Garantenpflicht eines Betriebsvorgesetzten bei betriebsbezogenen Straftaten
Anm. zu BGH, Urteil vom 20.10.2011 – 4 StR 71/11, BGHSt 57, 42
Aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter kann sich eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes – unabhängig von den tatsächlichen Umständen, die im Einzelfall für die Begründung der Garantenstellung maßgebend sind – auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht. (amtlicher Leitsatz)
BGH, Urteil vom 20.10.2011 – 4 StR 71/11
Sachverhalt
1.) Der Angeklagte war in der Straßenbauabteilung der Stadt H. beschäftigt. Nach deren Zusammenlegung mit der Grünflächenabteilung der Stadt im städtischen Bauhof im Frühsommer 2006 war er Vorarbeiter einer Kolonne, der außer ihm die Mitangeklagten S., K. und B. angehörten. Zwischen Februar 2006 und Juli 2008 wurde der ebenfalls beim städtischen Bauhof angestellte, aber in einer anderen Kolonne tätige Geschädigte D. während der Arbeitszeit wiederholt Opfer demütigender körperlicher Übergriffe von Seiten der Mitangeklagten, die hierfür bisweilen auch Knüppel, Ketten oder andere Werkzeuge verwendeten. Unter anderem kam es zu folgenden Vorfällen:
a.) Am 22. Februar 2006 drängten die Mitangeklagten den Geschädigten D. in eine Friedhofskapelle. Die Mitangeklagten K. und B. hielten den Geschädigten an den Armen fest, während der Mitangeklagte S. ihm mit einem Holzknüppel mehrere wuchtige Schläge gegen den Oberkörper versetzte. Nach einem Positionstausch zwischen den Mitangeklagten S. und K. schlug dieser ebenfalls mehrfach auf den Geschädigten ein. Sodann ließen die Mitangeklagten den Geschädigten, der eine Rippenfraktur erlitten hatte und wegen der starken Schmerzen mehrere Stunden nicht bewegungsfähig war, in der Kapelle zurück und entfernten sich.
b.) Anfang 2008 forderten die Mitangeklagten S. und K. einem gemeinsamen Tatplan entsprechend den Geschädigten auf, sich einen vermeintlichen Schaden an einem der zum Bauhof gehörenden Fahrzeuge anzuschauen, packten ihn, als er sich dem Fahrzeug genähert hatte, von hinten und stießen seinen Kopf heftig auf die Motorhaube.
c.) Im Frühjahr 2008 erhielt der Geschädigte D., weil er sich für eine berufliche Fortbildung angemeldet hatte, beim Beladen eines Fahrzeugs Schläge zunächst vom Mitangeklagten S., sodann vom Mitangeklagten K.
2.) Das Landgericht ist zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte bei diesen drei Taten anwesend war; eine ihm mit der Anklageschrift zur Last gelegte aktive Tatbeteiligung in Form psychischer Unterstützung hat es jedoch nicht festgestellt. An einer Verurteilung wegen einer durch Unterlassen begangenen Beihilfe hat es sich gehindert gesehen, weil es eine Garantenstellung des Angeklagten verneint hat. Eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften hat das Landgericht nicht erörtert.
3.) Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung und zur Nötigung in zehn Fällen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
Rechtliche Wertung
1.) Das Landgericht hat entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts die Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes zu Recht abgelehnt. Die dafür erforderliche Garantenstellung im Sinne einer besonderen Pflichtenstellung, die über die für jedermann geltende Handlungspflicht hinausgeht, hatte der Angeklagte nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht.
a.) Eine solche Garantenstellung ergibt sich zum einen nicht aus einer dem Angeklagten von seiner Arbeitgeberin, der Stadt H., übertragenen Pflicht zum Schutz der Rechtsgüter des Geschädigten vor Angriffen durch Dritte. Dabei kann dahinstehen, ob die Stadt H. eine solche Schutzpflicht – etwa aus § 618 BGB – überhaupt traf und welche konkreten Vorgesetztenpflichten sich ferner aus dem Arbeitsvertrag des Angeklagten mit der Stadt H. ergaben. Selbst wenn hier eine solche – grundsätzlich mögliche – arbeitsvertragliche Übertragung einer Schutzpflicht im Interesse nachgeordneter Mitarbeiter anzunehmen sein sollte, würde sich diese jedenfalls nicht auf den Geschädigten erstreckt haben. Dieser befand sich zu keinem der Tatzeitpunkte innerhalb des personellen Verantwortungsbereichs des Angeklagten. Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte weder der planmäßige Vorgesetzte des Geschädigten, noch war der Geschädigte ihm und der von ihm geführten Kolonne aus anderen Gründen, etwa vertretungsweise, zugeordnet.
b.) Ebenso wenig ergibt sich eine Garantenstellung aus einer der Stadt H. obliegenden und vom Angeklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses übernommenen Pflicht zur Überwachung der Mitangeklagten S., K. und B. mit dem Ziel, von diesen ausgehende Straftaten zum Nachteil des Geschädigten zu verhindern. Zwar kann sich aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter je nach den Umständen des einzelnen Falles eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht.
Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist. Die Beschränkung der Garantenhaftung des Betriebsinhabers auf betriebsbezogene Taten ist unabhängig davon geboten, welche tatsächlichen Umstände für die Begründung der Garantenstellung im Einzelfall maßgebend sind. Weder mit einem auf dem Arbeitsverhältnis beruhenden Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern noch mit der Herrschaft über die „Gefahrenquelle Betrieb“ oder unter einem anderen Gesichtspunkt lässt sich eine über die allgemeine Handlungspflicht hinausgehende, besondere Verpflichtung des Betriebsinhabers begründen, auch solche Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten.
Gemessen daran handelte es sich bei den Misshandlungen des Geschädigten D. durch die Mitangeklagten nicht um betriebsbezogene Straftaten. Sie standen weder in einem inneren Zusammenhang zur von den Mitangeklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu erbringenden Tätigkeit, noch hat sich in ihnen eine gerade dem Betrieb des städtischen Bauhofs spezifisch anhaftende Gefahr verwirklicht. Insbesondere war den Mitangeklagten die Schikanierung des Geschädigten weder als Teil der „Firmenpolitik“ – etwa um einen unliebsamen Mitarbeiter zum Verlassen des Unternehmens zu bewegen – von der Betriebsleitung aufgetragen worden, noch nutzten die Mitangeklagten ihnen durch ihre Stellung im Betrieb eingeräumte arbeitstechnische Machtbefugnisse zur Tatbegehung aus.
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist eine andere Bewertung auch nicht deshalb geboten, weil die Taten Bestandteil einer Serie wiederkehrender und sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckender Misshandlungen waren. Zwar wird die Betriebsbezogenheit solcher mit dem Begriff „Mobbing“ bezeichneter Tatserien bisweilen mit der Begründung bejaht, dass sich eine in der Betriebsgemeinschaft allgemein angelegte Gefahr verwirkliche, weil für solche Taten der abgegrenzte soziale Raum des Betriebes ohne ausreichende Ausweichmöglichkeiten für das um seinen Arbeitsplatz und damit seine wirtschaftliche Existenz fürchtende Opfer konstitutiv seien. Damit würde das Merkmal der Betriebsbezogenheit jedoch jedenfalls für Fälle wie den vorliegenden überdehnt. Die Gefahr auch wiederholter, unter Kollegen begangener Körperverletzungen besteht in jedem Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter, ist also keine gerade dem konkreten Betrieb – hier dem städtischen Bauhof – innewohnende Gefahr.
Auch ändert sich am Fehlen eines inneren Zusammenhangs zwischen dem Betrieb des Bauhofs bzw. dem Aufgabenbereich der Mitangeklagten und der Misshandlung des Geschädigten nichts dadurch, dass diese wiederholt begangen wurde. Insbesondere verlieren die Körperverletzungstaten hierdurch nicht ihren Charakter als Exzesstaten. Ließe man allein das iterative Moment für die Annahme der Betriebsbezogenheit ausreichen, würde die mit diesem Merkmal bezweckte und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG gebotene Einschränkung der Haftung des Geschäftsherrn aufgegeben und dieser im Ergebnis doch für eine insgesamt straffreie Lebensführung seiner Mitarbeiter während der Arbeitszeit verantwortlich gemacht.
2.) Dass das Landgericht eine Strafbarkeit gemäß § 357 StGB verneint hat, ist aus Rechtsgründen ebenfalls nicht zu beanstanden. Insofern gelten die Ausführungen zum fehlenden Zusammenhang zwischen dem Tätigkeitsbereich der Mitangeklagten und den zum Nachteil des Geschädigten begangenen Straftaten entsprechend.
3.) Der Freispruch hat jedoch keinen Bestand, weil das Landgericht eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB nicht geprüft, insoweit also seiner umfassenden Kognitionspflicht nicht genügt hat.
Anmerkung
1.) Die Existenz und die Grenzen der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung beschäftigen die Strafgerichte schon seit jeher.[1]. Die Begründung der Geschäftsherrenhaftung liegt dabei in der Organisationsmacht des Unternehmensinhabers bzw. der Unternehmensleitung sowie der Weisungsbefugnis von Führungskräften gegenüber untergeordneten Mitarbeitern. Durch gewichtige jüngere Entscheidungen gewinnt die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung nun immer stärker an Kontur. Den Startpunkt der neueren Rechtsprechung und des wissenschaftlichen Diskurses setzte die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH vom 17.7.2009.[2] Hiernach sind Unternehmensinhaber sowie – bei entsprechender Delegation – deren Leitungs- und Führungskräfte innerhalb ihres personalen Verantwortungsbereichs im Einzelfall als Garanten im Sinne des § 13 StGB zur Verhinderung von Straftaten durch Unternehmensmitarbeiter verpflichtet. In einem obiter dictum bemerkte der BGH in dieser Entscheidung zudem, dass insbesondere den Compliance Officer schon kraft seines Amtes regelmäßig eine strafrechtliche Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten aus dem Unternehmen zu Lasten Dritter treffe, was zu einem gewaltigen Echo in der Literatur führte.[3] Der VI. Zivilsenat des BGH entschied zudem, dass aber jedenfalls allein aus der Stellung als Geschäftsführer einer GmbH bzw. Mitglied des Vorstands einer AG sich noch keine grundsätzliche Garantenpflicht gegenüber außenstehenden Dritten ergebe, eine Schädigung ihres Vermögens zu verhindern.[4] Das OLG Braunschweig konkretisierte mit seiner Entscheidung vom 14.6.2012[5]zudem die Garantenpflichten von Aufsichtsratsmitgliedern.
2.) Der vorliegende, durch den 4. Strafsenat entschiedene Fall betrifft zwar das Phänomen des „Mobbings“ und damit strafrechtliche Verstöße im Binnenbereich eines Unternehmens, ist bei näherer Betrachtung aber gleichwohl für die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, die in der Regel im Verhältnis von Unternehmen zu unternehmensfremden Dritten diskutiert wird, von Bedeutung. Um sich der grundsätzlichen Bedeutung der vorliegenden Entscheidung für die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung zu nähern, ist deren Aussagegehalt zunächst differenzierter zu betrachten: Im vorliegenden Fall wurden innerhalb eines Unternehmens Straftaten von Mitarbeitern gegen Mitarbeiter begangen. Eine Unterlassensstrafbarkeit des Vorarbeiters aus einer Garantenstellung heraus kommt in einer solchen Konstellation, so klingt es in der Entscheidung jedenfalls an, zwar dem Grunde nach in Betracht, wenn dieser eine Stellung als „Beschützergarant“ innehat. Eine solche Stellung vermag der BGH in der vorliegenden Fallgestaltung aber jedenfalls nicht zu erkennen, weil der Vorarbeiter nicht der unmittelbare Vorgesetzte des gemobbten Mitarbeiters gewesen sei. Die im Umkehrschluss daran anschließenden Fragen, nämlich ob dann den unmittelbaren Vorgesetzten eine Beschützergarantenpflicht getroffen und welche Reichweite diese ggf. gehabt hätte, bleiben damit leider unbeantwortet. Der BGH lässt offen, ob sich eine Beschützergarantenstellung schon aus arbeitsvertraglichen Beziehungen ergeben kann. Eine Stellung als „Überwachergarant“ sieht der BGH hingegen im Hinblick auf den Vorarbeiter zwar grundsätzlich als naheliegend an, beschränkt im konkreten Fall dessen Verantwortungsbereich jedoch durch das Kriterium der Betriebsbezogenheit so restriktiv, dass er letztlich eine Garantenpflicht ablehnt.
3.) Die durch den BGH vorgenommene Einschränkung der Garantenstellung durch das Kriterium der Betriebsbezogenheit steht damit im Mittelpunkt der Betrachtung, da dieses grundsätzliche Bedeutung für die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung erlangt. Noch in der Entscheidung des 5. Strafsenats wurde die Stellung von Unternehmensverantwortlichen – und des Compliance-Officers – als Überwachergarant im Verhältnis zu unternehmensfremden Dritten grundsätzlich bejaht, ohne dass diese eine Einschränkung durch ein Erfordernis einer Betriebsbezogenheit erfahren hätte. Es liegt indes auf der Hand, dass dieses nun definierte Kriterium künftig nicht nur im Innenverhältnis, sondern ebenso im Verhältnis zu Dritten zu berücksichtigen sein wird. Die Struktur der Betriebsbezogenheit bleibt jedoch auch nach der Entscheidung des 4. Strafsenats unscharf. Betriebsbezogen ist eine Tat nach der Entscheidung des BGH dann, wenn sie einen „inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes“ aufweist. Die Voraussetzungen der Betriebsbezogenheit grenzt der Senat lediglich negativ ab, indem er zugunsten des Unternehmensinhabers solche Straftaten aus dem Anwendungsbereich ausnehmen möchte, die „nicht Ausfluss [der] seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten.“ Ebenso ausgeschlossen sollen „Exzesstaten“ sein. Diese wenig konkrete Abgrenzung lässt Raum für Interpretationen, da verschiedene Fallkonstellationen denkbar sind, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens begangen werden könnten. Es ist daher zu erwarten, dass diese Rechtsprechung weiter konkretisiert werden wird. Ganz offenbar versucht der BGH, die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung an die hiermit verbundene ordnungswidrigkeitenrechtliche (Unternehmens-)Haftung nach §§ 130, 30 OWiG anzugleichen. Naheliegend ist nach der Entscheidung des 4. Senats, dass sich die Rechtsprechung an den Kriterien orientieren wird, die im Rahmen des § 130 OWiG herangezogen werden, da auch diesbezügliche Anlasstaten betriebsbezogen sein müssen.
4.) Abschließend soll auf den konkreten Sachverhalt zurückgekommen werden: Den Vorarbeiter soll nach der Entscheidung des 4. Senats keine Garantenpflicht getroffen haben, obwohl er Kenntnis um die langjährigen Misshandlungen eines hierarchisch nachgeordneten Mitarbeiters hatte und diese sogar selbst miterlebte. Der BGH kommt überspitzt formuliert zu dem Ergebnis, dass das massive Mobbing am Arbeitsplatz nicht betriebsbezogen sei, weil der Mitarbeiter ja auch außerhalb des Betriebes durch seine Kollegen hätte gemobbt werden können. Die aufgestellten Kriterien der Betriebsbezogenheit werden durch den BGH vorliegend eng ausgelegt. Dabei scheint die Entscheidung durch den Gedanken getragen zu sein, anlässlich einer geeigneten Entscheidung eine als zu weit empfundene strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung wieder zu begrenzen. Dem Gerechtigkeitsgefühl sollte in der vorliegenden Konstellation im Ergebnis möglicherweise durch den Verweis auf § 323c StGB Rechnung getragen werden.
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Anm. zu BGH, Urteil vom 20.10.2011 – 4 StR 71/11, BGHSt 57, 42
Aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter kann sich eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes – unabhängig von den tatsächlichen Umständen, die im Einzelfall für die Begründung der Garantenstellung maßgebend sind – auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht. (amtlicher Leitsatz)
BGH, Urteil vom 20.10.2011 – 4 StR 71/11
Sachverhalt
1.) Der Angeklagte war in der Straßenbauabteilung der Stadt H. beschäftigt. Nach deren Zusammenlegung mit der Grünflächenabteilung der Stadt im städtischen Bauhof im Frühsommer 2006 war er Vorarbeiter einer Kolonne, der außer ihm die Mitangeklagten S., K. und B. angehörten. Zwischen Februar 2006 und Juli 2008 wurde der ebenfalls beim städtischen Bauhof angestellte, aber in einer anderen Kolonne tätige Geschädigte D. während der Arbeitszeit wiederholt Opfer demütigender körperlicher Übergriffe von Seiten der Mitangeklagten, die hierfür bisweilen auch Knüppel, Ketten oder andere Werkzeuge verwendeten. Unter anderem kam es zu folgenden Vorfällen:
a.) Am 22. Februar 2006 drängten die Mitangeklagten den Geschädigten D. in eine Friedhofskapelle. Die Mitangeklagten K. und B. hielten den Geschädigten an den Armen fest, während der Mitangeklagte S. ihm mit einem Holzknüppel mehrere wuchtige Schläge gegen den Oberkörper versetzte. Nach einem Positionstausch zwischen den Mitangeklagten S. und K. schlug dieser ebenfalls mehrfach auf den Geschädigten ein. Sodann ließen die Mitangeklagten den Geschädigten, der eine Rippenfraktur erlitten hatte und wegen der starken Schmerzen mehrere Stunden nicht bewegungsfähig war, in der Kapelle zurück und entfernten sich.
b.) Anfang 2008 forderten die Mitangeklagten S. und K. einem gemeinsamen Tatplan entsprechend den Geschädigten auf, sich einen vermeintlichen Schaden an einem der zum Bauhof gehörenden Fahrzeuge anzuschauen, packten ihn, als er sich dem Fahrzeug genähert hatte, von hinten und stießen seinen Kopf heftig auf die Motorhaube.
c.) Im Frühjahr 2008 erhielt der Geschädigte D., weil er sich für eine berufliche Fortbildung angemeldet hatte, beim Beladen eines Fahrzeugs Schläge zunächst vom Mitangeklagten S., sodann vom Mitangeklagten K.
2.) Das Landgericht ist zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte bei diesen drei Taten anwesend war; eine ihm mit der Anklageschrift zur Last gelegte aktive Tatbeteiligung in Form psychischer Unterstützung hat es jedoch nicht festgestellt. An einer Verurteilung wegen einer durch Unterlassen begangenen Beihilfe hat es sich gehindert gesehen, weil es eine Garantenstellung des Angeklagten verneint hat. Eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften hat das Landgericht nicht erörtert.
3.) Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung und zur Nötigung in zehn Fällen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
Rechtliche Wertung
1.) Das Landgericht hat entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts die Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes zu Recht abgelehnt. Die dafür erforderliche Garantenstellung im Sinne einer besonderen Pflichtenstellung, die über die für jedermann geltende Handlungspflicht hinausgeht, hatte der Angeklagte nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht.
a.) Eine solche Garantenstellung ergibt sich zum einen nicht aus einer dem Angeklagten von seiner Arbeitgeberin, der Stadt H., übertragenen Pflicht zum Schutz der Rechtsgüter des Geschädigten vor Angriffen durch Dritte. Dabei kann dahinstehen, ob die Stadt H. eine solche Schutzpflicht – etwa aus § 618 BGB – überhaupt traf und welche konkreten Vorgesetztenpflichten sich ferner aus dem Arbeitsvertrag des Angeklagten mit der Stadt H. ergaben. Selbst wenn hier eine solche – grundsätzlich mögliche – arbeitsvertragliche Übertragung einer Schutzpflicht im Interesse nachgeordneter Mitarbeiter anzunehmen sein sollte, würde sich diese jedenfalls nicht auf den Geschädigten erstreckt haben. Dieser befand sich zu keinem der Tatzeitpunkte innerhalb des personellen Verantwortungsbereichs des Angeklagten. Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte weder der planmäßige Vorgesetzte des Geschädigten, noch war der Geschädigte ihm und der von ihm geführten Kolonne aus anderen Gründen, etwa vertretungsweise, zugeordnet.
b.) Ebenso wenig ergibt sich eine Garantenstellung aus einer der Stadt H. obliegenden und vom Angeklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses übernommenen Pflicht zur Überwachung der Mitangeklagten S., K. und B. mit dem Ziel, von diesen ausgehende Straftaten zum Nachteil des Geschädigten zu verhindern. Zwar kann sich aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter je nach den Umständen des einzelnen Falles eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht.
Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist. Die Beschränkung der Garantenhaftung des Betriebsinhabers auf betriebsbezogene Taten ist unabhängig davon geboten, welche tatsächlichen Umstände für die Begründung der Garantenstellung im Einzelfall maßgebend sind. Weder mit einem auf dem Arbeitsverhältnis beruhenden Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern noch mit der Herrschaft über die „Gefahrenquelle Betrieb“ oder unter einem anderen Gesichtspunkt lässt sich eine über die allgemeine Handlungspflicht hinausgehende, besondere Verpflichtung des Betriebsinhabers begründen, auch solche Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten.
Gemessen daran handelte es sich bei den Misshandlungen des Geschädigten D. durch die Mitangeklagten nicht um betriebsbezogene Straftaten. Sie standen weder in einem inneren Zusammenhang zur von den Mitangeklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu erbringenden Tätigkeit, noch hat sich in ihnen eine gerade dem Betrieb des städtischen Bauhofs spezifisch anhaftende Gefahr verwirklicht. Insbesondere war den Mitangeklagten die Schikanierung des Geschädigten weder als Teil der „Firmenpolitik“ – etwa um einen unliebsamen Mitarbeiter zum Verlassen des Unternehmens zu bewegen – von der Betriebsleitung aufgetragen worden, noch nutzten die Mitangeklagten ihnen durch ihre Stellung im Betrieb eingeräumte arbeitstechnische Machtbefugnisse zur Tatbegehung aus.
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist eine andere Bewertung auch nicht deshalb geboten, weil die Taten Bestandteil einer Serie wiederkehrender und sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckender Misshandlungen waren. Zwar wird die Betriebsbezogenheit solcher mit dem Begriff „Mobbing“ bezeichneter Tatserien bisweilen mit der Begründung bejaht, dass sich eine in der Betriebsgemeinschaft allgemein angelegte Gefahr verwirkliche, weil für solche Taten der abgegrenzte soziale Raum des Betriebes ohne ausreichende Ausweichmöglichkeiten für das um seinen Arbeitsplatz und damit seine wirtschaftliche Existenz fürchtende Opfer konstitutiv seien. Damit würde das Merkmal der Betriebsbezogenheit jedoch jedenfalls für Fälle wie den vorliegenden überdehnt. Die Gefahr auch wiederholter, unter Kollegen begangener Körperverletzungen besteht in jedem Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter, ist also keine gerade dem konkreten Betrieb – hier dem städtischen Bauhof – innewohnende Gefahr.
Auch ändert sich am Fehlen eines inneren Zusammenhangs zwischen dem Betrieb des Bauhofs bzw. dem Aufgabenbereich der Mitangeklagten und der Misshandlung des Geschädigten nichts dadurch, dass diese wiederholt begangen wurde. Insbesondere verlieren die Körperverletzungstaten hierdurch nicht ihren Charakter als Exzesstaten. Ließe man allein das iterative Moment für die Annahme der Betriebsbezogenheit ausreichen, würde die mit diesem Merkmal bezweckte und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG gebotene Einschränkung der Haftung des Geschäftsherrn aufgegeben und dieser im Ergebnis doch für eine insgesamt straffreie Lebensführung seiner Mitarbeiter während der Arbeitszeit verantwortlich gemacht.
2.) Dass das Landgericht eine Strafbarkeit gemäß § 357 StGB verneint hat, ist aus Rechtsgründen ebenfalls nicht zu beanstanden. Insofern gelten die Ausführungen zum fehlenden Zusammenhang zwischen dem Tätigkeitsbereich der Mitangeklagten und den zum Nachteil des Geschädigten begangenen Straftaten entsprechend.
3.) Der Freispruch hat jedoch keinen Bestand, weil das Landgericht eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB nicht geprüft, insoweit also seiner umfassenden Kognitionspflicht nicht genügt hat.
Anmerkung
1.) Die Existenz und die Grenzen der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung beschäftigen die Strafgerichte schon seit jeher.[1]. Die Begründung der Geschäftsherrenhaftung liegt dabei in der Organisationsmacht des Unternehmensinhabers bzw. der Unternehmensleitung sowie der Weisungsbefugnis von Führungskräften gegenüber untergeordneten Mitarbeitern. Durch gewichtige jüngere Entscheidungen gewinnt die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung nun immer stärker an Kontur. Den Startpunkt der neueren Rechtsprechung und des wissenschaftlichen Diskurses setzte die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH vom 17.7.2009.[2] Hiernach sind Unternehmensinhaber sowie – bei entsprechender Delegation – deren Leitungs- und Führungskräfte innerhalb ihres personalen Verantwortungsbereichs im Einzelfall als Garanten im Sinne des § 13 StGB zur Verhinderung von Straftaten durch Unternehmensmitarbeiter verpflichtet. In einem obiter dictum bemerkte der BGH in dieser Entscheidung zudem, dass insbesondere den Compliance Officer schon kraft seines Amtes regelmäßig eine strafrechtliche Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten aus dem Unternehmen zu Lasten Dritter treffe, was zu einem gewaltigen Echo in der Literatur führte.[3] Der VI. Zivilsenat des BGH entschied zudem, dass aber jedenfalls allein aus der Stellung als Geschäftsführer einer GmbH bzw. Mitglied des Vorstands einer AG sich noch keine grundsätzliche Garantenpflicht gegenüber außenstehenden Dritten ergebe, eine Schädigung ihres Vermögens zu verhindern.[4] Das OLG Braunschweig konkretisierte mit seiner Entscheidung vom 14.6.2012[5]zudem die Garantenpflichten von Aufsichtsratsmitgliedern.
2.) Der vorliegende, durch den 4. Strafsenat entschiedene Fall betrifft zwar das Phänomen des „Mobbings“ und damit strafrechtliche Verstöße im Binnenbereich eines Unternehmens, ist bei näherer Betrachtung aber gleichwohl für die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, die in der Regel im Verhältnis von Unternehmen zu unternehmensfremden Dritten diskutiert wird, von Bedeutung. Um sich der grundsätzlichen Bedeutung der vorliegenden Entscheidung für die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung zu nähern, ist deren Aussagegehalt zunächst differenzierter zu betrachten: Im vorliegenden Fall wurden innerhalb eines Unternehmens Straftaten von Mitarbeitern gegen Mitarbeiter begangen. Eine Unterlassensstrafbarkeit des Vorarbeiters aus einer Garantenstellung heraus kommt in einer solchen Konstellation, so klingt es in der Entscheidung jedenfalls an, zwar dem Grunde nach in Betracht, wenn dieser eine Stellung als „Beschützergarant“ innehat. Eine solche Stellung vermag der BGH in der vorliegenden Fallgestaltung aber jedenfalls nicht zu erkennen, weil der Vorarbeiter nicht der unmittelbare Vorgesetzte des gemobbten Mitarbeiters gewesen sei. Die im Umkehrschluss daran anschließenden Fragen, nämlich ob dann den unmittelbaren Vorgesetzten eine Beschützergarantenpflicht getroffen und welche Reichweite diese ggf. gehabt hätte, bleiben damit leider unbeantwortet. Der BGH lässt offen, ob sich eine Beschützergarantenstellung schon aus arbeitsvertraglichen Beziehungen ergeben kann. Eine Stellung als „Überwachergarant“ sieht der BGH hingegen im Hinblick auf den Vorarbeiter zwar grundsätzlich als naheliegend an, beschränkt im konkreten Fall dessen Verantwortungsbereich jedoch durch das Kriterium der Betriebsbezogenheit so restriktiv, dass er letztlich eine Garantenpflicht ablehnt.
3.) Die durch den BGH vorgenommene Einschränkung der Garantenstellung durch das Kriterium der Betriebsbezogenheit steht damit im Mittelpunkt der Betrachtung, da dieses grundsätzliche Bedeutung für die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung erlangt. Noch in der Entscheidung des 5. Strafsenats wurde die Stellung von Unternehmensverantwortlichen – und des Compliance-Officers – als Überwachergarant im Verhältnis zu unternehmensfremden Dritten grundsätzlich bejaht, ohne dass diese eine Einschränkung durch ein Erfordernis einer Betriebsbezogenheit erfahren hätte. Es liegt indes auf der Hand, dass dieses nun definierte Kriterium künftig nicht nur im Innenverhältnis, sondern ebenso im Verhältnis zu Dritten zu berücksichtigen sein wird. Die Struktur der Betriebsbezogenheit bleibt jedoch auch nach der Entscheidung des 4. Strafsenats unscharf. Betriebsbezogen ist eine Tat nach der Entscheidung des BGH dann, wenn sie einen „inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes“ aufweist. Die Voraussetzungen der Betriebsbezogenheit grenzt der Senat lediglich negativ ab, indem er zugunsten des Unternehmensinhabers solche Straftaten aus dem Anwendungsbereich ausnehmen möchte, die „nicht Ausfluss [der] seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten.“ Ebenso ausgeschlossen sollen „Exzesstaten“ sein. Diese wenig konkrete Abgrenzung lässt Raum für Interpretationen, da verschiedene Fallkonstellationen denkbar sind, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens begangen werden könnten. Es ist daher zu erwarten, dass diese Rechtsprechung weiter konkretisiert werden wird. Ganz offenbar versucht der BGH, die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung an die hiermit verbundene ordnungswidrigkeitenrechtliche (Unternehmens-)Haftung nach §§ 130, 30 OWiG anzugleichen. Naheliegend ist nach der Entscheidung des 4. Senats, dass sich die Rechtsprechung an den Kriterien orientieren wird, die im Rahmen des § 130 OWiG herangezogen werden, da auch diesbezügliche Anlasstaten betriebsbezogen sein müssen.
4.) Abschließend soll auf den konkreten Sachverhalt zurückgekommen werden: Den Vorarbeiter soll nach der Entscheidung des 4. Senats keine Garantenpflicht getroffen haben, obwohl er Kenntnis um die langjährigen Misshandlungen eines hierarchisch nachgeordneten Mitarbeiters hatte und diese sogar selbst miterlebte. Der BGH kommt überspitzt formuliert zu dem Ergebnis, dass das massive Mobbing am Arbeitsplatz nicht betriebsbezogen sei, weil der Mitarbeiter ja auch außerhalb des Betriebes durch seine Kollegen hätte gemobbt werden können. Die aufgestellten Kriterien der Betriebsbezogenheit werden durch den BGH vorliegend eng ausgelegt. Dabei scheint die Entscheidung durch den Gedanken getragen zu sein, anlässlich einer geeigneten Entscheidung eine als zu weit empfundene strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung wieder zu begrenzen. Dem Gerechtigkeitsgefühl sollte in der vorliegenden Konstellation im Ergebnis möglicherweise durch den Verweis auf § 323c StGB Rechnung getragen werden.