Besprechung von EuGH, Urteil vom 26.02.2013 – Rs. C-617/10 („Fransson“)
I. Sachverhalt und Fragestellungen[1]
Dem Beschuldigten des schwedischen Ausgangsverfahrens war mit Anklage der Staatsanwaltschaft vom Juli 2009 vorgeworfen worden, in seinen Steuererklärungen für die Steuerjahre 2004 und 2005 falsche Angaben gemacht zu haben, wodurch dem schwedischen Staat „beinahe“ Einnahmen bei der Einkommens- und der Mehrwertsteuer in Höhe von insgesamt SEK 626.776 (davon SEK 147.550 Mehrwertsteuer) entgangen wären. Wegen dieser unzureichend ausgefüllten Steuererklärungen waren ihm bereits mit Bescheid der Steuerverwaltung vom 24. Mai 2007 zu verzinsende Steuerzuschläge in Höhe von insgesamt SEK 97.909 (davon SEK 8.127 für die Mehrwertsteuer) auferlegt worden. Diese Bescheide waren zum Zeitpunkt der Anklageerhebung rechtskräftig geworden.
Der EuGH hatte auf Vorlagefrage des schwedischen Strafgerichts (Haparanda tingsrätt u.a.) zu entscheiden, ob die Anklage bereits deswegen unzulässig sei, weil der Beschuldigte bereits in einem anderen Verfahren wegen derselben Tat bestraft worden war und ein Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 50 der EU-Grundrechtecharta (GRC) verstieße (dazu II.2.). Als Vorfrage war zu klären, ob in einer derartigen Konstellation die Grundrechtecharta überhaupt Anwendung finden konnte (dazu II.1.).
II. Kernaussagen des EuGH und Folgerungen
1. Zur Auslegung von 51 GRC
a) Problemaufriss
Angesichts der prima facie rein nationalen Dimension des der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalts erschließt sich zunächst nicht ohne weiteres, welche Bedeutung der Grundrechtecharta als europäischem Primärrecht zukommen soll. Da es weder um die Anwendung europäischer Regelungen des Verfahrensrechts oder materiellen Rechts noch um die Auslegung auf europäische Vorgaben zurückgehenden nationalen Rechts ging, mutet es in der Tat seltsam an, dass der EuGH hier i.S.v. Art. 267 AEUV überhaupt auslegungszuständig sein soll.[2] In der Tat sind gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC die Mitgliedstaaten nur „bei der Durchführung des Rechts der Union“ an die Charta gebunden. Der Streit um die Auslegung dieser Formulierung kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden,[3] zumal die Problematik bisher im Zusammenhang mit dem Doppelverfolgungsverbot aus Art. 50 GRC allein an Hand transnationaler Sachverhalte diskutiert wurde.[4] Erwähnt sei nur, dass die Unklarheiten letztlich daraus resultieren, dass der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung die Unionsgrundrechte schon dann als einschlägig erachtete, wenn ein Sachverhalt in den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ fiel.[5] Während aber nunmehr der Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 GRC in der Tat für ein engeres Verständnis zu streiten scheint, sprechen die Erläuterungen zur Charta eher für eine Fortführung der bisherigen Auslegungspraxis des EuGH.[6]
b) Aussagen des EuGH
Ohne sich näher mit dem engen Wortlaut von Art. 51 GRC oder dem gegenläufigen Votum des Generalanwalts auseinanderzusetzen, gibt der EuGH zu verstehen, dass er seine extensive Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der europäischen Grundrechte auch unter der Geltung der Grundrechtecharta fortsetzen will. Es reiche demnach aus, dass „eine rechtliche Situation“ vom Unionsrecht erfasst werde. Dies sei im Bereich der Mehrwertsteuerhinterziehung der Fall. Der Gerichtshof verweist insoweit zunächst auf Art. 2, 250 Abs. 1, 273 der Dritten Mehrwertsteuerrichtlinie[7], die die Mitgliedstaaten anhalten, eine Steuererklärungspflicht sowie weitere Pflichten zur „Vermeidung“ von Steuerhinterziehung vorzusehen. Des Weiteren sei die Pflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 325 AEUV zu beachten, die Finanzinteressen der Union wirksam vor Betrügereien zu schützen. Diese Interessen seien in jedem Fall der Umsatzsteuerhinterziehung berührt, da sich – über die Mehrwertsteuer-Eigenmittel[8] – ein Zusammenhang zwischen der Mehrwertsteuererhebung durch die Mitgliedstaaten und der Abführung der Eigenmittel an die Union ergebe.
c) Folgerungen
Der – apodiktisch begründete – weite Auslegungsansatz des Gerichtshofs führt zu einer Reihe problematischer Folgefragen, die hier nur angerissen werden sollen. In erster Linie wird man den Ansatz des EuGH in Frage stellen können, die „Durchführung des Unionsrechts“ im Fall eines verfahrensrechtlichen Grundrechts wie Art. 50 GRC allein nach dem materiellen Recht zu bestimmten, welches dem Tatvorwurf zu Grunde liegt. Nimmt man diese Sichtweise ernst, so werden innerhalb eines Verfahrens verschiedene prozessuale Grundrechtsordnungen zu beachten sein, je nachdem, ob der materielle Straftatbestand in den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ fällt. Unsicher ist freilich, ob der EuGH nicht gar noch einen Schritt weiter gehen würde. Denn er begründet für das Ausgangsverfahren die Anwendbarkeit der Charta für das gesamte Verfahren allein mit den europarechtlichen Vorgaben zur Erhebung der Mehrwertsteuer (die wohlgemerkt keinen steuerstrafrechtlichen Inhalt haben!), obwohl die hinterzogene Mehrwertsteuer nur einen geringen Bruchteil des gesamten Steuerschadens ausmachte. An dieser Stelle wird also deutlich, dass es für die Anwendbarkeit der Charta auf einen prozessualen Gesamtkomplex bereits ausreichen dürfte, wenn ein (nicht ganz unerheblicher?) Teil des Tatvorwurfs einen Berührungspunkt zu materiell-rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts aufweist.
Jedenfalls wird durch diese weite Auslegung ein weiter Anwendungsbereich für die strafverfahrensrechtlichen Grundrechte nach Art. 47 ff. GRC eröffnet. Erfasst werden zunächst Tatvorwürfe aus dem Bereich der „europäischen“ Kriminalitätsbereiche nach Art. 83 AEUV (Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität). Geht man vom nun entschiedenen Fall aus, wird dies auch unabhängig davon zu gelten haben, ob der konkrete Tatbestand auf unionsrechtliche Vorgaben zurückgeht, oder davon, ob der zu Grunde liegende Sachverhalt eine transnationale Komponente aufweist. Dadurch, dass der EuGH aber auch ausreichen lässt, dass lediglich die dem Straftatbestand vorgelagerte Primärrechtsmaterie unionsrechtlich determiniert ist, dürften beispielsweise auch Delikte aus dem Bereich des Wettbewerbs-, Wertpapier-, Umwelt-, Urheber- oder Lebensmittelstrafrechts[9] erfasst sein. Schließlich ist an Verstöße gegen originäre Unionsinteressen zu denken. Dies betrifft in erster Linie die in Art. 325 AEUV angesprochenen Finanzinteressen, die nicht nur durch die Hinterziehung von Mehrwertsteuer, sondern beispielsweise auch durch die Veruntreuung von Unionsgeldern, Subventionsbetrug bei Unionsbeihilfen usw. beeinträchtigt werden können.
2. Zum Begriff der „Strafe“
a) Problemaufriss
Das in Art. 50 GRC festgeschriebene Verbot doppelter Strafverfolgung hat in letzter Zeit eine zuvor nur selten wahrgenommene Relevanz in Zusammenhang mit der Internationalisierung des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechts erlangt. Während eine übermäßige Doppelbestrafung schon früh vor allem im Bereich der Sanktionierung von Kartellrechtsverstößen thematisiert wurde, sehen sich Unternehmen spätestens seit Inkrafttreten des UK Bribery Acts mit seinem weiten territorialen Anwendungsbereich auch im Falle von (aktiven) Bestechungshandlungen eigener Mitarbeiter ganz konkret mit der Gefahr einer mehrfachen Sanktionierung auf Grundlage verschiedener Rechtsordnungen konfrontiert.[10]
Bei Fällen mit „deutscher Beteiligung“ ist hier – mangels Unternehmensstrafrechts i.e.S. – an Fälle zu denken, in denen gegen Unternehmen eine Geldbuße verhängt oder der Drittverfall angeordnet wird, nachdem es bereits zu ähnlichen Maßnahmen in anderen europäischen Ländern gekommen war. Die Rechtsprechung stand einer Berücksichtigung ausländischer Gewinnabschöpfungsmaßnahmen bei Entscheidungen nach § 73 Abs. 3 StGB bwz. § 29a OWiG bisher freilich eher ablehnend gegenüber. So lehnte der 4. Strafsenat des BGH[11] die Anrechnung einer Verfallsanordnung nach schweizerischem Strafrecht im Rahmen von § 51 Abs. 3 StGB ab und verwies auf die Härtefallklausel des § 73c StGB. Da die Schweiz zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht dem Schengen-Raum beigetreten war, blieb allerdings das transnationale Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ (als Vorgängernorm von Art. 50 GRC) ungeprüft, so dass die Entscheidung für die hier interessierende Materie ohne weitere Aussagekraft ist. Anders verhält es sich mit dem Urteil des LG Darmstadt[12] in der Causa „Siemens/Enel“. Hier verneinte die sachverständig beratene Kammer eine auf Art. 54 SDÜ basierende Sperrwirkung einer Gewinnabschöpfungsmaßnahme des italienischen Strafrechts. Der Verfall nach italienischem Strafrecht sei weder Haupt- noch Nebenstrafe, sondern eine kondiktionsartige, sachbezogene Nebenfolge der Tat mit präventiver Wirkung. Die Vornahme eines solchen Ausgleichs führe auch nicht zu einer Wechselwirkung mit der Strafhöhe. Diese Begründung entspricht Stellungnahmen in der Literatur, in denen unter Verweis auf die Rechtsprechung zum fehlenden Strafcharakter des Verfalls[13] die Anwendbarkeit von Art. 54 SDÜ in Fällen des Drittverfalls abgelehnt wird.[14] Da sich der BGH in seiner Revisionsentscheidung wegen des Wegfalls der Anknüpfungstat zu dieser Rechtsfrage nicht äußern musste, harrt die Frage – auch nach Einfügung von Art. 50 GRC – weiter einer abschließenden Klärung.
b) Aussagen des EuGH
Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass Art. 50 GRC den Mitgliedstaaten im Grundsatz nicht verbiete, straf- und verwaltungsrechtliche Sanktionen zu kombinieren. Auch bei der Gewährleistung des Schutzes der finanziellen Interessen der Union könnten die Staaten die anwendbare Sanktion frei wählen. Es könne sich dabei um eine verwaltungsrechtliche oder eine strafrechtliche Sanktion oder um eine Kombination beider Sanktionsarten handeln.[15] Die vom Gerichtshof zitierten Urteile verhielten sich freilich mitnichten zur einer möglichen Doppelverfolgung, sondern stellten lediglich fest, dass die Mitgliedstaaten zum Schutze von Unionsinteressen auch nicht-strafrechtliche Sanktionen vorsehen dürfen, solange diese nur wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind. Die Äußerungen des Gerichtshofs werden jedoch vor dem Hintergrund der Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón etwas verständlicher. Dieser hatte eine Kombination von verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen des nationalen Rechts ebenfalls als zulässig angesehen, soweit dem letztentscheidenden Gericht eine Berücksichtigung der ersten Sanktion möglich sei.[16] Diese Begründung ist freilich insoweit etwas schief, als sie die Frage einer möglichen Doppelbestrafung mit der Problematik des erforderlichen Schutzniveaus beim Schutz von Unionsinteressen bzw. der zulässigen Eingriffstiefe bei Kumulation mehrerer Sanktion vermengt. Die Frage der Übermäßigkeit einer nochmaligen Sanktionierung wäre dementsprechend wohl eher im Rahmen von Art. 49 Abs. 3 GRC (Verhältnismäßigkeit bei Bestrafung) zu berücksichtigen.
Etwas unvermittelt führt der Gerichtshof dann weiter aus, eine Kumulation verstoße jedoch dann gegen Art. 50 GRC, wenn die (scil. nach nationalem Recht als solche einzuordnende) verwaltungsrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter im Sinne der Charta habe. Bei der Beurteilung des strafrechtlichen Charakters einer Sanktion seien folgende Kriterien heranzuziehen: (1) die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, (2) die Art der Zuwiderhandlung und (3) die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion.[17] Diese Aussage dürfte zwar für sich gesehen kaum weiterhelfen (Gelten die Kriterien kumulativ oder alternativ? Welche „Arten“ von Zuwiderhandlungen oder Sanktionen sind „strafrechtlich“?). Jedoch bezieht sich der EuGH insoweit auf sein wenige Monate zuvor ergangenes Urteil in der Rechtssache „Bonda“[18]. Dort hatte der Gerichtshof entschieden, dass dem Ausschluss und der Kürzung von landwirtschaftlichen Beihilfezahlungen gemäß Art. 138 Abs. 1 VO (EG) 1937/2004 kein strafrechtlicher Charakter zukomme. Dies wird in der nunmehr vom Gerichtshof in Bezug genommenen Passage mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Doppelbestrafungsverbot im Sinne von Art. 4 des 7. Protokolls zur EMRK begründet. In der Tat legt der EGMR im Rahmen seiner autonomen Auslegung der EMRK den Begriff der „Bestrafung“ dort – wie auch bei den übrigen Konventionsvorschriften[19] – nach den sogenannten Engel-Kriterien aus[20]: So berücksichtigt er zunächst die Einordnung der Sanktion im nationalen Recht. Wie die Bundesrepublik freilich erst im Rahmen der konventionsrechtlichen Beurteilung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfahren hat,[21] soll es sich hierbei aber nur um ein Indiz bzw. den Ausgangspunkt der weiteren Prüfung handeln. Das weitere Kriterium der „Art der Zuwiderhandlung“ dient vor allem der Abgrenzung zum öffentlichen Disziplinarrecht und hat keine besondere darüber hinausgehende praktische Bedeutung erlangt. Schließlich stellt der EGMR auf die Art und den Schweregrad der angedrohten Sanktion ab. Soweit eine Sanktion (auch) bestrafen und abschrecken will, ist sie strafrechtlicher Natur. Rein präventiv ausgerichtete Maßnahmen (z.B. des Polizeirechts) stellen demnach keine strafrechtlichen Sanktionen im konventionsrechtlichen Sinne dar, während allein die mit jeder Sanktion verfolgten general- und spezialpräventiven Zwecksetzungen dem strafrechtlichen Charakter einer Sanktion nicht entgegenstehen.
c) Folgerungen
Aus dem Verweis des EuGH auf diese Rechtsprechung des EGMR lassen sich nun gleich mehrere Schlussfolgerungen ziehen: Zunächst soll der Begriff der „Bestrafung“ i.S.v. Art. 50 GRC autonom, d.h. losgelöst von den Kategorien des nationalen Rechts auszulegen sein. Dieser Ansatz entspricht der Methodik bei der Auslegung der anderen Begriffe des Art. 50 GRC/Art. 54 SDÜ („Tat“, „rechtskräftige Verurteilung“), wo der Gerichtshof die rechtlichen Begrifflichkeiten des Erstverfolgerstaates ebenfalls nur als Ausgangspunkt heranzieht.[22] Die Anbindung an den Strafbegriff der EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR führt weiter dazu, dass die Begriffe des „Strafverfahrens“ und der „Bestrafung“ im Sinne von Art. 50 GRC in einem weiten, über das Kriminalstrafrecht i.e.S. hinausgehenden Sinne zu verstehen sind,[23] wobei der EuGH den nationalen Gerichten insoweit eine Einschätzungsprärogative bezüglich der Rechtsnatur einzelner Sanktionen einräumen zu wollen scheint.
Auch wenn die jetzige weite Auslegung bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den – bisher als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts geltenden – strafrechtlichen Verfahrensgarantien in gewissem Umfang vorgezeichnet war,[24] bedarf der unbesehene Rückgriff auf die Auslegungspraxis des EGMR doch einer kritischen Überprüfung. Zuzugeben ist zunächst, dass dieses methodische Vorgehen bei vordergründiger Betrachtung mit Art. 52 Abs. 3 GRC in Einklang steht, wonach die durch die Charta gewährten Grundrechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie in der EMRK haben, soweit sie einem durch die Konvention garantierten Recht entsprechen. Auch verweisen die vom Konvent angenommenen amtlichen Erläuterungen zu Art. 50 GRC ausdrücklich auf die konventionsrechtliche Gewährleistung von ne-bis-in-idem.[25] Dennoch sind leichte Zweifel an der vorbehaltlosen Inbezugnahme der Rechtsprechung des EGMR anzumelden. Zum einen betrifft Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls nur das innerstaatliche ne-bis-in-idem. Man wird jedoch wohl davon ausgehen können, dass der EuGH keine „gespaltene Auslegung“ von Art. 50 GRC – je nachdem, ob ein rein nationaler oder ein zwischenstaatlicher Sachverhalt vorliegt – vornehmen wird und dementsprechend auch in transnationalen Konstellationen den weiten Strafbegriff des EGMR anwenden wird.[26] Zum anderen – und hierauf hatte bereits der Generalanwalt in aller Ausführlichkeit hingewiesen[27] – zählt selbst das innerstaatliche ne-bis-in-idem keineswegs zum Kerngehalt der durch die EMRK garantierten Rechte. Gerade die vorliegende Konstellation der Parallelität bzw. Kumulation von verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen ist im innerstaatlichen Recht der meisten Unionsstaaten anzutreffen.[28] Es verwundert dann nicht, dass viele EU-Mitgliedstaaten sich in diesem Bereich ungern den Determinanten der Rechtsprechung des EGMR unterwerfen wollten. Dementsprechend wurde das 7. Zusatzprotokoll von einer Reihe von Staaten (u.a. Deutschland) bisher nicht bzw. nur unter Abgabe von einschränkenden Vorbehalten und Erklärungen ratifiziert.[29]
d) Geltung für Unternehmenssanktionen des deutschen Rechts?
Auf Grundlage der Ansicht des EuGH stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, wie die beschriebenen Unternehmenssanktionen des deutschen Rechts in diesem Kontext einzuordnen sind.
Nach der Rechtsprechung des EGMR sind Geldbußen nach dem OWiG als „strafrechtlich“ im Sinne der Konvention einzuordnen.[30] Auch die Sanktionen des OWiG wollten sowohl ahnden als auch abschrecken. Dass sie daneben auch präventive Zwecke verfolgten, sei insoweit unschädlich. Diese Erwägungen lassen sich grunsätzlich ohne weiteres auf die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG übertragen. Auch diese verfolgt sowohl präventive wie auch repressive Zwecke und unterscheidet sich im Hinblick auf ihre Zielrichtung nicht von der Kriminalstrafe.[31]
Schwieriger gestaltet sich freilich die Einordnung des (Dritt-)Verfalls, der – wie gesehen (s. oben II.2.a)) – vielfach auf Grund seiner präventiven Zielrichtung nicht als „Strafe“ i.S.v. Art. 50 GRC angesehen wird. Tatsächlich hat auch der EuGH[32] insbesondere im Zusammenhang mit der Rückabwicklung unionsrechtswidriger Beihilfen mehrmals entschieden, dass restitutiv ausgerichteten Maßnahmen kein Strafcharakter zukomme. Dies gelte vor allem dann, wenn und weil sich der Betroffene dem Beihilfeverfahren freiwillig unterworfen habe. Mit derartigen Fallgestaltungen ist der Verfall, der sich auf jeden rechtswidrig erlangten Vermögensvorteil bezieht, nun offenkundig nur sehr bedingt vergleichbar, zumal er sich jedenfalls unter Geltung des Bruttoprinzips ohnehin schwerlich als rein kondiktionsähnliches Instrument begreifen lässt. Daneben hat der EGMR in einer bisher in Deutschland kaum rezipierten (wohl weil nicht übersetzten) Entscheidung die Beschlagnahme eines illegal errichteten Bauwerks auf Grundlage eines italienischen Baugesetzes als Strafe im konventionsrechtlichen Sinne eingeordnet.[33] Diese Beurteilung wurde insbesondere darauf gestützt, dass die Maßnahme – und hier werden die Parallelen zum Verfall augenscheinlich – anlässlich einer Straftat und im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet worden war.
Der Anwendbarkeit des Doppelbestrafungsverbots auf Unternehmen steht des Weiteren auch deren Eigenschaft als juristische Person bzw. nicht rechtsfähiger Personenverband nicht entgegen.[34] So ist in der Rechtsprechung des EuGH[35] wie auch in der Literatur[36] weithin anerkannt, dass juristische Personen und Personenverbände im Grundsatz durchaus Träger der Grundrechte der Charta sein können, soweit nicht ein Grundrecht (wie z.B. die Menschenwürde, Art. 1 GRC) eindeutig allein auf natürliche Personen bezogen ist. Angesichts der anerkannten Möglichkeit einer strafrechtlichen (i.w.S.) Verantwortlichkeit von Unternehmen und der damit verbundenen Gefahr einer Doppelbestrafung ist von der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Art. 50 GRC auszugehen,[37] zumal auch der Wortlaut der Charta in den verschiedenen Sprachfassungen insoweit offen ist („niemand“, „no one“, „nul“, „nessuno“). Noch ungeklärt ist schließlich, ob der Anwendungsbereich von Art. 50 GRC auch zu Gunsten von nicht formell beschuldigten Drittbeteiligten eröffnet ist. Immerhin setzt schon der Normwortlaut voraus, dass der Betroffene im Erstverfahren „verurteilt“ und nun erneut „verfolgt“ wird. Dennoch muss derjenige, den eine „Strafe“ im Sinne der Charta trifft, im zugrunde liegenden Verfahren nicht zwangsläufig die Stellung eines Beschuldigten i.S.d. StPO innehaben. So ist auch im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK durchaus anerkannt, dass sich über den Wortlaut hinaus nicht nur Angeklagte im formellen Sinne, sondern auch nebenbeteiligte Personenverbände auf die dort normierten Rechten eines „Angeklagten“ berufen können.[38]
Zusammenfassend spricht angesichts der engen Anbindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR zum Strafbegriff der EMRK viel dafür, dass sowohl die Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG als auch der (Dritt-)Verfall nach § 73 Abs. 3 StGB bzw. § 29a OWiG als in einem „Strafverfahren“ verhängte „Strafe“ i.S.v. Art. 50 GRC einzuordnen ist.
III. Ergebnis
1. Eine „Durchführung des Rechts der Union“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC liegt dann vor, wenn ein Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Konkret sind die strafrechtlichen Verfahrensgrundrechte der EU-Grundrechtecharta (Art. 47 ff. GRC) bereits dann in einem nationalen Strafverfahren von Bedeutung, wenn das – auch nur einem Teil des Tatvorwurfs – zu Grunde liegende materielle Recht einen unionsrechtlichen Berührungspunkt aufweist. Dies ist nicht nur bei Kriminalitätsfeldern der Fall, die Gegenstand strafrechtlicher Harmonisierungsaktivitäten auf Unionsebene waren oder sein können. Ausreichend ist in diesem Kontext vielmehr auch, dass die einer Strafvorschrift vorgelagerte außerstrafrechtliche Primärrechtsmaterie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
2. Die Begriffe der „Strafe“ und des „Strafverfahrens“ i.S.v. Art. 50 GRC sind im Sinne der Auslegung des autonomen konventionsrechtlichen Strafbegriffs durch den EGMR zu bestimmen. Im Bereich der Unternehmenssanktionen führt dies dazu, dass die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG als „Strafe“ anzusehen ist. Gleiches dürfte für den (Dritt-)Verfall nach § 73 Abs. 3 StGB bzw. § 29a OWiG gelten. In den vielfach diskutierten Fällen der doppelten Sanktionierung oder doppelten Gewinnabschöpfung bei Unternehmen infolge von Bestechungshandlungen (beispielsweise nach dem UK Bribery Act und deutschem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht) wird daher ein zweites, auf den gleichen Sachverhalt aufbauendes Verfahren gemäß Art. 50 GRC unzulässig sein.
[:en]
I. Sachverhalt und Fragestellungen[1]
Dem Beschuldigten des schwedischen Ausgangsverfahrens war mit Anklage der Staatsanwaltschaft vom Juli 2009 vorgeworfen worden, in seinen Steuererklärungen für die Steuerjahre 2004 und 2005 falsche Angaben gemacht zu haben, wodurch dem schwedischen Staat „beinahe“ Einnahmen bei der Einkommens- und der Mehrwertsteuer in Höhe von insgesamt SEK 626.776 (davon SEK 147.550 Mehrwertsteuer) entgangen wären. Wegen dieser unzureichend ausgefüllten Steuererklärungen waren ihm bereits mit Bescheid der Steuerverwaltung vom 24. Mai 2007 zu verzinsende Steuerzuschläge in Höhe von insgesamt SEK 97.909 (davon SEK 8.127 für die Mehrwertsteuer) auferlegt worden. Diese Bescheide waren zum Zeitpunkt der Anklageerhebung rechtskräftig geworden.
Der EuGH hatte auf Vorlagefrage des schwedischen Strafgerichts (Haparanda tingsrätt u.a.) zu entscheiden, ob die Anklage bereits deswegen unzulässig sei, weil der Beschuldigte bereits in einem anderen Verfahren wegen derselben Tat bestraft worden war und ein Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 50 der EU-Grundrechtecharta (GRC) verstieße (dazu II.2.). Als Vorfrage war zu klären, ob in einer derartigen Konstellation die Grundrechtecharta überhaupt Anwendung finden konnte (dazu II.1.).
II. Kernaussagen des EuGH und Folgerungen
1. Zur Auslegung von 51 GRC
a) Problemaufriss
Angesichts der prima facie rein nationalen Dimension des der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalts erschließt sich zunächst nicht ohne weiteres, welche Bedeutung der Grundrechtecharta als europäischem Primärrecht zukommen soll. Da es weder um die Anwendung europäischer Regelungen des Verfahrensrechts oder materiellen Rechts noch um die Auslegung auf europäische Vorgaben zurückgehenden nationalen Rechts ging, mutet es in der Tat seltsam an, dass der EuGH hier i.S.v. Art. 267 AEUV überhaupt auslegungszuständig sein soll.[2] In der Tat sind gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC die Mitgliedstaaten nur „bei der Durchführung des Rechts der Union“ an die Charta gebunden. Der Streit um die Auslegung dieser Formulierung kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden,[3] zumal die Problematik bisher im Zusammenhang mit dem Doppelverfolgungsverbot aus Art. 50 GRC allein an Hand transnationaler Sachverhalte diskutiert wurde.[4] Erwähnt sei nur, dass die Unklarheiten letztlich daraus resultieren, dass der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung die Unionsgrundrechte schon dann als einschlägig erachtete, wenn ein Sachverhalt in den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ fiel.[5] Während aber nunmehr der Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 GRC in der Tat für ein engeres Verständnis zu streiten scheint, sprechen die Erläuterungen zur Charta eher für eine Fortführung der bisherigen Auslegungspraxis des EuGH.[6]
b) Aussagen des EuGH
Ohne sich näher mit dem engen Wortlaut von Art. 51 GRC oder dem gegenläufigen Votum des Generalanwalts auseinanderzusetzen, gibt der EuGH zu verstehen, dass er seine extensive Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der europäischen Grundrechte auch unter der Geltung der Grundrechtecharta fortsetzen will. Es reiche demnach aus, dass „eine rechtliche Situation“ vom Unionsrecht erfasst werde. Dies sei im Bereich der Mehrwertsteuerhinterziehung der Fall. Der Gerichtshof verweist insoweit zunächst auf Art. 2, 250 Abs. 1, 273 der Dritten Mehrwertsteuerrichtlinie[7], die die Mitgliedstaaten anhalten, eine Steuererklärungspflicht sowie weitere Pflichten zur „Vermeidung“ von Steuerhinterziehung vorzusehen. Des Weiteren sei die Pflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 325 AEUV zu beachten, die Finanzinteressen der Union wirksam vor Betrügereien zu schützen. Diese Interessen seien in jedem Fall der Umsatzsteuerhinterziehung berührt, da sich – über die Mehrwertsteuer-Eigenmittel[8] – ein Zusammenhang zwischen der Mehrwertsteuererhebung durch die Mitgliedstaaten und der Abführung der Eigenmittel an die Union ergebe.
c) Folgerungen
Der – apodiktisch begründete – weite Auslegungsansatz des Gerichtshofs führt zu einer Reihe problematischer Folgefragen, die hier nur angerissen werden sollen. In erster Linie wird man den Ansatz des EuGH in Frage stellen können, die „Durchführung des Unionsrechts“ im Fall eines verfahrensrechtlichen Grundrechts wie Art. 50 GRC allein nach dem materiellen Recht zu bestimmten, welches dem Tatvorwurf zu Grunde liegt. Nimmt man diese Sichtweise ernst, so werden innerhalb eines Verfahrens verschiedene prozessuale Grundrechtsordnungen zu beachten sein, je nachdem, ob der materielle Straftatbestand in den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ fällt. Unsicher ist freilich, ob der EuGH nicht gar noch einen Schritt weiter gehen würde. Denn er begründet für das Ausgangsverfahren die Anwendbarkeit der Charta für das gesamte Verfahren allein mit den europarechtlichen Vorgaben zur Erhebung der Mehrwertsteuer (die wohlgemerkt keinen steuerstrafrechtlichen Inhalt haben!), obwohl die hinterzogene Mehrwertsteuer nur einen geringen Bruchteil des gesamten Steuerschadens ausmachte. An dieser Stelle wird also deutlich, dass es für die Anwendbarkeit der Charta auf einen prozessualen Gesamtkomplex bereits ausreichen dürfte, wenn ein (nicht ganz unerheblicher?) Teil des Tatvorwurfs einen Berührungspunkt zu materiell-rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts aufweist.
Jedenfalls wird durch diese weite Auslegung ein weiter Anwendungsbereich für die strafverfahrensrechtlichen Grundrechte nach Art. 47 ff. GRC eröffnet. Erfasst werden zunächst Tatvorwürfe aus dem Bereich der „europäischen“ Kriminalitätsbereiche nach Art. 83 AEUV (Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität). Geht man vom nun entschiedenen Fall aus, wird dies auch unabhängig davon zu gelten haben, ob der konkrete Tatbestand auf unionsrechtliche Vorgaben zurückgeht, oder davon, ob der zu Grunde liegende Sachverhalt eine transnationale Komponente aufweist. Dadurch, dass der EuGH aber auch ausreichen lässt, dass lediglich die dem Straftatbestand vorgelagerte Primärrechtsmaterie unionsrechtlich determiniert ist, dürften beispielsweise auch Delikte aus dem Bereich des Wettbewerbs-, Wertpapier-, Umwelt-, Urheber- oder Lebensmittelstrafrechts[9] erfasst sein. Schließlich ist an Verstöße gegen originäre Unionsinteressen zu denken. Dies betrifft in erster Linie die in Art. 325 AEUV angesprochenen Finanzinteressen, die nicht nur durch die Hinterziehung von Mehrwertsteuer, sondern beispielsweise auch durch die Veruntreuung von Unionsgeldern, Subventionsbetrug bei Unionsbeihilfen usw. beeinträchtigt werden können.
2. Zum Begriff der „Strafe“
a) Problemaufriss
Das in Art. 50 GRC festgeschriebene Verbot doppelter Strafverfolgung hat in letzter Zeit eine zuvor nur selten wahrgenommene Relevanz in Zusammenhang mit der Internationalisierung des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechts erlangt. Während eine übermäßige Doppelbestrafung schon früh vor allem im Bereich der Sanktionierung von Kartellrechtsverstößen thematisiert wurde, sehen sich Unternehmen spätestens seit Inkrafttreten des UK Bribery Acts mit seinem weiten territorialen Anwendungsbereich auch im Falle von (aktiven) Bestechungshandlungen eigener Mitarbeiter ganz konkret mit der Gefahr einer mehrfachen Sanktionierung auf Grundlage verschiedener Rechtsordnungen konfrontiert.[10]
Bei Fällen mit „deutscher Beteiligung“ ist hier – mangels Unternehmensstrafrechts i.e.S. – an Fälle zu denken, in denen gegen Unternehmen eine Geldbuße verhängt oder der Drittverfall angeordnet wird, nachdem es bereits zu ähnlichen Maßnahmen in anderen europäischen Ländern gekommen war. Die Rechtsprechung stand einer Berücksichtigung ausländischer Gewinnabschöpfungsmaßnahmen bei Entscheidungen nach § 73 Abs. 3 StGB bwz. § 29a OWiG bisher freilich eher ablehnend gegenüber. So lehnte der 4. Strafsenat des BGH[11] die Anrechnung einer Verfallsanordnung nach schweizerischem Strafrecht im Rahmen von § 51 Abs. 3 StGB ab und verwies auf die Härtefallklausel des § 73c StGB. Da die Schweiz zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht dem Schengen-Raum beigetreten war, blieb allerdings das transnationale Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ (als Vorgängernorm von Art. 50 GRC) ungeprüft, so dass die Entscheidung für die hier interessierende Materie ohne weitere Aussagekraft ist. Anders verhält es sich mit dem Urteil des LG Darmstadt[12] in der Causa „Siemens/Enel“. Hier verneinte die sachverständig beratene Kammer eine auf Art. 54 SDÜ basierende Sperrwirkung einer Gewinnabschöpfungsmaßnahme des italienischen Strafrechts. Der Verfall nach italienischem Strafrecht sei weder Haupt- noch Nebenstrafe, sondern eine kondiktionsartige, sachbezogene Nebenfolge der Tat mit präventiver Wirkung. Die Vornahme eines solchen Ausgleichs führe auch nicht zu einer Wechselwirkung mit der Strafhöhe. Diese Begründung entspricht Stellungnahmen in der Literatur, in denen unter Verweis auf die Rechtsprechung zum fehlenden Strafcharakter des Verfalls[13] die Anwendbarkeit von Art. 54 SDÜ in Fällen des Drittverfalls abgelehnt wird.[14] Da sich der BGH in seiner Revisionsentscheidung wegen des Wegfalls der Anknüpfungstat zu dieser Rechtsfrage nicht äußern musste, harrt die Frage – auch nach Einfügung von Art. 50 GRC – weiter einer abschließenden Klärung.
b) Aussagen des EuGH
Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass Art. 50 GRC den Mitgliedstaaten im Grundsatz nicht verbiete, straf- und verwaltungsrechtliche Sanktionen zu kombinieren. Auch bei der Gewährleistung des Schutzes der finanziellen Interessen der Union könnten die Staaten die anwendbare Sanktion frei wählen. Es könne sich dabei um eine verwaltungsrechtliche oder eine strafrechtliche Sanktion oder um eine Kombination beider Sanktionsarten handeln.[15] Die vom Gerichtshof zitierten Urteile verhielten sich freilich mitnichten zur einer möglichen Doppelverfolgung, sondern stellten lediglich fest, dass die Mitgliedstaaten zum Schutze von Unionsinteressen auch nicht-strafrechtliche Sanktionen vorsehen dürfen, solange diese nur wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind. Die Äußerungen des Gerichtshofs werden jedoch vor dem Hintergrund der Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón etwas verständlicher. Dieser hatte eine Kombination von verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen des nationalen Rechts ebenfalls als zulässig angesehen, soweit dem letztentscheidenden Gericht eine Berücksichtigung der ersten Sanktion möglich sei.[16] Diese Begründung ist freilich insoweit etwas schief, als sie die Frage einer möglichen Doppelbestrafung mit der Problematik des erforderlichen Schutzniveaus beim Schutz von Unionsinteressen bzw. der zulässigen Eingriffstiefe bei Kumulation mehrerer Sanktion vermengt. Die Frage der Übermäßigkeit einer nochmaligen Sanktionierung wäre dementsprechend wohl eher im Rahmen von Art. 49 Abs. 3 GRC (Verhältnismäßigkeit bei Bestrafung) zu berücksichtigen.
Etwas unvermittelt führt der Gerichtshof dann weiter aus, eine Kumulation verstoße jedoch dann gegen Art. 50 GRC, wenn die (scil. nach nationalem Recht als solche einzuordnende) verwaltungsrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter im Sinne der Charta habe. Bei der Beurteilung des strafrechtlichen Charakters einer Sanktion seien folgende Kriterien heranzuziehen: (1) die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, (2) die Art der Zuwiderhandlung und (3) die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion.[17] Diese Aussage dürfte zwar für sich gesehen kaum weiterhelfen (Gelten die Kriterien kumulativ oder alternativ? Welche „Arten“ von Zuwiderhandlungen oder Sanktionen sind „strafrechtlich“?). Jedoch bezieht sich der EuGH insoweit auf sein wenige Monate zuvor ergangenes Urteil in der Rechtssache „Bonda“[18]. Dort hatte der Gerichtshof entschieden, dass dem Ausschluss und der Kürzung von landwirtschaftlichen Beihilfezahlungen gemäß Art. 138 Abs. 1 VO (EG) 1937/2004 kein strafrechtlicher Charakter zukomme. Dies wird in der nunmehr vom Gerichtshof in Bezug genommenen Passage mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Doppelbestrafungsverbot im Sinne von Art. 4 des 7. Protokolls zur EMRK begründet. In der Tat legt der EGMR im Rahmen seiner autonomen Auslegung der EMRK den Begriff der „Bestrafung“ dort – wie auch bei den übrigen Konventionsvorschriften[19] – nach den sogenannten Engel-Kriterien aus[20]: So berücksichtigt er zunächst die Einordnung der Sanktion im nationalen Recht. Wie die Bundesrepublik freilich erst im Rahmen der konventionsrechtlichen Beurteilung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfahren hat,[21] soll es sich hierbei aber nur um ein Indiz bzw. den Ausgangspunkt der weiteren Prüfung handeln. Das weitere Kriterium der „Art der Zuwiderhandlung“ dient vor allem der Abgrenzung zum öffentlichen Disziplinarrecht und hat keine besondere darüber hinausgehende praktische Bedeutung erlangt. Schließlich stellt der EGMR auf die Art und den Schweregrad der angedrohten Sanktion ab. Soweit eine Sanktion (auch) bestrafen und abschrecken will, ist sie strafrechtlicher Natur. Rein präventiv ausgerichtete Maßnahmen (z.B. des Polizeirechts) stellen demnach keine strafrechtlichen Sanktionen im konventionsrechtlichen Sinne dar, während allein die mit jeder Sanktion verfolgten general- und spezialpräventiven Zwecksetzungen dem strafrechtlichen Charakter einer Sanktion nicht entgegenstehen.
c) Folgerungen
Aus dem Verweis des EuGH auf diese Rechtsprechung des EGMR lassen sich nun gleich mehrere Schlussfolgerungen ziehen: Zunächst soll der Begriff der „Bestrafung“ i.S.v. Art. 50 GRC autonom, d.h. losgelöst von den Kategorien des nationalen Rechts auszulegen sein. Dieser Ansatz entspricht der Methodik bei der Auslegung der anderen Begriffe des Art. 50 GRC/Art. 54 SDÜ („Tat“, „rechtskräftige Verurteilung“), wo der Gerichtshof die rechtlichen Begrifflichkeiten des Erstverfolgerstaates ebenfalls nur als Ausgangspunkt heranzieht.[22] Die Anbindung an den Strafbegriff der EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR führt weiter dazu, dass die Begriffe des „Strafverfahrens“ und der „Bestrafung“ im Sinne von Art. 50 GRC in einem weiten, über das Kriminalstrafrecht i.e.S. hinausgehenden Sinne zu verstehen sind,[23] wobei der EuGH den nationalen Gerichten insoweit eine Einschätzungsprärogative bezüglich der Rechtsnatur einzelner Sanktionen einräumen zu wollen scheint.
Auch wenn die jetzige weite Auslegung bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den – bisher als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts geltenden – strafrechtlichen Verfahrensgarantien in gewissem Umfang vorgezeichnet war,[24] bedarf der unbesehene Rückgriff auf die Auslegungspraxis des EGMR doch einer kritischen Überprüfung. Zuzugeben ist zunächst, dass dieses methodische Vorgehen bei vordergründiger Betrachtung mit Art. 52 Abs. 3 GRC in Einklang steht, wonach die durch die Charta gewährten Grundrechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie in der EMRK haben, soweit sie einem durch die Konvention garantierten Recht entsprechen. Auch verweisen die vom Konvent angenommenen amtlichen Erläuterungen zu Art. 50 GRC ausdrücklich auf die konventionsrechtliche Gewährleistung von ne-bis-in-idem.[25] Dennoch sind leichte Zweifel an der vorbehaltlosen Inbezugnahme der Rechtsprechung des EGMR anzumelden. Zum einen betrifft Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls nur das innerstaatliche ne-bis-in-idem. Man wird jedoch wohl davon ausgehen können, dass der EuGH keine „gespaltene Auslegung“ von Art. 50 GRC – je nachdem, ob ein rein nationaler oder ein zwischenstaatlicher Sachverhalt vorliegt – vornehmen wird und dementsprechend auch in transnationalen Konstellationen den weiten Strafbegriff des EGMR anwenden wird.[26] Zum anderen – und hierauf hatte bereits der Generalanwalt in aller Ausführlichkeit hingewiesen[27] – zählt selbst das innerstaatliche ne-bis-in-idem keineswegs zum Kerngehalt der durch die EMRK garantierten Rechte. Gerade die vorliegende Konstellation der Parallelität bzw. Kumulation von verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen ist im innerstaatlichen Recht der meisten Unionsstaaten anzutreffen.[28] Es verwundert dann nicht, dass viele EU-Mitgliedstaaten sich in diesem Bereich ungern den Determinanten der Rechtsprechung des EGMR unterwerfen wollten. Dementsprechend wurde das 7. Zusatzprotokoll von einer Reihe von Staaten (u.a. Deutschland) bisher nicht bzw. nur unter Abgabe von einschränkenden Vorbehalten und Erklärungen ratifiziert.[29]
d) Geltung für Unternehmenssanktionen des deutschen Rechts?
Auf Grundlage der Ansicht des EuGH stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, wie die beschriebenen Unternehmenssanktionen des deutschen Rechts in diesem Kontext einzuordnen sind.
Nach der Rechtsprechung des EGMR sind Geldbußen nach dem OWiG als „strafrechtlich“ im Sinne der Konvention einzuordnen.[30] Auch die Sanktionen des OWiG wollten sowohl ahnden als auch abschrecken. Dass sie daneben auch präventive Zwecke verfolgten, sei insoweit unschädlich. Diese Erwägungen lassen sich grunsätzlich ohne weiteres auf die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG übertragen. Auch diese verfolgt sowohl präventive wie auch repressive Zwecke und unterscheidet sich im Hinblick auf ihre Zielrichtung nicht von der Kriminalstrafe.[31]
Schwieriger gestaltet sich freilich die Einordnung des (Dritt-)Verfalls, der – wie gesehen (s. oben II.2.a)) – vielfach auf Grund seiner präventiven Zielrichtung nicht als „Strafe“ i.S.v. Art. 50 GRC angesehen wird. Tatsächlich hat auch der EuGH[32] insbesondere im Zusammenhang mit der Rückabwicklung unionsrechtswidriger Beihilfen mehrmals entschieden, dass restitutiv ausgerichteten Maßnahmen kein Strafcharakter zukomme. Dies gelte vor allem dann, wenn und weil sich der Betroffene dem Beihilfeverfahren freiwillig unterworfen habe. Mit derartigen Fallgestaltungen ist der Verfall, der sich auf jeden rechtswidrig erlangten Vermögensvorteil bezieht, nun offenkundig nur sehr bedingt vergleichbar, zumal er sich jedenfalls unter Geltung des Bruttoprinzips ohnehin schwerlich als rein kondiktionsähnliches Instrument begreifen lässt. Daneben hat der EGMR in einer bisher in Deutschland kaum rezipierten (wohl weil nicht übersetzten) Entscheidung die Beschlagnahme eines illegal errichteten Bauwerks auf Grundlage eines italienischen Baugesetzes als Strafe im konventionsrechtlichen Sinne eingeordnet.[33] Diese Beurteilung wurde insbesondere darauf gestützt, dass die Maßnahme – und hier werden die Parallelen zum Verfall augenscheinlich – anlässlich einer Straftat und im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet worden war.
Der Anwendbarkeit des Doppelbestrafungsverbots auf Unternehmen steht des Weiteren auch deren Eigenschaft als juristische Person bzw. nicht rechtsfähiger Personenverband nicht entgegen.[34] So ist in der Rechtsprechung des EuGH[35] wie auch in der Literatur[36] weithin anerkannt, dass juristische Personen und Personenverbände im Grundsatz durchaus Träger der Grundrechte der Charta sein können, soweit nicht ein Grundrecht (wie z.B. die Menschenwürde, Art. 1 GRC) eindeutig allein auf natürliche Personen bezogen ist. Angesichts der anerkannten Möglichkeit einer strafrechtlichen (i.w.S.) Verantwortlichkeit von Unternehmen und der damit verbundenen Gefahr einer Doppelbestrafung ist von der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Art. 50 GRC auszugehen,[37] zumal auch der Wortlaut der Charta in den verschiedenen Sprachfassungen insoweit offen ist („niemand“, „no one“, „nul“, „nessuno“). Noch ungeklärt ist schließlich, ob der Anwendungsbereich von Art. 50 GRC auch zu Gunsten von nicht formell beschuldigten Drittbeteiligten eröffnet ist. Immerhin setzt schon der Normwortlaut voraus, dass der Betroffene im Erstverfahren „verurteilt“ und nun erneut „verfolgt“ wird. Dennoch muss derjenige, den eine „Strafe“ im Sinne der Charta trifft, im zugrunde liegenden Verfahren nicht zwangsläufig die Stellung eines Beschuldigten i.S.d. StPO innehaben. So ist auch im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK durchaus anerkannt, dass sich über den Wortlaut hinaus nicht nur Angeklagte im formellen Sinne, sondern auch nebenbeteiligte Personenverbände auf die dort normierten Rechten eines „Angeklagten“ berufen können.[38]
Zusammenfassend spricht angesichts der engen Anbindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR zum Strafbegriff der EMRK viel dafür, dass sowohl die Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG als auch der (Dritt-)Verfall nach § 73 Abs. 3 StGB bzw. § 29a OWiG als in einem „Strafverfahren“ verhängte „Strafe“ i.S.v. Art. 50 GRC einzuordnen ist.
III. Ergebnis
1. Eine „Durchführung des Rechts der Union“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC liegt dann vor, wenn ein Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Konkret sind die strafrechtlichen Verfahrensgrundrechte der EU-Grundrechtecharta (Art. 47 ff. GRC) bereits dann in einem nationalen Strafverfahren von Bedeutung, wenn das – auch nur einem Teil des Tatvorwurfs – zu Grunde liegende materielle Recht einen unionsrechtlichen Berührungspunkt aufweist. Dies ist nicht nur bei Kriminalitätsfeldern der Fall, die Gegenstand strafrechtlicher Harmonisierungsaktivitäten auf Unionsebene waren oder sein können. Ausreichend ist in diesem Kontext vielmehr auch, dass die einer Strafvorschrift vorgelagerte außerstrafrechtliche Primärrechtsmaterie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
2. Die Begriffe der „Strafe“ und des „Strafverfahrens“ i.S.v. Art. 50 GRC sind im Sinne der Auslegung des autonomen konventionsrechtlichen Strafbegriffs durch den EGMR zu bestimmen. Im Bereich der Unternehmenssanktionen führt dies dazu, dass die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG als „Strafe“ anzusehen ist. Gleiches dürfte für den (Dritt-)Verfall nach § 73 Abs. 3 StGB bzw. § 29a OWiG gelten. In den vielfach diskutierten Fällen der doppelten Sanktionierung oder doppelten Gewinnabschöpfung bei Unternehmen infolge von Bestechungshandlungen (beispielsweise nach dem UK Bribery Act und deutschem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht) wird daher ein zweites, auf den gleichen Sachverhalt aufbauendes Verfahren gemäß Art. 50 GRC unzulässig sein.
* Der Verfasser ist als Rechtsanwalt am Münchner Standort der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft im Bereich Compliance und Wirtschaftsstrafrecht tätig.
[2] Man mag darüber streiten, ob es hier wirklich um die verfahrensrechtliche Frage der Auslegungszuständigkeit i.S.v. Art. 267 AEUV geht (so der Generalanwalt und der EuGH) oder nicht eher um eine Frage des materiellen Rechts (Reichweite der Art. 47 ff. GRC).
[3] Vgl. hierzu neben den Ausführungen von Generalanwalt Cruz Villalón EuGH, Schlussanträge vom 12.06.2012, Celex-Nr. 62010CC0617, Rn. 25 ff.; auch Hoffmann/Rudolphi, DÖV 2012, S. 597; Von KoenLenaerts, EuR 2013, S. 3.
[8] S. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Eigenmittelbeschlusses vom 7. Juni 2007 (ABl. EU L 163, S. 17 ff.).
[15] Rn. 34 mit Verweis auf EuGH Slg. 1989, 2965, Rn. 24; Slg. 2000, I-11083, Rn. 19; Slg. 2003, I-12077, Rn. 17.
[23] So schon Blanke, in: Callies/Ruffert, AEUV, EUV, 4. Aufl. 2011, Art. 50 GRC Rn. 4; Eser, in: Sieber, Europäisches Strafrecht, § 36 Rn. 77; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 48 Rn. 5; ders., NStZ 2012, S. 611, 612; Alber, in: Stern/Tettinger, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 50 Rn. 3.
[29] S. Schlussanträge GA Cruz Villalón, Schlussanträge vom 12.06.2012, Celex-Nr. 62010CC0617, Rn. 71 f.
[34] Ebenso die Ansicht der Bundesanwaltschaft im Siemens/Enel Verfahren (vgl. Schmidt/Fuhrmann, in: FS für Rissing van Saan, 2011, S. 585, 612 f.).