die Beschlagnahme der als Verteidigungsunterlagen eingestuften Schriftstücke in dem Leitz-Ordner auf.
Das Gericht begründet seine Entscheidung damit, dass die Unterlagen einem aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO folgenden Beschlagnahmeverbot unterliegen. Sie werden von § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO erfasst, auch wenn sie sich nicht im Gewahrsam des zeugnisverweigerungsberechtigten Rechtsanwalts befanden. Das aus § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO resultierende Beschlagnahmeverbot erstreckt sich nach § 97 Abs. 2 S. 1 StPO unmittelbar zwar nur auf Gegenstände, die sich im Gewahrsam der zeugnisverweigerungsberechtigten Person befinden. Aus dem aus Art. 6 Abs. 3 MRK, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden rechtsstaatlichen Gebot, dem Beschuldigten die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben, folgt jedoch, dass Unterlagen, die sich im Gewahrsam des Beschuldigten befinden und die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren angefertigt hat, über den Wortlaut von § 97 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen. Zudem wird aus dem in § 148 Abs. 1 StPO garantierten ungehinderten Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger allgemein gefolgert, dass Verteidigungsunterlagen von der Beschlagnahme auch sonst ausgenommen sind, ohne Rücksicht darauf, wo sie sich befinden. Voraussetzung für die Beschlagnahmefreiheit von Mitteilungen aus §§ 97 Abs. 1 Nr. 1, 148 StPO ist allerdings das Bestehen des Verteidigungsverhältnisses.
Dem LG Gießen zufolge kommt es gerade nicht darauf an, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem die Unterlagen und Aufzeichnungen gefertigt wurden, bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten eingeleitet war, d.h. ob er seitens der Staatsanwaltschaft als Beschuldigter geführt wurde. Verteidigung kann auch schon stattfinden, wenn gegen den Betroffenen noch nicht förmlich ermittelt wird, wenn nur der Rechtsanwalt aus gutem Grund seine Tätigkeit materiell als Verteidigung ansehen darf. Wendet sich jemand an einen Rechtsanwalt, um sich in einer strafrechtlichen Angelegenheit beraten und vertreten zu lassen, die ihn als möglicher Täter oder Teilnehmer betrifft, bevor ein Ermittlungsverfahren förmlich gegen ihn eingeleitet wurde, ist der schriftliche und mündliche Verkehr zwischen Rechtsanwalt und Betroffenem in gleichem Maße schützenswert, als wenn bereits ein Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt wird. § 148 StPO ist Ausdruck einer Rechtsgarantie, die der Gewährleistung einer wirksamen Strafverteidigung dient, indem sie die Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem nach außen hin abschirmt und gegen Eingriffe schützt. Eine solche schützenswerte Vertrauensbeziehung zu dem beauftragten Rechtsanwalt besteht auch dann, wenn der Betroffene lediglich befürchtet, es werde zukünftig ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, und sich insoweit strafrechtlich beraten lässt. Zudem hängt es bisweilen von Zufälligkeiten (z.B. Zeitablauf bis zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft von gewonnenen Erkenntnissen) ab, wann förmlich die Beschuldigteneigenschaft festgestellt wird.
Durch dieses Ergebnis wird dem LG Gießen zufolge auch der Schutz des Geheimhaltungsinteresses nicht über Gebühr ausgedehnt. Denn geschützt wird durch das Beschlagnahmeverbot nicht jeder Kontakt mit einem Rechtsanwalt, sondern lediglich die konkrete Beziehung zu ihm als zeugnisverweigerungsberechtigtem Verteidiger in einer bestimmten strafrechtlichen Angelegenheit. Denn § 148 StPO findet keine Anwendung, wenn sich Beschuldigter und Verteidiger aus einem anderen Anlass in Verbindung setzen. Außerdem ist es einem Beschuldigten verwehrt, die Beschlagnahme von Unterlagen und Aufzeichnungen schon dadurch zu verhindern, dass er diese einfach als Verteidigungsunterlagen bezeichnet oder mit solchen Unterlagen vermischt.
Würdigung:
Die Entscheidung des LG Gießen ist vorbehaltlos zu begrüßen. Sie bildet das erforderliche Gegengewicht zu den Beschlüssen, die zuletzt etwa vom LG Hamburg,[2] LG Bonn[3] und vom LG Mannheim[4] ergangen sind. Man konnte sich nach diesen Entscheidungen des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass aktuell am Beschlagnahmeprivileg für Mandats- und Verteidigungsunterlagen gerüttelt werden sollte. Die Schwerpunkte der Entscheidungen mögen anders gelagert gewesen sein. Sie betrafen anwaltliche Berichte, die im Rahmen unternehmensinterner Untersuchungen erstellt wurden. Im Kern ging es jedoch wiederholt um die Beschlagnahmefreiheit von Unterlagen, die von Rechtsanwälten im Kontext von Ermittlungen wegen Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten angefertigt wurden. Im Ergebnis wurde ein Beschlagnahmeprivileg jeweils abgelehnt. Zum Teil wurde angeführt, dass keine Veranlassung bestünde, einem lediglich potenziell Beschuldigten, der in dem Verfahren bislang nur als Zeuge in Betracht kam, den Schutz eines Beschlagnahmeprivilegs zuzubilligen. An anderer Stelle hieß es, dass die Rechtsanwälte ja nicht durch die von der Beschlagnahme Betroffenen, sondern durch deren Konzernmutter mandatiert worden wären. So kamen die Gerichte allesamt zu dem Ergebnis, dass jedenfalls eines nicht vorliegen würde: ein Verteidigungsverhältnis im Sinne von § 148 Abs. 1 StPO.
Es ist das Verdienst des LG Gießen, dass es der Versuchung widerstand, sich in den Reigen der ausschließlich formalen Betrachtungen einzureihen. Es verweist zu Recht darauf, dass für die Frage der Beschlagnahmefreiheit das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant in materieller Hinsicht darauf zu untersuchen ist, ob ein besonders geschütztes Verteidigungsverhältnis vorliegt. Die Prämisse, dass Verteidigung auch dann schon stattfinden kann, wenn gegen den Betroffenen noch nicht förmlich ermittelt wird, wenn nur der Rechtsanwalt aus gutem Grund seine Tätigkeit materiell als Verteidigung ansehen darf, verdient volle Unterstützung.[5] § 148 StPO ist Ausdruck einer Rechtsgarantie, die der Gewährleistung einer wirksamen Strafverteidigung dient, indem sie die Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem nach außen hin abschirmt und gegen Eingriffe schützt.[6] Eine solche schützenswerte Vertrauensbeziehung zu dem beauftragten Rechtsanwalt besteht auch dann, wenn der Betroffene lediglich befürchtet, es werde zukünftig ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, und sich insoweit strafrechtlich beraten lässt. Zudem hängt es bisweilen von Zufälligkeiten (z.B. Zeitablauf bis zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft von gewonnenen Erkenntnissen) ab, wann förmlich die Beschuldigteneigenschaft festgestellt wird. Ferner kann es nicht den Strafverfolgungsbehörden überlassen bleiben, durch Eintragen oder Nichteintragen des Betroffenen in ein Verfahrensregister zu steuern, ob ein Beschlagnahmeverbot besteht. Andernfalls könnten sich die Behörden den Zugriff auf solche Unterlagen, die der Sache nach als Verteidigungsunterlagen einzuordnen sind, allein dadurch bewahren, dass sie mit dem Eintragen des Verdächtigen als Beschuldigten bis nach der Beschlagnahme zuwarten.
Es kommt für die Frage, ob eine von § 148 Abs. 1 StPO geschützte Beziehung besteht, nach richtiger Ansicht nicht auf eine formale Beschuldigteneigenschaft des Mandanten, sondern auf ein materielles Verteidigungsverhältnis an. Wie auch schon bei der Phase der Mandatsanbahnung, bei der der Rechtssuchende zwar schon Beschuldigter, der Rechtsanwalt aber noch nicht bevollmächtigter Verteidiger ist,[7] gilt der Schutz auch dann, wenn der Betroffene nur befürchten muss, es werde zukünftig ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, und sich insoweit strafrechtlich beraten lässt.
Zusammenfassung:
Das LG Gießen macht in dem Beschluss deutlich, dass es nicht darauf ankommt, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem Verteidigungsunterlagen gefertigt wurden, bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten eingeleitet war. Es ist vielmehr darauf abzustellen, ob der Sache nach eine anwaltliche Beratung zu möglichen strafrechtlichen Vorwürfen erfolgt. In diesem Fall ist der schriftliche und mündliche Verkehr zwischen Rechtsanwalt und Betroffenem in gleichem Maße schützenswert, als wenn bereits ein Ermittlungsverfahren geführt wird. Die Entscheidung verdient im Ergebnis und vor allem in ihrer Deutlichkeit volle Zustimmung. Sie ist für die anwaltliche Arbeit von hoher praktischer Relevanz.
Praxistipp: Ein anwaltliches Beratungsmandat zu potenziell strafrechtlichen Fragestellungen oder zu solchen einer Ordnungswidrigkeit sollte laufend darauf überprüft werden, ob sich gegen den Mandanten der Verdacht einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit richten kann. In diesem Fall kann das Mandat als Verteidigungsmandat gegen ein drohendes Bußgeld- oder Ermittlungsverfahren ausgestaltet und deutlich als solches bezeichnet werden. Dies dient dem Schutz vertraulicher Mandatsunterlagen als Verteidigungsunterlagen. |
[1] Der Autor ist Partner bei LEITNER & PARTNER Rechtsanwälte Wirtschaftsstrafrecht, München.
[2] LG Hamburg NJW 2011, 942 m. Anm. v. Galen; NZWiSt 2012, 26 m. Anm. Schuster; GWR 2011, 169 m. Anm. Szesny; wistra 2011, 192; StV 2011, 148.
[4] LG Mannheim, WiJ 2013, 30 m. Anm. v. Saucken; NJW-Spezial 2012, 504 m. Anm. Beukelmann; NStZ 2012, 718 m. Anm. Jahn/Kirsch.