Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 08.10.2013 – 4 StR 272/13
Einem verbreiteten Irrglauben nach – zugleich Namensgeber für die „Vogel-Strauß-Politik“ –
reagiert nämliches Tier auf Stress und Überforderung so, dass es seinen am langen Hals angebrachten Kopf in den sprichwörtlichen Sand steckt. Zu diesem Verhalten mag sich auch
der ein oder andere aufmerksame Beobachter der Entscheidungsflut mit Bezug zum Thema
„Verständigung“ hingerissen fühlen.
Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.07.2009 (BGBl S.
2353) war ehedem ebenso Ausgangspunkt einer Legion von Besprechungen und Aufsätzen
zur gesetzgeberischen Arbeitsgüte und praktischen Umsetzbarkeit der Regelungen, wie
„prä-verfassungsgerichtlich“ für unterschiedlichste ober- und höchstrichterlichen Entscheidungen zu einzelnen Aspekten des Sujets. Nach dem weiteren „Milestone“ der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Urteil vom 19.03.2013 (BVerfG NJW 2013, 1058
ff.) ist nun die Rechtsprechung, bemüht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in
Rechtsalltag und bisherige Entscheidungslandschaft einzupassen. Die Flut der damit abzuarbeitenden Themen und Problemkreise kann bange machen1 und Überforderung verursachen.
Schlimmer macht es insofern der Beschluss des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom
08.10.2013 jedoch sowohl nach Sachverhalt wie Entscheidungsgründen eher nicht. Beides
ist überschaubar und verdaulich portioniert. Wiewohl er dennoch einen neuen zusätzlichen
Themenbereich eröffnet. Der Beschluss teilt als Verfahrensgeschehnis und Verlauf der
Hauptverhandlung vom 08.02.2013 vor dem Instanzgericht (Landgericht Dortmund) nach Verlesung der Anklageschrift und der Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht
– worauf der Verteidiger um ein Rechtsgespräch gebeten hatte – Folgendes mit:
„Die Hauptverhandlung wurde um 9:25 Uhr unterbrochen und um 10:37 Uhr fortgesetzt.
Die Kammer stellte dem Angeklagten nach Beratung in Aussicht, dass sie gegen ihn im Falle einer
vollumfänglichen geständigen Einlassung unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil vom
06.05.2011 zwei Gesamtstrafen verhängen werde, die in ihrer Summe in einem Rahmen von
sechs Jahren sechs Monaten bis sieben Jahren sechs Monaten insgesamt liegen werden.“
Nach Belehrung des Angeklagten gemäß § 257c Abs. 5 StPO – so teilt der Beschluss weiter
mit – stimmten dieser und der Vertreter der Staatsanwaltschaft dem Vorschlag der Strafkammer zu. Der Verteidiger gab eine Einlassung im Namen des Angeklagten ab, welche er
sich „vollumfänglich zu Eigen“ machte.
Der 2. Senat verhalf der – in der Normenkette korrigierend auf § 243 Abs. 4 S. 2 i.V.m. § 273
Abs. 1a S. 2 StPO gestützten – Verfahrensrüge zum Erfolg, hob das Urteil des Landgerichts
Dortmund mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Nach kurzer Abhandlung der Feststellung, dass die zur Aufhebung der Instanzentscheidung führende Rüge keine unzulässige Protokollrüge darstellt,2
entwickelt der Beschluss zur durchdringenden Verfahrensrüge kurz deren argumentativen Unterpfand: Die mit § 243 Abs. 4 S. 1 StPO durch
das Verständigungsgesetz installierte Verpflichtung des Vorsitzenden, nach Verlesung des
Anklagesatzes mitzuteilen, ob vor Beginn der Hauptverhandlung Erörterungen nach den §§
202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist und wenn ja, welchen wesentlichen Inhalt diese Erörterungen gehabt haben, wird durch § 243 Abs. 4 S. 2 StPO in die laufende Hauptverhandlung getragen.
Diese (im Übrigen völlig alternativlose Ausweitung der Mitteilungs- und Dokumentationspflichten, da ansonsten ein Transparenzgewinn des Verfahrens nicht zu erzielen gewesen
wäre) gesetzgeberische Anordnung ist dem Wesen nach ein Sicherheitsmechanismus, um
alle Prozessbeteiligten und die Öffentlichkeit, insbesondere aber den Angeklagten stets
(auch) über Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung im Bilde zu halten. Informelle und
unkontrollierbare Verfahren sollen – so der Beschluss weiter – durch Gespräche außerhalb
der Hauptverhandlung nicht eröffnet werden.3
Zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung führt dann entscheidungstragend ein Mangel
des Dokumentationsverhaltens des Landgerichts Dortmund, der mehr im „wie“ als im „ob“
liegt. Der 4. Senat betont demgemäß zum „wie“, dass „alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit nicht nur darüber informiert werden sollen, ob Erörterungen stattgefunden haben, sondern auch darüber, welche Standpunkte ggf. von den Teilnehmern vertreten wurden, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei
anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist (und hält
sich damit an die vom Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vorgegebene
breite Basis an Sujets, die inhaltlich im Rahmen der Verständigungsdokumentation eine Mitteilung bedürfen sollen).
Das (erneut) herauszustellen, ist der wesentliche und entscheidungstragende Teil des Beschlusses. Das durch das Instanzgericht protokollierte bloße „Ergebnis“ ist unzureichend.
Was der 4. Senat (in ausdrücklichem Anschluss an 2 StR 195/12) verlangt, ist noch mehr als
eine „Inhaltsangabe“ der stattgehabten Erörterungsgespräche, sondern unter Berücksichtigung der Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts sogar – in germanistischer Kategorie
gesprochen – eine „Nacherzählung“ der Verständigungsgespräche. Dass sich der Bundesgerichtshof in diesem Beschluss der Forderung nach Mitteilung auch des Gesprächsverlaufs in
dessen geschichtlicher Genese anschließt, ist vielleicht bemerkenswerter als die Feststellung
zu den im Hinblick auf das Verständigungsgesetz sicher grob defizitären Mitteilungen im
Protokoll.4 Die weitere Gedankenkette des 4. Senates ist zu diesem zentralen Entscheidungsaspekt
leichtgängig: Weil die hier zitierte Mitteilung in der Niederschrift über die Hauptverhandlung vom 08.02.2013 den wesentlichen Inhalt des Rechtsgespräches im bezeichneten Sinne
eben nicht enthalte, sei ein Rechtsfehler des Verständigungsverfahrens (mit dem Dokumentationsprocedere als dessen integralem Bestandteil) im Anschluss an das Urteil des BVerfG
vom 19.03.2013 anzunehmen. Weil der Mangel an Transparenz und Dokumentation solcher
Gespräche, die mit dem Ziel einer Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung geführt
werden, ein Beruhen des Urteils auf diesem Rechtsfehler nicht ausschließen kann, hakt der
4. Senat die Beruhensfrage unter Hinweis auf BVerfG NJW 2013, 1058 (1067) ohne Umschweife ab.
Mit einer neuen Überlegung im Verständigungskontext wartet der 4. Strafsenat dann aber
im Wege eines obiter dictums dennoch auf: Einmal unterstellt, die Protokollierung der innerhalb einer Stunde und zwölf Minuten während der Unterbrechung der Hauptverhandlung abgelaufenen Verständigungsgespräche sei sonst vollumfänglich nach den Vorstellungen und der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts erfolgt, hätte der 4. Strafsenat für
sich genommen entscheidenden Anstoß an der Mitteilung des „Gesamtstrafübels“ im Rahmen von sechs Jahren sechs Monaten bis sieben Jahren sechs Monaten zu nehmen gehabt.
Wie sich nach dem bemängelten Protokollvermerk nämlich dieser „GesamtübelStrafrahmen“ aus den beiden im Protokoll erwähnten „zwei Gesamtstrafen“ genau zusammengesetzt hat bzw. setzten sollte, bleibt nach Protokolllage im Dunkeln. Macht das Gericht
aber nach seinem Ermessen Angaben zu der zu erwartenden Strafe (§ 257c Abs. 3 S. 2 StPO)
– so der 4. Strafsenat – muss er dies für „jede Gesamtstrafe gesondert“ unter Nennung der
„jeweiligen Ober- und Untergrenze“ tun. Das ist deshalb richtig, weil zwar für die Wägung
der Zustimmungsentscheidung des Angeklagten im akuten Fall vor dem Instanzgericht
(hier Landgericht Dortmund) zunächst in der Tat ein „Gesamt-Strafübel“ die Milde oder
Schärfe der drohenden Sanktion einzuschätzen ermöglicht, die jeweiligen Gesamtstrafenbildungen aber späterhin potentiell bei Auflösungen ausgeurteilter Gesamtstrafen und Einbeziehung neuer abzuurteilender Sachverhalte noch Bedeutung zu gewinnen geeignet
sind. Zwar lässt sich in dem vom 4. Strafsenat entschiedenen Fall durchaus begründet vermuten, dass – nicht unüblich – im Laufe der Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung
weder Verteidigung noch Staatsanwaltschaft oder Gericht über konkrete Vorstellungen zu
„Einzelstrafrahmen“ der jeweiligen Gesamtstrafen Austausch betrieben, sondern sich allein
mit der kumulierten Summe der Gesamtstrafen befasst hatten. Die „DurchgangsGesamtstrafen-Rahmen“ sollten wohl der Entscheidung des Gerichts und dessen Entscheidung überlassen bleiben, ohne das konsensual auch hierzu Ober- und Untergrenzen erörtert worden wären. Das jedenfalls steht nach Protokolllage der Entscheidung für den 4. Senat nachvollziehbar zu vermuten.
Da dieses Thema dem 4. Senat hier offenbar am Herzen lag, und er sich ohne Not auch zu
einer Erörterung des „Gesamt-Strafübels“ hingerissen sah, ist abzusehen, dass eine ggfs.
darauf gestützte Verfahrensrüge nach dieser Senatsauffassung nicht am Beruhenszusammenhang scheiterte, möglicherweise (auch) unter Hinweis auf den angedeuteten Aspekt
potentiell späterer Auflösung des aus mehreren Gesamtstrafen bestehenden summierten
„Gesamt-Strafübels“.
Also: Diese Entscheidung gibt dem Rechtsanwender keine Veranlassung, straußengleich
seinen Kopf im Sand zu vergraben. Ohnehin ist die „Vogel-Strauß-Politik“ ein Sprichwort
ohne realen Bezug. In Wahrheit nämlich scheint es in den hitzeflimmernden Lebensräumen
der Strauße auf die Distanz gesehen durch Luftspiegelungen nur so, als vergrübe er seinen
Kopf im Erdboden. Tatsächlich legt der Strauß sein Ohr in Wachsamkeit auf den Boden, um
herannahende Gefahren durch die Trampelgeräusche herannahender Jäger besser wahrnehmen zu können.
Eine wirklich neue Gefahr rügefähig defizitären Protokollierungsverhaltens hat die Entscheidung vom 08.10.2013 für die Instanzgerichte in Sachen „Gesamtstrafübel“ geschaffen.
Und der Verteidigung damit einen zusätzlichen wachen Blick auf entsprechende Protokollierungsteile verordnet. Der Rest ist bekanntes Terrain.
1 Vgl. allein die instruktive Übersicht zur höchstrichterlichen Rechtsprechung seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bei Schneider, „Übersicht über die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Verfahrensverständigung im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19.03.2013 – Teil I“, NStZ 2014, 192-201
und Schneider, „Überblick über die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Verfahrensverständigung im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19.03.2013 – Teil II“, NStZ 2014, 252-
2 Wie schon im ähnlich gelagerten Fall des 2. Strafsenats 2 StR 195/12 = NJW 2013, 3046 (3084), auf den der hier
besprochene Beschluss ausdrücklich Bezug nimmt, erkannt.
3 Mit Verweis auf BGH Beschluss vom 05.10.2010 – 3 StR 287/10, StV 2011, 72 f.
4 Dazu, dass die „systematische Interpretation des Gesetzes“ eher für (nur) eine Verpflichtung zur Inhaltsangabe
spricht mit guten Gründen Schneider, „Übersicht über die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Verfahrensverständigung im Anschluss an das Urteil des BVerfG vom 19.03.2013 – Teil I“, NStZ 2014, 192 (200), freilich mit dem
„rechtspraktischen“ Hinweis, sich im tatgerichtlichen Protokollierungsverhalten besser an die „abweichenden
Vorstellungen des BVerfG“ zu halten.