Länderbericht Österreich
I. Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014
Mit BGBl I 71/2014 wurde das Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 kundgemacht.
Das Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 bringt eine Nachjustierung des Reformwerkes des mittlerweile fünf Jahre in Geltung befindlichen neuen Vorverfahrens mit sich. Der österreichische Nationalrat hat mit Beschluss vom 10.07.2014 die Änderung der Strafprozessordnung 1975, des Jugendgerichtsgesetztes 1988, des Suchtmittelgesetzes, des Staatsanwaltschaftsgesetzes, des Geschworenen- und Schöffengesetzes sowie des Gebührenanspruchgesetzes besiegelt. Als Inkrafttretensdatum wurde der 01.01.2015 festgelegt.
Die Schwerpunkte der Novelle liegen auf der Verkürzung der Verfahrensdauer sowie der Stärkung des Rechtsschutzes. In concreto sind Maßnahmen beschlossen worden, welche den Ausbau des Rechtsschutzes für Beschuldigte, der Steigerung der Effizienz der Verfahrensführung, der Verkürzung der Verfahrensdauer, dem sensiblen Umgang mit Daten sowie der Medienarbeit der Ermittlungsbehörde dienen.
Die Maßnahmen im Überblick:
- Einführung einer Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens von drei Jahren, vor deren Ablauf das Ermittlungsverfahren einzustellen oder eine gerichtliche Überprüfung der Zulässigkeit der Überschreitung durchzuführen ist
- Unterscheidung zwischen Anfangsverdacht und konkreter Beschuldigung; damit einhergehend die begriffliche Unterscheidung zwischen Verdächtigen, Beschuldigten und Angeklagten
- (Wieder-) Einführung eines zweiten Berufsrichters in komplexen bzw. schwierigen Schöffenverfahren
- Implementierung von Maßnahmen zur Geltendmachung begründeter Zweifel an der Sachkunde eines Sachverständigen durch Schaffung erweiterter Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Beschuldigten
- Einführung eines Mandatsverfahrens bei minderschweren Straftaten
- Erhöhung der für den Ersatz der Verteidigungskosten nach Freispruch vorgesehenen Höchstbeträge
- Ausbau des Datenschutzes für in Ermittlungsverfahren gewonnene Daten
- Schaffung einer klaren Rechtsgrundlage für ermittlungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit
1. (Wieder-)Einführung des Mandatsverfahrens
§ 491 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 sieht vor, dass im Verfahren vor dem Bezirksgericht und vor dem Landesgericht als Einzelrichter das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft künftig die Strafe durch schriftliche Strafverfügung ohne vorausgehende Hauptverhandlung festsetzen kann. Jedoch darf mit Strafverfügung nur eine Geldstrafe oder – soweit der Angeklagte durch einen Verteidiger vertreten ist – eine ein Jahr nicht übersteigende, gem § 43 Abs. 1 StGB bedingt nachzusehende Freiheitsstrafe verhängt werden. Zudem müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein (Details siehe § 491 Abs. 1 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014). Die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und das Opfer können binnen vier Wochen ab Zustellung schriftlich gegen eine Strafverfügung Einspruch erheben. Ist der Einspruch zulässig, wird die Hauptverhandlung angeordnet.
2. Änderungen hinsichtlich des Sachverständigenbeweises
Im Ermittlungsverfahren hat der Beschuldigte § 126 Abs. 5 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 zufolge in Hinkunft das Recht, binnen 14 Tagen ab Zustellung, Kenntnis eines Befangenheitsgrundes oder Vorliegen begründeter Zweifel an der Sachkunde des Sachverständigen einen Antrag auf dessen Enthebung zu stellen. Er kann auch die Bestellung im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme verlangen und eine andere Person vorschlagen. Zudem kann der Angeklagte der Gegenäußerung zur Anklageschrift eine Stellungnahme samt Schlussfolgerungen einer Person mit besonderem Fachwissen zur Begründung eines Beweisantrags anschließen, sofern sich die Anklageschrift auf Befund und Gutachten eines Sachverständigen stützt (§ 222 Abs. 3 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014).
Außerdem kann der Angeklagte zur Befragung des Sachverständigen – so wie bisher – eine Person mit besonderem Fachwissen („Privatgutachter“) beiziehen, diese darf – so wie bisher – den Verteidiger bei der Fragestellung unterstützen, künftig aber selbst Fragen zu Befund und Gutachten an den Sachverständigen richten (§ 249 Abs. 3 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014).
3. Zweiter Berufsrichter in ausgewählten Schöffenverfahren
§ 32 Abs. 1 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 regelt, dass das Landesgericht als Schöffengericht grundsätzlich aus einem Richter und zwei Schöffen besteht. In den Fällen des (neu eingefügten) Abs. 1a besteht das Schöffengericht künftig jedoch aus zwei Richtern und zwei Schöffen. Dabei handelt es sich u.a. um Fälle von Totschlag, schwerem Raub, Brandstiftung und Vergewaltigung.
4. Erhöhung des Verteidigungskostenersatzes nach § 393a StPO i.d.F. BGBl I 71/2014
Die maximal zu gewährenden Pauschalbeiträge des Bundes zu den Verteidigungskosten, die dem Angeklagten auf Antrag unter gewissen Voraussetzungen (Freispruch, Einstellung des Verfahrens) zugesprochen werden können, werden ab 01.01.2015 erhöht. So bekommt der Angeklagte im Verfahren vor dem Landesgericht als Geschworenengericht künftig bis zu 10.000,00 €, im Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht bis zu 5.000,00 €, im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgericht bis zu 3.000,00 € und im Verfahren vor dem Bezirksgericht bis zu 1.000,00 € ersetzt.
Weiters wird in § 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 eine Abgrenzung zwischen den Begriffen „Beschuldigter“ und „Verdächtiger“ eingeführt und die Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens in § 108a StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 mit grundsätzlich drei Jahren begrenzt (diese Frist kann jedoch unter gewissen Voraussetzungen verlängert werden).
II. Aktuelle Entscheidungen
1. Einstellung gemäß § 190 StPO bewirkt „nebis in idem“
§ 17 StPO, § 190 StPO, § 193 Abs. 2 StPO
Eine gemäß § 190 StPO erfolgte Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, dessen formlose Fortführung über Anordnung der Staatsanwaltschaft gemäß § 193 Abs. 2 Z. 1 StPO nicht mehr möglich ist, entfaltet Sperrwirkung im Sinn des Prinzips ,,ne bis in idem“ ( § 17 Abs. 1 StPO; vgl auch Art. 4 des 7. ZPMRK), was zur Folge hat, dass eine neue bzw. weitere Verfolgung desselben Beschuldigten wegen derselben Tat – außer in den Fällen der Anordnung der Fortführung nach § 193 Abs. 2 Z. 2 oder §§ 195 f. StPO (§ 17 Abs. 2 StPO) – nicht mehr zulässig ist.
OGH 21.08.2013, 15 Os 94/13g (RS0129011); 15 Os 95/13d; 15 Os 96/13a.
2. Art 54 SDÜ ist ein Grundrecht und kann Grundlage eines Erneuerungsantrages ( § 363a StPO) sein
§ 363a StPO, Art. 53 SDÜ
Der durch Art. 54 SDÜ gewährte Schutz vor Doppelverfolgung ist als Grundrecht einzustufen und kann Voraussetzung für einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens unter analoger Anwendung von § 363a StPO sein. Das in Art. 54 SDÜ normierte Doppelverfolgungsverbot kann der Entsprechung eines ausländischen Rechtshilfeersuchens entgegenstehen. In Ansehung der Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ im Rechtshilfeverfahren besteht nur eine formelle Prüfungspflicht der Behörden und Gerichte des ersuchten Staats; dabei ist von den Angaben des ersuchenden Staats im Rechtshilfeersuchen auszugehen. Spricht die Darstellung des ersuchenden Staats gegen die Annahme einer bereits rechtskräftig erfolgten Aburteilung in einem dem Schengenraum zugehörigen Staat, so wäre die Rechtshilfe nur dann zu verweigern, wenn im ersuchten Staat Beweise vorgelegt werden, die dagegen erhebliche Bedenken zu erwecken geeignet sind. Die Behörden und Gerichte des ersuchten Staats sind aber nicht verpflichtet, darüber hinaus Ermittlungsschritte zur endgültigen Abklärung dieses Verfolgungshindernisses zu setzen, insbesondere besteht keine Veranlassung zur Einholung von Auskünften gemäß Art. 57 SDÜ.
OGH 17.09.2013, 11 Os 73/13a (RS0129032) 4777.
3. Grundrechtsfragen sind immer von grundsätzlicher Bedeutung und im Rahmen des § 107 Abs. 3 StPO zu überprüfen
Die grundsätzliche Bedeutung von Grundrechtsfragen, hinsichtlich derer ein Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen, auf zusätzliche Argumente gestützten Rechtsprechung besteht, kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Der Gesetzgeber wollte den insoweit als letzte Instanz im Rechtsmittelverfahren entscheidenden Oberlandesgerichten nicht die Möglichkeit eröffnen, die Behandlung von Beschwerden wegen behaupteter wiederholter und weitreichender Verletzungen verfassungsrechtlich gewährleitsteter Rechte abzulehnen. Lehnt demnach das Oberlandesgericht die Behandlung einer Beschwerde gegen das Unterbleiben von Anerkennung und möglichem Ausgleich einer Grundrechtsbeeinträchtigung ab, verletzt es das Gesetz, indem es seinen in diesem Fall auf Null reduzierten Ermessensspielraum überschreitet.
OGH 01.10.2013, 14 Os 43/13z (RS0129023); 14 Os 115/13p; 14 Os 116/13k 47.
4. Eine einigermaßen realistische Schadensangabe eines anonymen Hinweisgebers („über 5 Mio. Euro“) begründet zunächst die (Wert-) Zuständigkeit der WKStA
§ 20a Abs. 1 Z.1 StPO
Gemäß § 20a Abs. 1 Z. 1 StPO obliegt der WKStA für das gesamte Bundesgebiet die Leitung des Ermittlungsverfahrens u.a. wegen Untreue nach § 153 Abs. 1 und Abs. 2 zweiter Fall StGB, soweit aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass der durch die Tat herbeigeführte Schaden 5 Mio. Euro übersteigt. Nach dem Gesetzeswortlaut (,,aufgrund bestimmter Tatsachen“; vgl insofern auch die §§ 119 Abs. 1, 135 Abs. 2 Z. 4, 174 Abs. 3 Z. 4 StPO) erfordert die Begründung der Zuständigkeit der WKStA das Vorliegen konkreter Umstände, aus welchen formal einwandfrei die Annahme abgeleitet werden kann, dass durch die Tat ein Schaden von mehr als 5 Mio. Euro herbeigeführt wurde.
Die zur Begründung der Zuständigkeit erforderliche lntensität des Verdachts muss stets in Relation zum jeweiligen Verfahrensstadium beurteilt werden. Grundsätzlich reichen zwar gänzlich unsubstantiierte Behauptungen und bloße Vermutungen für die Einleitung eines Strafverfahrens nicht hin. Ein über das Hinweisgebersystem der WKStA (BKMS) einlangender Hinweis auf strafbares Verhalten enthält aber in aller Regel zunächst nur Behauptungen bzw in Ansehung der Schadenshöhe bloß Vermutungen des Hinweisgebers. Sofern sie nicht von vornherein als völlig lebensfremd oder geradezu absurd erscheinen, sind diese Angaben jedoch in Bezug auf das Verfahrensstadium, in dem erst über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu entscheiden ist, sehr wohl als ,,bestimmte Tatsachen“ zur zuständigkeitsrelevanten Verdachtsbegründung anzusehen. Solange den – zumindest im Bereich des Möglichen gelegenen – Angaben des Anzeigers keine Tatsachen entgegenstehen, die den Ausschlag für die Annahme einer die 5 Mio. EuroGrenze nicht übersteigenden Schadenssumme geben, besteht die anfängliche Zuständigkeit der WKStA fort. In diese Richtung weisen auch die Gesetzesmaterialien, wonach die Zuständigkeit der WKStA (auch) dann begründet werden soll, wenn die Schadenssumme voraussichtlich jenen Wert übersteigt (ErläutRV zu BGBI I 2010/108: 918 BlgNR 24. GP 10). Die anzustellende Prognose erfordert nicht nur eine Berücksichtigung des Verfahrensstands (vorliegende Anzeigen, Ermittlungsergebnisse etc.), sondern auch des jeweiligen Verfahrens-stadiums.
Rechtssatz der Generalprokuratur 26.02.2014 zu Gw 466/13g.
5. Erfolgreiche Verfahrensrüge wegen Ablehnung des Antrags auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens infolge gründlichen Agierens des Verteidigers
Einen Fall der erfolgreichen Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes des § 281 Abs. 1 Z. 4 StPO behandelt der OGH in seiner Entscheidung 11 Os 13/14t:
„Die Verfahrensrüge (Z 4) wendet sich gegen die schöffengerichtliche Abweisung (ON 22 S 6) des Antrags auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass der Angeklagte im Tatbegehungszeitraum nicht ,,oder nur eingeschränkt “ zurechnungsfähig war (ON 22 S 5 iVm ON 21).
Die hiezu als Beilage ./I zum Hauptverhandlungsprotokoll genommene , vom Verteidiger vorgelegte (ON 22 S 3) Bestätigung des DDr. Kurt D***** über eine psychotherapeutische Behandlung des Beschwerdeführers zwischen November 2011 und Jänner 2013 ist tatsächlich ein Verfahrensergebnis, das eine psychiatrische Expertise indiziert, ob eine bis zur Zurechnungsunfähigkeit gehende Kaufsucht (als gravierende seelische Störung im Sinne von § 11 StGB) vorlag (RISJustiz RS009764 1 [T20, T22 , T23]), weil der Therapeut für den Behandlungszeitraum einen Verlust der entsprechenden lmpulskontrolle für wahrscheinlich hielt.
Die Abweisung des Beweisantrags erfolgte daher zu Unrecht.“
Der OGH zeigt damit auf, dass Privatbefunde und -gutachten zwar keine Sachverständigengutachten im Sinne der StPO darstellen, sehr wohl aber eine Grundlage für einen berechtigten Antrag auf Einholung eines derartigen Gutachtens sein können. Für die Verteidigung macht es daher Sinn derartige Unterlagen dem Gericht unter gleichzeitiger Stellung eines Antrags auf Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens vorzulegen.
6. Voraussetzungen für ein Abwesenheitsurteil
In seiner Entscheidung 11 0s 140/13t (11 0s 141/13i, 11 0s 142/13m, 11 0s 143/13h, 11 0s 144/13f, 11 0s 145/13b, 11 0s 146/13z, 11 0s 147/13x, 11 0s 148/13v, 11 0s 149/13s, 11 0s 150/13p) beschäftigt sich der OGH u.a. mit den Voraussetzungen eines Abwesenheitsurteils:
,,Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf im Fall des Nichterscheinens der Angeklagten bei der Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit in ihrer Abwesenheit nur dann die Hauptverhandlung durchgeführt und das Urteil gefällt werden , wenn es sich um ein Vergehen handelt, die Angeklagte gemäß § 164 oder § 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde und ihr die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde . Eine in diesem Sinn ,,gehörige Ladung“ setzt nicht nur die Bekanntgabe des Termins der Hauptverhandlung, sondern auch die des Gegenstands der Verhandlung sowie eine Belehrung des Gerichts über die Möglichkeit der Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit voraus (Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 9 und 11 ff). Weder wurden der Angeklagten sämtliche Anklagevorwürfe zur Kenntnis gebracht noch wurde diese nachweislich über die Folgen des Ausbleibens van der Hauptverhandlung belehrt. Die Verhandlung und Urteilsfällung am 7. Dezember 2010 in Abwesenheit der Angeklagten steht daher mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Da das zu Unrecht ergangene Abwesenheitsurteil geeignet ist, zum Nachteil der Verurteilten zu wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung dieser Gesetzesverletzung mit der aus dem Spruch ersichtlichen konkreten Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).“
Der OGH zeigt damit auf, dass eine gehörige Ladung im Sinne des Gesetzes nicht nur die Bekanntgabe des Verhandlungstermins, sondern darüber hinaus auch die Information über sämtliche darin zu verhandelnde Anklagevorwürfe sowie die Folgen des Ausbleibens zu beinhalten hat.
7. Der „Erschwerungsgrund“ mangelnder Schuldeinsicht
Ein Dauerproblem scheint der OGH in 11 Os 118/13g zu behandeln:
,,Zutreffend weist jedoch die Sanktionsrüge (Z 11 zweiter Fall) darauf hin, dass die vom Schöffengericht vorgenommene Wertung der Schulduneinsichtigkeit der Angeklagten als eine für die Strafzumessung (mit-)entscheidende Tatsache (US 12) eine unrichtige Gesetzesanwendung darstellt (RIS-Justiz RS0090897 ).
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde war das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur im Strafausspruch aufzuheben und gemäß § 288 Abs 2 Z 3 StPO in der Sache selbst zu erkennen.“
Grundsätzlich gilt, dass ein reumütiges Geständnis einen Milderungsgrund darstellt (§ 34 Abs. 1 Z. 17 StGB). Gleichzeitig ist es aber das Recht des Angeklagten, sich nicht selbst belasten zu müssen (§ 7 Abs. 2 StPO) und ist deshalb auch eine bestreitende Verantwortung nicht als erschwerend zu gewichten. Wenn also in schriftlichen Urteilsausfertigungen immer wieder zu lesen steht, dass es aufgrund der „bis zuletzt schulduneinsichtigen Verantwortung des Angeklagten“ einer höheren Strafe bedurft hatte, dann stellt dies den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs. 1 Z. 11 zweiter Fall StPO her.
8. § 157 Abs. 1 Z. 2 StPO (§ 159 Abs. 3, § 281 Abs. 1 Z. 3 StPO)
Zeugnisverweigerungsrecht von RA dient Klientenschutz = EvBl-LS 2013/172
Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 157 Abs. 1 Z. 2 StPO dient dem Schutz des Klienten primär vor verfassungswidrigem Zwang zur Selbstbelastung und damit dem verfassungsgesetzlich gesicherten Recht des Beschuldigten auf seine Verteidigung.
OGH 09.07.2013, 14 Os 104/12v.
9. § 157 Abs. 1 Z. 1 StPO (Art. 6 MRK; Art. 90 Abs. 2 B-VG; § 7 Abs. 2, §§ 17, 352 Abs. 1, §§ 355, 356 StPO)
Aussageverweigerung bei Selbstbelastungsgefahr = EvBl 2013/158
Das Prinzip des ,,nemo tenetur se ipsum accusare“ vermag die Rechtsbehauptung, nur der im eigenen Strafverfahren Geständige sei als Zeuge vom Recht auf Aussageverweigerung ausgenommen, nicht zu stützen. Denn die Selbstbelastungsfreiheit verbietet zwar jeglichen Zwang zur selbstinkriminierenden Aussage oder zur Lieferung sonstiger (von dessen Willen abhängiger) Beweismittel, die gegen den Beschuldigten verwendet werden können. Sie wird jedoch nicht berührt, wenn die Gefahr einer Selbstbelastung zufolge rechtskräftiger Verurteilung nicht (mehr) besteht. Selbstbelastungsgefahr setzt begrifflich das Vorliegen einer bereits begangenen Straftat voraus, hinsichtlich derer der Zeuge nun gezwungen werden könnte, sie aufgrund seiner Aussage aufzudecken, und liegt daher im Fall allfälligen strafbaren Verhaltens erst durch die Aussage selbst – wenn also die Straftat, die zum Gegenstand einer Selbstbelastung werden könnte, noch gar nicht existent ist – nicht vor.
OGH 21.08.2013, 15 Os 15/13i (OLG Innsbruck 6 Bs 244/11z).
10. § 281 Abs. 1 Z. 5 zweiter Fall StPO
Glaubwürdigkeit als Gegenstand der Mängelrüge = EvBl 2014/7
Zwar ist der zur Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen aufgrund des von diesem in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks führende kritisch-psychologische Vorgang als solcher der Anfechtung mit Mängelrüge entzogen. Die Beurteilung der Überzeugungskraft von Aussagen kann jedoch unter dem Gesichtspunkt einer Unvollständigkeit mangelhaft erscheinen, wenn sich das Gericht mit gegen die Glaubwürdigkeit sprechenden Beweisergebnissen nicht auseinandergesetzt hat. Der Bezugspunkt einer solchen Kritik besteht nicht in der Sachverhaltsannahme der Glaubwürdigkeit, sondern ausschließlich in den Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen.
OGH 27.08.2013, 14 Os 112/13x (LGSt Wien 53 I-Hv 199/12i).
11. Art. 3 Abs. 1 S. 2 2. ZP EuAusliefÜb (Art. 6 MRK; § 11 EU-JZG; § 363 a StPO)
Grundrechtsverletzungen als Auslieferungshindernisse = EvBl 2014/27
Eine Zusicherung, der zwar eine allgemeine Absicherungserklärung menschenrechtskonformen Vorgehens zu entnehmen ist, nicht aber, ob im ersuchenden Staat eine effektive Möglichkeit der Verfahrenswiederholung auf Basis geltender Gesetze für die betroffenen Personen tatsächlich besteht, ist nicht ausreichend i.S.d. Art. 3 Abs. 1 S. 2 2. ZP EuAusliefÜb. Daher hätte die Erklärung der (nicht Un-)Zulässigkeit der Auslieferung einer Überprüfung bedurft, ob entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers dessen Verurteilung in Abwesenheit im Rahmen eines fairen Verfahrens erfolgt ist.
OGH 05.11.2013, 14 Os 145/13z (OLG Wien 22 Bs 265/13a; LGSt Wien 311 Hr 84/811b).
12. § 304 Abs. 1 StGB (§§ 305, 306, 307, 307a, 307b StGB)
Bestechlichkeit verlangt konkreten Bezugspunkt = EvBl 2014/28
Gegenleistungen für ein Amtsgeschäft können ein Vorteil nur sein, wenn das Amtsgeschäft oder die Amtsgeschäfte, auf die er sich bezieht, bestimmt oder wenigstens bestimmbar sind. Dazu bedarf es eines konkreten Lebensbezugs bereits im Zeitpunkt des Forderns, nicht bloß von Kompetenzkategorien. Sonst bezieht sich der Vorteil bloß auf die Amtstätigkeit und erfüllt den Tatbestand des § 304 Abs. 1 StGB nicht.
„Gesetzgebung“ und Vorgänge, die „zur Gesetzwerdung“ führen (vgl Art. 289 AEUV), sind der Kern der in den Kompetenzbereich eines Abgeordneten fallenden Amtsgeschäfte. Der Begriff ist nicht auf den Abstimmungsvorgang beschränkt, sondern erfasst auch Verrichtungen tatsächlicher Art, soweit sie zum Aufgabenbereich des Amtsträgers gehören und demnach von ihm nur vermöge seines Amtes vorgenommen werden können. Demnach kann auch eine faktische (informelle) Einflussnahme von Abgeordneten auf andere Abgeordnete, sei es auch außerhalb durch Ausschüsse geschaffener Zuständigkeitsgrenzen, ein Amtsgeschäft darstellen.
OGH 26.11.2013, 17 Os 20/13i (LGSt Wien 123 Hv 11/12g).
13. Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK (§§ 123, 281 Abs. 1 Z. 4 StPO)
Der OGH lehnt die Beziehung von Privatsachverständigen grundsätzlich ab = EvBl-LS 2014/32
Ein Strafprozess nach kontinental-europäischem Rechtsverständnis ist nicht ein – vom Bemühen um die eindrucksvollere Präsentation des eigenen Standpunkts getragener – Streit gleichberechtigter Parteien (nach anglo-amerikanischer Rechtstradition), sondern die nur von der menschlichen Erkenntnisfähigkeit begrenzte richterliche Suche nach der materiellen Wahrheit. Die Forderung nach Vermischung zweier vom Ansatz verschiedener Systeme wird der nicht erheben, dem eine Balance haltende Regelung der Strafverfolgung am Herzen liegt.
OGH 29.10.2013, 11 Os 101/13g, 139/13w.
14. § 53a Z. 2 lit. a EU-JZG (§ 67 Abs. 2 StGB)
Vollstreckbarkeit bei Distanzdelikt = EvBl 2014/41
Eine Tat, die sowohl im Entscheidungsstaat als auch im Inland begangen wurde, ist i.S.d. § 53a Z. 2 lit. a EU-JZG „im Inland begangen“ worden, sodass die Vollstreckung im Inland nicht zulässig ist.
OGH 10.12.2013, 11 Os 156/13w, 157/13w, 157/13t (LGSt Wien 183 Ns 2/13x).
15. § 34 Abs. 1 Z. 2 StGB
Ordentlicher Lebenswandel als Milderungsgrund = EvBl 2014/42
§ 34 Abs. 1 Z. 2 StGB meint das Vortatverhalten eines Angeklagten, nämlich das Verhalten vor allen nunmehr zur Aburteilung gelangenden Taten. Die wiederholte Delinquenz über einen längeren Zeitraum beseitigt diesen Milderungsgrund nicht.
OHG 10.12.2013, 11 Os 120/13a, 152/13g (OLG Wien 19 Bs 94/13g; LGSt Wien 12 Hv 143/11a).
16. § 363a StPO (§§ 9, 281 Abs. 1 Z. 11 StPO; Art. 6 Abs. 1 MRK)
Beschleunigungsgebot nur subsidiär Gegenstand von Verfahrenserneuerung ohne Befassung des EGMR = EvBl-LS 2014/47
Die Sanktionsfrage betreffende Umstände, wie die Behauptung überlanger Verfahrensdauer, die nicht Gegenstand der Sanktionsrüge (§ 281 Abs. 1 Z. 11 StPO), sondern ausschließlich der Berufung sind, können mit Erneuerungsantrag ohne vorherige Anrufung des EGMR nicht geltend gemacht werden. Gleiches gilt für die behauptete Grundrechtsverletzung aufgrund der Dauer der Erledigung der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten durch den OGH selbst.
Angebliche Verletzungen des grundrechtlichen Beschleunigungsgebots ist vorrangig durch Einspruch nach § 106 Abs. 1 Z. 1 StPO geltend zu machen. Auf diesem Weg kann ein konkreter Auftrag des Gerichts erster oder (im Beschwerdefall) zweiter Instanz an die StA erwirkt werden, dem Beschleunigungsgebot durch konkrete Maßnahmen, wie etwa einer gehörigen Fortführung, einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder einer Anklageerhebung Rechnung zu tragen. Diese Bindung der StA an Aufträge des Gerichtes aufgrund der Verletzung eines subjektiven Rechts lässt sich aus § 107 Abs. 4 StPO ableiten. Gibt das Gericht dem Einspruch statt, hat die StA, sofern sie diesem nicht schon entsprochen hat (§ 106 Abs. 4 StPO), den entsprechenden Rechtsschutz herzustellen. Sodann kommt ein Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG in Betracht.
OGH 10.12.2013, 11 Os 131/13v.
III. Libro-Urteil: Aktuelle OGH Entscheidung zur Untreue (§ 153 StGB)
Zwei aktuelle OGH-Urteile haben Sorgen ausgelöst, dass Führungskräfte durch Fehlentscheidungen im Kriminal landen könnten. Im Zentrum der Debatte steht der Untreue-Paragraf.
In einer Reihe aktueller Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs wurden ehemalige Unternehmensvorstände wegen Untreue in Fällen, die früher kaum als strafrechtlich relevantes Delikt gesehen worden wären, zu Haftstrafen verurteilt.
Vor allem die rechtskräftige Verurteilung der Ex-Hypo-Manager Wolfgang Kulterer und Gert Xander wegen der Kreditvergabe an Styrian Spirit (OGH 11 Os 19/12x) im Oktober 2013 und jene der beiden früheren Libro-Vorstände André Rettberg und Johann Knöbl (12 Os 117/12s) im Jänner 2014 wegen der Ausschüttung einer Sonderdividende an den damaligen Alleinaktionär haben vielerorts Kopfschütteln ausgelöst. Die Gerichte würden unternehmerische Fehlentscheidungen kriminalisieren und Verhaltensweisen unter dem § 153 StGB Untreueparagrafen verfolgen, die eigentlich von Zivilgerichten beurteilt werden sollten oder allenfalls in den Bereich der Insolvenzdelikte gehören, sagen Kritiker.
Problematischer ist in den Augen vieler Beobachter das Libro-Urteil. Durch die Ausschüttung der Sonderdividende wurde zwar das Unternehmen selbst geschädigt, aber nicht der Eigentümer. „Das Urteil ist falsch“, sagen viele bekannte Vertreter aus Praxis und Lehre, wie z.B. o. Univ.-Prof. Dr. Helmut Fuchs von der Universität Wien: „Wenn alle Aktionäre oder Gesellschafter zustimmen und das Geld von der Tochter zur Mutter fließt, dann gibt es keine Untreue, weil kein Schaden eingetreten ist. Vielleicht kann eine betrügerische Krida vorliegen oder ein Bilanzdelikt, aber keine Untreue.“ Die Höchstrichter seien hier einer formalistischen statt einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise gefolgt.
Die Originalentscheidung kann abgerufen werden unter OGH 30.01.2014, 12 Os 117/12s. An dieser Stelle ein Abriss der Entscheidung:
Untreue bei Ausschüttung einer unzulässigen Sonderdividende an die Alleinaktionärin
1. Auch bei einer zu Lasten einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begangenen Untreue ist nach st. Rspr. nicht der mittelbare Schaden der Gesellschafter, sondern der unmittelbare Nachteil der Gesellschaft maßgebend.
2. Ein Sonderfall liegt bei der „Einmann-GmbH“ vor, deren Geschäftsführer zugleich einziger Gesellschafter ist, aus welchem Grund bei nachteiligen Vermögensverfügungen durch den Gesellschafter-Geschäftsführer der Schaden nicht bei einem „anderen“ eingetreten ist.
3. Die Anerkennung einer strafrechtlich zulässigen Dispositionsbefugnis der Gesellschafter über das Vermögen der Aktiengesellschaft würde deren körperschaftliche Struktur konterkarieren. Eine Überschreitung der Kompetenzen, die der Hauptversammlung (HV) aktienrechtlich vorgegebenen sind, ist daher auch unter dem Aspekt des § 153 StGB unzulässig.
Sachverhalt
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs haben in der Zeit von Februar 1999 bis Mitte Mai 1999 André R* und Mag. Johann K* im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter in ihrer Eigenschaft als Vorstände der L* HandelsAG, die ihnen durch Gesetz und Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen (…), wissentlich missbraucht, indem sie eine mit deren Betriebsergebnissen nicht in Einklang zu bringende und nur durch tatsachenwidrige Ausweisung eines Gewinns ermöglichte Ausschüttung (…) einer – tatsächlich im Ausmaß von zumindest ATS 127.773.314,50 gem. § 52 AktG verbotene Rückgewähr von Einlagen darstellende – „Sonderdividende“ in Höhe von ATS 440.000.000,- an die UD-* als Alleinaktionärin verfügten und die zur Finanzierung des tatsachenwidrigen Gewinns erforderlichen Darlehen bei der C* und bei der P* aufnahmen, und dadurch der L* HandelsAG einen aus der Erhöhung der Passiva um ATS 133.769.324,50 resultierenden Vermögensnachteil in diesem Ausmaß zufügten.
Begründung
Aus der Begründung:
Ausgehend von der Überlegung, die Ausschüttung der Sonderdividende sei kein isolierter wirtschaftlicher Vorgang, sondern Grundlage der Verschmelzung gewesen, die wiederum Voraussetzung für den durchgeführten Börsegang, aber auch für eine als weitere Variante angedachte Hereinnahme eines strategischen Partners gewesen sei, was einen erheblichen Zufluss an Eigenkapital bewirkt hat bzw. hätte, rügt die Tatsachenrüge dieses Nichtigkeitswerbers die mangelhafte Sachverhaltsermittlung durch das ErstG zur Höhe eines möglichen Mittelzuflusses durch die Hereinnahme eines strategischen Partners, zumal das Bestehen eines präsenten Deckungsfonds bloß mit dem Argument abgelehnt worden sei, der Zweit-Angeklagte habe nicht sicher davon ausgehen können, dass es zu einem Börsegang kommen werde, und die Klärung dieser Frage auch für das Vorliegen eines Schädigungsvorsatzes relevant wäre. Sie übersieht jedoch – wie bereits dargelegt – die mangelnde Strafbefreiung eines präsenten Deckungsfonds vom Vorwurf der Untreue (…) (RIS-Justiz RS0115823). (…)
Der Einwand, wonach nicht die L* HandelsAG, sondern die Alleinaktionärin Trägerin des von § 153 StGB geschützten Rechtsguts sei, setzt sich über die Rechtssubjektivität der Aktiengesellschaft hinweg (§ 1 AktG).
Auch bei einer zu Lasten einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begangenen Untreue ist nach st. Rspr. nicht der mittelbare Schaden der Gesellschafter, sondern der unmittelbare Nachteil der Gesellschaft maßgebend (vgl RIS-Justiz RS0094723; RS0108965; Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153 Rz. 37). Ein Sonderfall ähnlich der „Einmann-GmbH“, deren Gf. zugleich einziger Gesellschafter ist, aus welchem Grund bei nachteiligen Vermögensverfügungen durch den Gesellschafter-GF der Schaden nach der Judikatur nicht bei einem „anderen“ eingetreten ist (vgl dazu RIS-Justiz RS0094723; Kirchbacher/Presslauer), liegt hier nicht vor. Nicht die Vereinigung aller Gesellschaftsanteile in einer Hand führt in diesem Fall zur Annahme einer straflosen Selbstschädigung, sondern – wie dargelegt – der Umstand, dass in diesem Sonderfall der „Täter“ zugleich einziger „Geschädigter“ ist. (…)
Bleibt anzumerken, dass die Alleinaktionärin UD* ihrerseits eine Mehrheit von Aktionären hatte; eine Einwilligung sämtlicher Aktionäre der UD* zu einer Selbstschädigung (vgl Eckert/Tipold, GES 2013, 69) der L* HandelsAG wurde von den Bf. indes weder vorgebracht, noch fanden sich im Akt diesbezügliche Verfahrensergebnisse.
Vor allem der fehlende Einfluss der Aktionäre auf den gesamten Bereich der Geschäftsführung steht einer (wirtschaftlichen) Identifikation von Aktionären und Aktiengesellschaft entgegen (vgl. zur insofern vergleichbaren deutschen Rechtslage Rönnau in FS Knut Amelung, S. 256 ff). Im Gegensatz zu den Gesellschaftern einer GmbH können die Aktionäre nämlich weder jede Angelegenheit der Geschäftsführung an sich ziehen, noch dem Gesellschaftswohl zuwiderlaufende Weisungen erteilen. Ihre von denen der Gesellschaft zu unterscheidenden Interessen sind der Gesellschaft auch nicht übergeordnet, sondern lediglich neben jenen des Unternehmens, der Öffentlichkeit und der Arbeitnehmer zu berücksichtigen (§ 70 Abs. 1 AktG). Die Anerkennung einer strafrechtlich zulässigen Dispositionsbefugnis der Gesellschafter über das Vermögen der AG würde deren körperschaftliche Struktur konterkarieren. Eine Überschreitung von der HV aktienrechtlich vorgegebener Kompetenzen ist daher auch unter dem Aspekt des § 153 StGB unzulässig (vgl Rönnau in FS Knut Amelung, aaO 266).
Auch mit Blick auf § 153 StGB kommt den Aktionären bzw hier den Organen der Alleinaktionärin nicht die Macht zu, die Gesellschaftsinteressen und damit das Innenverhältnis zu definieren. Daraus folgt, dass die Untreuestrafbarkeit durch eine Zustimmung der Aktionäre oder der Alleinaktionärin grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. Auch eine Weisung oder eine Zustimmung der HV zur Vornahme von Geschäftsführungsakten, die, weil vermögensschädigend, gegen das Unternehmensinteresse verstoßen, wären aufgrund der fehlenden Weisungsbefugnis nicht geeignet, von der gegenüber der Gesellschaft bestehenden Treuepflicht zu dispensieren (vgl auch Rönnau in FS Knut Amelung, aaO 266 f). (…)
Das dargestellte Gesamtverhalten ist – was diese Angeklagten im Ergebnis auch nicht bestreiten – als ein dem Tatbestand der Untreue nach § 153 StGB unterfallender Befugnismissbrauch anzusehen, wobei es dahingestellt bleiben kann, inwieweit der Aufsichtsrat oder die HV der L* HandelsAG von der teilweisen Unrichtigkeit des Gewinnverteilungsvorschlags in Kenntnis waren oder ob die involvierten Personen darüber getäuscht oder unvollständig informiert wurden.
Mag es sich bei der Erstellung der unrichtigen Bilanz und der Erstattung des teilweise überhöhten Gewinnverwendungsvorschlags selbst auch bloß um einen Akt faktischer oder vorbereitender Tätigkeit gehandelt haben (vgl RIS-Justiz RS0094733 [insb. T 4]; Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153 Rz. 20), so ändert dies nichts daran, dass die Angekl in der Folge durch die Überweisung der Sonderdividende eine nach außen wirksame Rechtshandlung setzten (Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153 Rz. 21). Wie bereits dargelegt, waren die Organe der Alleinaktionärin UD* nicht befugt, in eine Schädigung der L* HandelsAG einzuwilligen, sodass eine solche missbräuchlich erfolgt und solcherart nicht geeignet gewesen wäre, die Tatbestandsmäßigkeit zu beseitigen (Kienapfel/Schmoller, StudB BT II § 153 Rn. 106). (…)
Wurde hingegen die Beschlussfassung durch die HV durch Fehlinformation erschlichen, so tritt wie in vergleichbaren Fällen ein allenfalls verwirklichter Betrug hinter den Missbrauch eigener Vertretungsmacht zurück (Kienapfel/Schmoller StudB BT II § 153 Rn. 64; RIS-Justiz RS0094784 [T 1: Täuschung eines Kontrollorgans]; RS0094733 [T 2: Erschleichung der Zustimmung {mit} verfügungsberechtigter Organe]; RS0094442 [insb. T4: durch Falschinformation erschlichene Auszahlungsgenehmigung]; RS0094764 [eine auf bewusst unrichtiger oder unvollständiger Information beruhende Zustimmung des Geschäftsherrn schließt Befugnismissbrauch nicht aus]). (…)
Der gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr des § 52 AktG verstoßende Hauptversammlungsbeschluss war gem § 199 Abs. 1 Z. 3 AktG nichtig (Artmann in Jabornegg/Strasser, AktG5 § 52 Rz. 72). Die eigenverantwortlich und weisungsfrei agierenden (vgl Strasser, aaO § 70 Rz. 10) Vorstandsmitglieder wären nicht zur Ausschüttung, sondern vielmehr zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage verpflichtet gewesen (Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG5 §§ 77 bis 84 Rz. 115). An der Annahme einer i.S.d. § 153 StGB missbräuchlichen Vertretungshandlung durch Auszahlung der Sonderdividende ändert die Nichtigkeit der ihr zugrunde liegenden Beschlussfassung hingegen nichts (vgl Kienapfel/Schmoller § 153 Rn. 53).
Zusammenfassend bedeutet das also:
1. Bei einer zu Lasten einer Aktiengesellschaft begangenen Untreue ist, wie bei einer zu Lasten einer GmbH begangenen Untreue, nicht der mittelbare Schaden der Gesellschafter, sondern der unmittelbare Nachteil der Gesellschaft maßgebend.
2. Die Aktionäre sind aufgrund der körperschaftlichen Struktur der AG nicht berechtigt, über das Vermögen der AG zu disponieren.
3. Die Untreuestrafbarkeit kann durch eine Zustimmung der Aktionäre oder der Alleinaktionärin grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden.
4. Eine Überschreitung von von der Hauptversammlung aktienrechtlich vorgegebenen Kompetenzen ist auch unter dem Aspekt des § 153 StGB unzulässig.
5. Vermögensverschiebungen innerhalb von Konzernunternehmen können Schädigungen i.S.d. § 153 StGB darstellen, da der Konzern als solcher nicht Rechtsträger ist.
I. Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014
Mit BGBl I 71/2014 wurde das Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 kundgemacht.
Das Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 bringt eine Nachjustierung des Reformwerkes des mittlerweile fünf Jahre in Geltung befindlichen neuen Vorverfahrens mit sich. Der österreichische Nationalrat hat mit Beschluss vom 10.07.2014 die Änderung der Strafprozessordnung 1975, des Jugendgerichtsgesetztes 1988, des Suchtmittelgesetzes, des Staatsanwaltschaftsgesetzes, des Geschworenen- und Schöffengesetzes sowie des Gebührenanspruchgesetzes besiegelt. Als Inkrafttretensdatum wurde der 01.01.2015 festgelegt.
Die Schwerpunkte der Novelle liegen auf der Verkürzung der Verfahrensdauer sowie der Stärkung des Rechtsschutzes. In concreto sind Maßnahmen beschlossen worden, welche den Ausbau des Rechtsschutzes für Beschuldigte, der Steigerung der Effizienz der Verfahrensführung, der Verkürzung der Verfahrensdauer, dem sensiblen Umgang mit Daten sowie der Medienarbeit der Ermittlungsbehörde dienen.
Die Maßnahmen im Überblick:
- Einführung einer Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens von drei Jahren, vor deren Ablauf das Ermittlungsverfahren einzustellen oder eine gerichtliche Überprüfung der Zulässigkeit der Überschreitung durchzuführen ist
- Unterscheidung zwischen Anfangsverdacht und konkreter Beschuldigung; damit einhergehend die begriffliche Unterscheidung zwischen Verdächtigen, Beschuldigten und Angeklagten
- (Wieder-) Einführung eines zweiten Berufsrichters in komplexen bzw. schwierigen Schöffenverfahren
- Implementierung von Maßnahmen zur Geltendmachung begründeter Zweifel an der Sachkunde eines Sachverständigen durch Schaffung erweiterter Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Beschuldigten
- Einführung eines Mandatsverfahrens bei minderschweren Straftaten
- Erhöhung der für den Ersatz der Verteidigungskosten nach Freispruch vorgesehenen Höchstbeträge
- Ausbau des Datenschutzes für in Ermittlungsverfahren gewonnene Daten
- Schaffung einer klaren Rechtsgrundlage für ermittlungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit
1. (Wieder-)Einführung des Mandatsverfahrens
§ 491 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 sieht vor, dass im Verfahren vor dem Bezirksgericht und vor dem Landesgericht als Einzelrichter das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft künftig die Strafe durch schriftliche Strafverfügung ohne vorausgehende Hauptverhandlung festsetzen kann. Jedoch darf mit Strafverfügung nur eine Geldstrafe oder – soweit der Angeklagte durch einen Verteidiger vertreten ist – eine ein Jahr nicht übersteigende, gem § 43 Abs. 1 StGB bedingt nachzusehende Freiheitsstrafe verhängt werden. Zudem müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein (Details siehe § 491 Abs. 1 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014). Die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und das Opfer können binnen vier Wochen ab Zustellung schriftlich gegen eine Strafverfügung Einspruch erheben. Ist der Einspruch zulässig, wird die Hauptverhandlung angeordnet.
2. Änderungen hinsichtlich des Sachverständigenbeweises
Im Ermittlungsverfahren hat der Beschuldigte § 126 Abs. 5 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 zufolge in Hinkunft das Recht, binnen 14 Tagen ab Zustellung, Kenntnis eines Befangenheitsgrundes oder Vorliegen begründeter Zweifel an der Sachkunde des Sachverständigen einen Antrag auf dessen Enthebung zu stellen. Er kann auch die Bestellung im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme verlangen und eine andere Person vorschlagen. Zudem kann der Angeklagte der Gegenäußerung zur Anklageschrift eine Stellungnahme samt Schlussfolgerungen einer Person mit besonderem Fachwissen zur Begründung eines Beweisantrags anschließen, sofern sich die Anklageschrift auf Befund und Gutachten eines Sachverständigen stützt (§ 222 Abs. 3 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014).
Außerdem kann der Angeklagte zur Befragung des Sachverständigen – so wie bisher – eine Person mit besonderem Fachwissen („Privatgutachter“) beiziehen, diese darf – so wie bisher – den Verteidiger bei der Fragestellung unterstützen, künftig aber selbst Fragen zu Befund und Gutachten an den Sachverständigen richten (§ 249 Abs. 3 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014).
3. Zweiter Berufsrichter in ausgewählten Schöffenverfahren
§ 32 Abs. 1 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 regelt, dass das Landesgericht als Schöffengericht grundsätzlich aus einem Richter und zwei Schöffen besteht. In den Fällen des (neu eingefügten) Abs. 1a besteht das Schöffengericht künftig jedoch aus zwei Richtern und zwei Schöffen. Dabei handelt es sich u.a. um Fälle von Totschlag, schwerem Raub, Brandstiftung und Vergewaltigung.
4. Erhöhung des Verteidigungskostenersatzes nach § 393a StPO i.d.F. BGBl I 71/2014
Die maximal zu gewährenden Pauschalbeiträge des Bundes zu den Verteidigungskosten, die dem Angeklagten auf Antrag unter gewissen Voraussetzungen (Freispruch, Einstellung des Verfahrens) zugesprochen werden können, werden ab 01.01.2015 erhöht. So bekommt der Angeklagte im Verfahren vor dem Landesgericht als Geschworenengericht künftig bis zu 10.000,00 €, im Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht bis zu 5.000,00 €, im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgericht bis zu 3.000,00 € und im Verfahren vor dem Bezirksgericht bis zu 1.000,00 € ersetzt.
Weiters wird in § 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 eine Abgrenzung zwischen den Begriffen „Beschuldigter“ und „Verdächtiger“ eingeführt und die Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens in § 108a StPO i.d.F. BGBl I 71/2014 mit grundsätzlich drei Jahren begrenzt (diese Frist kann jedoch unter gewissen Voraussetzungen verlängert werden).
II. Aktuelle Entscheidungen
1. Einstellung gemäß § 190 StPO bewirkt „nebis in idem“
§ 17 StPO, § 190 StPO, § 193 Abs. 2 StPO
Eine gemäß § 190 StPO erfolgte Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, dessen formlose Fortführung über Anordnung der Staatsanwaltschaft gemäß § 193 Abs. 2 Z. 1 StPO nicht mehr möglich ist, entfaltet Sperrwirkung im Sinn des Prinzips ,,ne bis in idem“ ( § 17 Abs. 1 StPO; vgl auch Art. 4 des 7. ZPMRK), was zur Folge hat, dass eine neue bzw. weitere Verfolgung desselben Beschuldigten wegen derselben Tat – außer in den Fällen der Anordnung der Fortführung nach § 193 Abs. 2 Z. 2 oder §§ 195 f. StPO (§ 17 Abs. 2 StPO) – nicht mehr zulässig ist.
OGH 21.08.2013, 15 Os 94/13g (RS0129011); 15 Os 95/13d; 15 Os 96/13a.
2. Art 54 SDÜ ist ein Grundrecht und kann Grundlage eines Erneuerungsantrages ( § 363a StPO) sein
§ 363a StPO, Art. 53 SDÜ
Der durch Art. 54 SDÜ gewährte Schutz vor Doppelverfolgung ist als Grundrecht einzustufen und kann Voraussetzung für einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens unter analoger Anwendung von § 363a StPO sein. Das in Art. 54 SDÜ normierte Doppelverfolgungsverbot kann der Entsprechung eines ausländischen Rechtshilfeersuchens entgegenstehen. In Ansehung der Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ im Rechtshilfeverfahren besteht nur eine formelle Prüfungspflicht der Behörden und Gerichte des ersuchten Staats; dabei ist von den Angaben des ersuchenden Staats im Rechtshilfeersuchen auszugehen. Spricht die Darstellung des ersuchenden Staats gegen die Annahme einer bereits rechtskräftig erfolgten Aburteilung in einem dem Schengenraum zugehörigen Staat, so wäre die Rechtshilfe nur dann zu verweigern, wenn im ersuchten Staat Beweise vorgelegt werden, die dagegen erhebliche Bedenken zu erwecken geeignet sind. Die Behörden und Gerichte des ersuchten Staats sind aber nicht verpflichtet, darüber hinaus Ermittlungsschritte zur endgültigen Abklärung dieses Verfolgungshindernisses zu setzen, insbesondere besteht keine Veranlassung zur Einholung von Auskünften gemäß Art. 57 SDÜ.
OGH 17.09.2013, 11 Os 73/13a (RS0129032) 4777.
3. Grundrechtsfragen sind immer von grundsätzlicher Bedeutung und im Rahmen des § 107 Abs. 3 StPO zu überprüfen
Die grundsätzliche Bedeutung von Grundrechtsfragen, hinsichtlich derer ein Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen, auf zusätzliche Argumente gestützten Rechtsprechung besteht, kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Der Gesetzgeber wollte den insoweit als letzte Instanz im Rechtsmittelverfahren entscheidenden Oberlandesgerichten nicht die Möglichkeit eröffnen, die Behandlung von Beschwerden wegen behaupteter wiederholter und weitreichender Verletzungen verfassungsrechtlich gewährleitsteter Rechte abzulehnen. Lehnt demnach das Oberlandesgericht die Behandlung einer Beschwerde gegen das Unterbleiben von Anerkennung und möglichem Ausgleich einer Grundrechtsbeeinträchtigung ab, verletzt es das Gesetz, indem es seinen in diesem Fall auf Null reduzierten Ermessensspielraum überschreitet.
OGH 01.10.2013, 14 Os 43/13z (RS0129023); 14 Os 115/13p; 14 Os 116/13k 47.
4. Eine einigermaßen realistische Schadensangabe eines anonymen Hinweisgebers („über 5 Mio. Euro“) begründet zunächst die (Wert-) Zuständigkeit der WKStA
§ 20a Abs. 1 Z.1 StPO
Gemäß § 20a Abs. 1 Z. 1 StPO obliegt der WKStA für das gesamte Bundesgebiet die Leitung des Ermittlungsverfahrens u.a. wegen Untreue nach § 153 Abs. 1 und Abs. 2 zweiter Fall StGB, soweit aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass der durch die Tat herbeigeführte Schaden 5 Mio. Euro übersteigt. Nach dem Gesetzeswortlaut (,,aufgrund bestimmter Tatsachen“; vgl insofern auch die §§ 119 Abs. 1, 135 Abs. 2 Z. 4, 174 Abs. 3 Z. 4 StPO) erfordert die Begründung der Zuständigkeit der WKStA das Vorliegen konkreter Umstände, aus welchen formal einwandfrei die Annahme abgeleitet werden kann, dass durch die Tat ein Schaden von mehr als 5 Mio. Euro herbeigeführt wurde.
Die zur Begründung der Zuständigkeit erforderliche lntensität des Verdachts muss stets in Relation zum jeweiligen Verfahrensstadium beurteilt werden. Grundsätzlich reichen zwar gänzlich unsubstantiierte Behauptungen und bloße Vermutungen für die Einleitung eines Strafverfahrens nicht hin. Ein über das Hinweisgebersystem der WKStA (BKMS) einlangender Hinweis auf strafbares Verhalten enthält aber in aller Regel zunächst nur Behauptungen bzw in Ansehung der Schadenshöhe bloß Vermutungen des Hinweisgebers. Sofern sie nicht von vornherein als völlig lebensfremd oder geradezu absurd erscheinen, sind diese Angaben jedoch in Bezug auf das Verfahrensstadium, in dem erst über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu entscheiden ist, sehr wohl als ,,bestimmte Tatsachen“ zur zuständigkeitsrelevanten Verdachtsbegründung anzusehen. Solange den – zumindest im Bereich des Möglichen gelegenen – Angaben des Anzeigers keine Tatsachen entgegenstehen, die den Ausschlag für die Annahme einer die 5 Mio. EuroGrenze nicht übersteigenden Schadenssumme geben, besteht die anfängliche Zuständigkeit der WKStA fort. In diese Richtung weisen auch die Gesetzesmaterialien, wonach die Zuständigkeit der WKStA (auch) dann begründet werden soll, wenn die Schadenssumme voraussichtlich jenen Wert übersteigt (ErläutRV zu BGBI I 2010/108: 918 BlgNR 24. GP 10). Die anzustellende Prognose erfordert nicht nur eine Berücksichtigung des Verfahrensstands (vorliegende Anzeigen, Ermittlungsergebnisse etc.), sondern auch des jeweiligen Verfahrens-stadiums.
Rechtssatz der Generalprokuratur 26.02.2014 zu Gw 466/13g.
5. Erfolgreiche Verfahrensrüge wegen Ablehnung des Antrags auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens infolge gründlichen Agierens des Verteidigers
Einen Fall der erfolgreichen Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes des § 281 Abs. 1 Z. 4 StPO behandelt der OGH in seiner Entscheidung 11 Os 13/14t:
„Die Verfahrensrüge (Z 4) wendet sich gegen die schöffengerichtliche Abweisung (ON 22 S 6) des Antrags auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass der Angeklagte im Tatbegehungszeitraum nicht ,,oder nur eingeschränkt “ zurechnungsfähig war (ON 22 S 5 iVm ON 21).
Die hiezu als Beilage ./I zum Hauptverhandlungsprotokoll genommene , vom Verteidiger vorgelegte (ON 22 S 3) Bestätigung des DDr. Kurt D***** über eine psychotherapeutische Behandlung des Beschwerdeführers zwischen November 2011 und Jänner 2013 ist tatsächlich ein Verfahrensergebnis, das eine psychiatrische Expertise indiziert, ob eine bis zur Zurechnungsunfähigkeit gehende Kaufsucht (als gravierende seelische Störung im Sinne von § 11 StGB) vorlag (RISJustiz RS009764 1 [T20, T22 , T23]), weil der Therapeut für den Behandlungszeitraum einen Verlust der entsprechenden lmpulskontrolle für wahrscheinlich hielt.
Die Abweisung des Beweisantrags erfolgte daher zu Unrecht.“
Der OGH zeigt damit auf, dass Privatbefunde und -gutachten zwar keine Sachverständigengutachten im Sinne der StPO darstellen, sehr wohl aber eine Grundlage für einen berechtigten Antrag auf Einholung eines derartigen Gutachtens sein können. Für die Verteidigung macht es daher Sinn derartige Unterlagen dem Gericht unter gleichzeitiger Stellung eines Antrags auf Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens vorzulegen.
6. Voraussetzungen für ein Abwesenheitsurteil
In seiner Entscheidung 11 0s 140/13t (11 0s 141/13i, 11 0s 142/13m, 11 0s 143/13h, 11 0s 144/13f, 11 0s 145/13b, 11 0s 146/13z, 11 0s 147/13x, 11 0s 148/13v, 11 0s 149/13s, 11 0s 150/13p) beschäftigt sich der OGH u.a. mit den Voraussetzungen eines Abwesenheitsurteils:
,,Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf im Fall des Nichterscheinens der Angeklagten bei der Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit in ihrer Abwesenheit nur dann die Hauptverhandlung durchgeführt und das Urteil gefällt werden , wenn es sich um ein Vergehen handelt, die Angeklagte gemäß § 164 oder § 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde und ihr die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde . Eine in diesem Sinn ,,gehörige Ladung“ setzt nicht nur die Bekanntgabe des Termins der Hauptverhandlung, sondern auch die des Gegenstands der Verhandlung sowie eine Belehrung des Gerichts über die Möglichkeit der Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit voraus (Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 9 und 11 ff). Weder wurden der Angeklagten sämtliche Anklagevorwürfe zur Kenntnis gebracht noch wurde diese nachweislich über die Folgen des Ausbleibens van der Hauptverhandlung belehrt. Die Verhandlung und Urteilsfällung am 7. Dezember 2010 in Abwesenheit der Angeklagten steht daher mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Da das zu Unrecht ergangene Abwesenheitsurteil geeignet ist, zum Nachteil der Verurteilten zu wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung dieser Gesetzesverletzung mit der aus dem Spruch ersichtlichen konkreten Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).“
Der OGH zeigt damit auf, dass eine gehörige Ladung im Sinne des Gesetzes nicht nur die Bekanntgabe des Verhandlungstermins, sondern darüber hinaus auch die Information über sämtliche darin zu verhandelnde Anklagevorwürfe sowie die Folgen des Ausbleibens zu beinhalten hat.
7. Der „Erschwerungsgrund“ mangelnder Schuldeinsicht
Ein Dauerproblem scheint der OGH in 11 Os 118/13g zu behandeln:
,,Zutreffend weist jedoch die Sanktionsrüge (Z 11 zweiter Fall) darauf hin, dass die vom Schöffengericht vorgenommene Wertung der Schulduneinsichtigkeit der Angeklagten als eine für die Strafzumessung (mit-)entscheidende Tatsache (US 12) eine unrichtige Gesetzesanwendung darstellt (RIS-Justiz RS0090897 ).
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde war das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur im Strafausspruch aufzuheben und gemäß § 288 Abs 2 Z 3 StPO in der Sache selbst zu erkennen.“
Grundsätzlich gilt, dass ein reumütiges Geständnis einen Milderungsgrund darstellt (§ 34 Abs. 1 Z. 17 StGB). Gleichzeitig ist es aber das Recht des Angeklagten, sich nicht selbst belasten zu müssen (§ 7 Abs. 2 StPO) und ist deshalb auch eine bestreitende Verantwortung nicht als erschwerend zu gewichten. Wenn also in schriftlichen Urteilsausfertigungen immer wieder zu lesen steht, dass es aufgrund der „bis zuletzt schulduneinsichtigen Verantwortung des Angeklagten“ einer höheren Strafe bedurft hatte, dann stellt dies den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs. 1 Z. 11 zweiter Fall StPO her.
8. § 157 Abs. 1 Z. 2 StPO (§ 159 Abs. 3, § 281 Abs. 1 Z. 3 StPO)
Zeugnisverweigerungsrecht von RA dient Klientenschutz = EvBl-LS 2013/172
Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 157 Abs. 1 Z. 2 StPO dient dem Schutz des Klienten primär vor verfassungswidrigem Zwang zur Selbstbelastung und damit dem verfassungsgesetzlich gesicherten Recht des Beschuldigten auf seine Verteidigung.
OGH 09.07.2013, 14 Os 104/12v.
9. § 157 Abs. 1 Z. 1 StPO (Art. 6 MRK; Art. 90 Abs. 2 B-VG; § 7 Abs. 2, §§ 17, 352 Abs. 1, §§ 355, 356 StPO)
Aussageverweigerung bei Selbstbelastungsgefahr = EvBl 2013/158
Das Prinzip des ,,nemo tenetur se ipsum accusare“ vermag die Rechtsbehauptung, nur der im eigenen Strafverfahren Geständige sei als Zeuge vom Recht auf Aussageverweigerung ausgenommen, nicht zu stützen. Denn die Selbstbelastungsfreiheit verbietet zwar jeglichen Zwang zur selbstinkriminierenden Aussage oder zur Lieferung sonstiger (von dessen Willen abhängiger) Beweismittel, die gegen den Beschuldigten verwendet werden können. Sie wird jedoch nicht berührt, wenn die Gefahr einer Selbstbelastung zufolge rechtskräftiger Verurteilung nicht (mehr) besteht. Selbstbelastungsgefahr setzt begrifflich das Vorliegen einer bereits begangenen Straftat voraus, hinsichtlich derer der Zeuge nun gezwungen werden könnte, sie aufgrund seiner Aussage aufzudecken, und liegt daher im Fall allfälligen strafbaren Verhaltens erst durch die Aussage selbst – wenn also die Straftat, die zum Gegenstand einer Selbstbelastung werden könnte, noch gar nicht existent ist – nicht vor.
OGH 21.08.2013, 15 Os 15/13i (OLG Innsbruck 6 Bs 244/11z).
10. § 281 Abs. 1 Z. 5 zweiter Fall StPO
Glaubwürdigkeit als Gegenstand der Mängelrüge = EvBl 2014/7
Zwar ist der zur Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen aufgrund des von diesem in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks führende kritisch-psychologische Vorgang als solcher der Anfechtung mit Mängelrüge entzogen. Die Beurteilung der Überzeugungskraft von Aussagen kann jedoch unter dem Gesichtspunkt einer Unvollständigkeit mangelhaft erscheinen, wenn sich das Gericht mit gegen die Glaubwürdigkeit sprechenden Beweisergebnissen nicht auseinandergesetzt hat. Der Bezugspunkt einer solchen Kritik besteht nicht in der Sachverhaltsannahme der Glaubwürdigkeit, sondern ausschließlich in den Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen.
OGH 27.08.2013, 14 Os 112/13x (LGSt Wien 53 I-Hv 199/12i).
11. Art. 3 Abs. 1 S. 2 2. ZP EuAusliefÜb (Art. 6 MRK; § 11 EU-JZG; § 363 a StPO)
Grundrechtsverletzungen als Auslieferungshindernisse = EvBl 2014/27
Eine Zusicherung, der zwar eine allgemeine Absicherungserklärung menschenrechtskonformen Vorgehens zu entnehmen ist, nicht aber, ob im ersuchenden Staat eine effektive Möglichkeit der Verfahrenswiederholung auf Basis geltender Gesetze für die betroffenen Personen tatsächlich besteht, ist nicht ausreichend i.S.d. Art. 3 Abs. 1 S. 2 2. ZP EuAusliefÜb. Daher hätte die Erklärung der (nicht Un-)Zulässigkeit der Auslieferung einer Überprüfung bedurft, ob entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers dessen Verurteilung in Abwesenheit im Rahmen eines fairen Verfahrens erfolgt ist.
OGH 05.11.2013, 14 Os 145/13z (OLG Wien 22 Bs 265/13a; LGSt Wien 311 Hr 84/811b).
12. § 304 Abs. 1 StGB (§§ 305, 306, 307, 307a, 307b StGB)
Bestechlichkeit verlangt konkreten Bezugspunkt = EvBl 2014/28
Gegenleistungen für ein Amtsgeschäft können ein Vorteil nur sein, wenn das Amtsgeschäft oder die Amtsgeschäfte, auf die er sich bezieht, bestimmt oder wenigstens bestimmbar sind. Dazu bedarf es eines konkreten Lebensbezugs bereits im Zeitpunkt des Forderns, nicht bloß von Kompetenzkategorien. Sonst bezieht sich der Vorteil bloß auf die Amtstätigkeit und erfüllt den Tatbestand des § 304 Abs. 1 StGB nicht.
„Gesetzgebung“ und Vorgänge, die „zur Gesetzwerdung“ führen (vgl Art. 289 AEUV), sind der Kern der in den Kompetenzbereich eines Abgeordneten fallenden Amtsgeschäfte. Der Begriff ist nicht auf den Abstimmungsvorgang beschränkt, sondern erfasst auch Verrichtungen tatsächlicher Art, soweit sie zum Aufgabenbereich des Amtsträgers gehören und demnach von ihm nur vermöge seines Amtes vorgenommen werden können. Demnach kann auch eine faktische (informelle) Einflussnahme von Abgeordneten auf andere Abgeordnete, sei es auch außerhalb durch Ausschüsse geschaffener Zuständigkeitsgrenzen, ein Amtsgeschäft darstellen.
OGH 26.11.2013, 17 Os 20/13i (LGSt Wien 123 Hv 11/12g).
13. Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK (§§ 123, 281 Abs. 1 Z. 4 StPO)
Der OGH lehnt die Beziehung von Privatsachverständigen grundsätzlich ab = EvBl-LS 2014/32
Ein Strafprozess nach kontinental-europäischem Rechtsverständnis ist nicht ein – vom Bemühen um die eindrucksvollere Präsentation des eigenen Standpunkts getragener – Streit gleichberechtigter Parteien (nach anglo-amerikanischer Rechtstradition), sondern die nur von der menschlichen Erkenntnisfähigkeit begrenzte richterliche Suche nach der materiellen Wahrheit. Die Forderung nach Vermischung zweier vom Ansatz verschiedener Systeme wird der nicht erheben, dem eine Balance haltende Regelung der Strafverfolgung am Herzen liegt.
OGH 29.10.2013, 11 Os 101/13g, 139/13w.
14. § 53a Z. 2 lit. a EU-JZG (§ 67 Abs. 2 StGB)
Vollstreckbarkeit bei Distanzdelikt = EvBl 2014/41
Eine Tat, die sowohl im Entscheidungsstaat als auch im Inland begangen wurde, ist i.S.d. § 53a Z. 2 lit. a EU-JZG „im Inland begangen“ worden, sodass die Vollstreckung im Inland nicht zulässig ist.
OGH 10.12.2013, 11 Os 156/13w, 157/13w, 157/13t (LGSt Wien 183 Ns 2/13x).
15. § 34 Abs. 1 Z. 2 StGB
Ordentlicher Lebenswandel als Milderungsgrund = EvBl 2014/42
§ 34 Abs. 1 Z. 2 StGB meint das Vortatverhalten eines Angeklagten, nämlich das Verhalten vor allen nunmehr zur Aburteilung gelangenden Taten. Die wiederholte Delinquenz über einen längeren Zeitraum beseitigt diesen Milderungsgrund nicht.
OHG 10.12.2013, 11 Os 120/13a, 152/13g (OLG Wien 19 Bs 94/13g; LGSt Wien 12 Hv 143/11a).
16. § 363a StPO (§§ 9, 281 Abs. 1 Z. 11 StPO; Art. 6 Abs. 1 MRK)
Beschleunigungsgebot nur subsidiär Gegenstand von Verfahrenserneuerung ohne Befassung des EGMR = EvBl-LS 2014/47
Die Sanktionsfrage betreffende Umstände, wie die Behauptung überlanger Verfahrensdauer, die nicht Gegenstand der Sanktionsrüge (§ 281 Abs. 1 Z. 11 StPO), sondern ausschließlich der Berufung sind, können mit Erneuerungsantrag ohne vorherige Anrufung des EGMR nicht geltend gemacht werden. Gleiches gilt für die behauptete Grundrechtsverletzung aufgrund der Dauer der Erledigung der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten durch den OGH selbst.
Angebliche Verletzungen des grundrechtlichen Beschleunigungsgebots ist vorrangig durch Einspruch nach § 106 Abs. 1 Z. 1 StPO geltend zu machen. Auf diesem Weg kann ein konkreter Auftrag des Gerichts erster oder (im Beschwerdefall) zweiter Instanz an die StA erwirkt werden, dem Beschleunigungsgebot durch konkrete Maßnahmen, wie etwa einer gehörigen Fortführung, einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder einer Anklageerhebung Rechnung zu tragen. Diese Bindung der StA an Aufträge des Gerichtes aufgrund der Verletzung eines subjektiven Rechts lässt sich aus § 107 Abs. 4 StPO ableiten. Gibt das Gericht dem Einspruch statt, hat die StA, sofern sie diesem nicht schon entsprochen hat (§ 106 Abs. 4 StPO), den entsprechenden Rechtsschutz herzustellen. Sodann kommt ein Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG in Betracht.
OGH 10.12.2013, 11 Os 131/13v.
III. Libro-Urteil: Aktuelle OGH Entscheidung zur Untreue (§ 153 StGB)
Zwei aktuelle OGH-Urteile haben Sorgen ausgelöst, dass Führungskräfte durch Fehlentscheidungen im Kriminal landen könnten. Im Zentrum der Debatte steht der Untreue-Paragraf.
In einer Reihe aktueller Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs wurden ehemalige Unternehmensvorstände wegen Untreue in Fällen, die früher kaum als strafrechtlich relevantes Delikt gesehen worden wären, zu Haftstrafen verurteilt.
Vor allem die rechtskräftige Verurteilung der Ex-Hypo-Manager Wolfgang Kulterer und Gert Xander wegen der Kreditvergabe an Styrian Spirit (OGH 11 Os 19/12x) im Oktober 2013 und jene der beiden früheren Libro-Vorstände André Rettberg und Johann Knöbl (12 Os 117/12s) im Jänner 2014 wegen der Ausschüttung einer Sonderdividende an den damaligen Alleinaktionär haben vielerorts Kopfschütteln ausgelöst. Die Gerichte würden unternehmerische Fehlentscheidungen kriminalisieren und Verhaltensweisen unter dem § 153 StGB Untreueparagrafen verfolgen, die eigentlich von Zivilgerichten beurteilt werden sollten oder allenfalls in den Bereich der Insolvenzdelikte gehören, sagen Kritiker.
Problematischer ist in den Augen vieler Beobachter das Libro-Urteil. Durch die Ausschüttung der Sonderdividende wurde zwar das Unternehmen selbst geschädigt, aber nicht der Eigentümer. „Das Urteil ist falsch“, sagen viele bekannte Vertreter aus Praxis und Lehre, wie z.B. o. Univ.-Prof. Dr. Helmut Fuchs von der Universität Wien: „Wenn alle Aktionäre oder Gesellschafter zustimmen und das Geld von der Tochter zur Mutter fließt, dann gibt es keine Untreue, weil kein Schaden eingetreten ist. Vielleicht kann eine betrügerische Krida vorliegen oder ein Bilanzdelikt, aber keine Untreue.“ Die Höchstrichter seien hier einer formalistischen statt einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise gefolgt.
Die Originalentscheidung kann abgerufen werden unter OGH 30.01.2014, 12 Os 117/12s. An dieser Stelle ein Abriss der Entscheidung:
Untreue bei Ausschüttung einer unzulässigen Sonderdividende an die Alleinaktionärin
1. Auch bei einer zu Lasten einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begangenen Untreue ist nach st. Rspr. nicht der mittelbare Schaden der Gesellschafter, sondern der unmittelbare Nachteil der Gesellschaft maßgebend.
2. Ein Sonderfall liegt bei der „Einmann-GmbH“ vor, deren Geschäftsführer zugleich einziger Gesellschafter ist, aus welchem Grund bei nachteiligen Vermögensverfügungen durch den Gesellschafter-Geschäftsführer der Schaden nicht bei einem „anderen“ eingetreten ist.
3. Die Anerkennung einer strafrechtlich zulässigen Dispositionsbefugnis der Gesellschafter über das Vermögen der Aktiengesellschaft würde deren körperschaftliche Struktur konterkarieren. Eine Überschreitung der Kompetenzen, die der Hauptversammlung (HV) aktienrechtlich vorgegebenen sind, ist daher auch unter dem Aspekt des § 153 StGB unzulässig.
Sachverhalt
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs haben in der Zeit von Februar 1999 bis Mitte Mai 1999 André R* und Mag. Johann K* im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter in ihrer Eigenschaft als Vorstände der L* HandelsAG, die ihnen durch Gesetz und Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen (…), wissentlich missbraucht, indem sie eine mit deren Betriebsergebnissen nicht in Einklang zu bringende und nur durch tatsachenwidrige Ausweisung eines Gewinns ermöglichte Ausschüttung (…) einer – tatsächlich im Ausmaß von zumindest ATS 127.773.314,50 gem. § 52 AktG verbotene Rückgewähr von Einlagen darstellende – „Sonderdividende“ in Höhe von ATS 440.000.000,- an die UD-* als Alleinaktionärin verfügten und die zur Finanzierung des tatsachenwidrigen Gewinns erforderlichen Darlehen bei der C* und bei der P* aufnahmen, und dadurch der L* HandelsAG einen aus der Erhöhung der Passiva um ATS 133.769.324,50 resultierenden Vermögensnachteil in diesem Ausmaß zufügten.
Begründung
Aus der Begründung:
Ausgehend von der Überlegung, die Ausschüttung der Sonderdividende sei kein isolierter wirtschaftlicher Vorgang, sondern Grundlage der Verschmelzung gewesen, die wiederum Voraussetzung für den durchgeführten Börsegang, aber auch für eine als weitere Variante angedachte Hereinnahme eines strategischen Partners gewesen sei, was einen erheblichen Zufluss an Eigenkapital bewirkt hat bzw. hätte, rügt die Tatsachenrüge dieses Nichtigkeitswerbers die mangelhafte Sachverhaltsermittlung durch das ErstG zur Höhe eines möglichen Mittelzuflusses durch die Hereinnahme eines strategischen Partners, zumal das Bestehen eines präsenten Deckungsfonds bloß mit dem Argument abgelehnt worden sei, der Zweit-Angeklagte habe nicht sicher davon ausgehen können, dass es zu einem Börsegang kommen werde, und die Klärung dieser Frage auch für das Vorliegen eines Schädigungsvorsatzes relevant wäre. Sie übersieht jedoch – wie bereits dargelegt – die mangelnde Strafbefreiung eines präsenten Deckungsfonds vom Vorwurf der Untreue (…) (RIS-Justiz RS0115823). (…)
Der Einwand, wonach nicht die L* HandelsAG, sondern die Alleinaktionärin Trägerin des von § 153 StGB geschützten Rechtsguts sei, setzt sich über die Rechtssubjektivität der Aktiengesellschaft hinweg (§ 1 AktG).
Auch bei einer zu Lasten einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begangenen Untreue ist nach st. Rspr. nicht der mittelbare Schaden der Gesellschafter, sondern der unmittelbare Nachteil der Gesellschaft maßgebend (vgl RIS-Justiz RS0094723; RS0108965; Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153 Rz. 37). Ein Sonderfall ähnlich der „Einmann-GmbH“, deren Gf. zugleich einziger Gesellschafter ist, aus welchem Grund bei nachteiligen Vermögensverfügungen durch den Gesellschafter-GF der Schaden nach der Judikatur nicht bei einem „anderen“ eingetreten ist (vgl dazu RIS-Justiz RS0094723; Kirchbacher/Presslauer), liegt hier nicht vor. Nicht die Vereinigung aller Gesellschaftsanteile in einer Hand führt in diesem Fall zur Annahme einer straflosen Selbstschädigung, sondern – wie dargelegt – der Umstand, dass in diesem Sonderfall der „Täter“ zugleich einziger „Geschädigter“ ist. (…)
Bleibt anzumerken, dass die Alleinaktionärin UD* ihrerseits eine Mehrheit von Aktionären hatte; eine Einwilligung sämtlicher Aktionäre der UD* zu einer Selbstschädigung (vgl Eckert/Tipold, GES 2013, 69) der L* HandelsAG wurde von den Bf. indes weder vorgebracht, noch fanden sich im Akt diesbezügliche Verfahrensergebnisse.
Vor allem der fehlende Einfluss der Aktionäre auf den gesamten Bereich der Geschäftsführung steht einer (wirtschaftlichen) Identifikation von Aktionären und Aktiengesellschaft entgegen (vgl. zur insofern vergleichbaren deutschen Rechtslage Rönnau in FS Knut Amelung, S. 256 ff). Im Gegensatz zu den Gesellschaftern einer GmbH können die Aktionäre nämlich weder jede Angelegenheit der Geschäftsführung an sich ziehen, noch dem Gesellschaftswohl zuwiderlaufende Weisungen erteilen. Ihre von denen der Gesellschaft zu unterscheidenden Interessen sind der Gesellschaft auch nicht übergeordnet, sondern lediglich neben jenen des Unternehmens, der Öffentlichkeit und der Arbeitnehmer zu berücksichtigen (§ 70 Abs. 1 AktG). Die Anerkennung einer strafrechtlich zulässigen Dispositionsbefugnis der Gesellschafter über das Vermögen der AG würde deren körperschaftliche Struktur konterkarieren. Eine Überschreitung von der HV aktienrechtlich vorgegebener Kompetenzen ist daher auch unter dem Aspekt des § 153 StGB unzulässig (vgl Rönnau in FS Knut Amelung, aaO 266).
Auch mit Blick auf § 153 StGB kommt den Aktionären bzw hier den Organen der Alleinaktionärin nicht die Macht zu, die Gesellschaftsinteressen und damit das Innenverhältnis zu definieren. Daraus folgt, dass die Untreuestrafbarkeit durch eine Zustimmung der Aktionäre oder der Alleinaktionärin grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. Auch eine Weisung oder eine Zustimmung der HV zur Vornahme von Geschäftsführungsakten, die, weil vermögensschädigend, gegen das Unternehmensinteresse verstoßen, wären aufgrund der fehlenden Weisungsbefugnis nicht geeignet, von der gegenüber der Gesellschaft bestehenden Treuepflicht zu dispensieren (vgl auch Rönnau in FS Knut Amelung, aaO 266 f). (…)
Das dargestellte Gesamtverhalten ist – was diese Angeklagten im Ergebnis auch nicht bestreiten – als ein dem Tatbestand der Untreue nach § 153 StGB unterfallender Befugnismissbrauch anzusehen, wobei es dahingestellt bleiben kann, inwieweit der Aufsichtsrat oder die HV der L* HandelsAG von der teilweisen Unrichtigkeit des Gewinnverteilungsvorschlags in Kenntnis waren oder ob die involvierten Personen darüber getäuscht oder unvollständig informiert wurden.
Mag es sich bei der Erstellung der unrichtigen Bilanz und der Erstattung des teilweise überhöhten Gewinnverwendungsvorschlags selbst auch bloß um einen Akt faktischer oder vorbereitender Tätigkeit gehandelt haben (vgl RIS-Justiz RS0094733 [insb. T 4]; Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153 Rz. 20), so ändert dies nichts daran, dass die Angekl in der Folge durch die Überweisung der Sonderdividende eine nach außen wirksame Rechtshandlung setzten (Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153 Rz. 21). Wie bereits dargelegt, waren die Organe der Alleinaktionärin UD* nicht befugt, in eine Schädigung der L* HandelsAG einzuwilligen, sodass eine solche missbräuchlich erfolgt und solcherart nicht geeignet gewesen wäre, die Tatbestandsmäßigkeit zu beseitigen (Kienapfel/Schmoller, StudB BT II § 153 Rn. 106). (…)
Wurde hingegen die Beschlussfassung durch die HV durch Fehlinformation erschlichen, so tritt wie in vergleichbaren Fällen ein allenfalls verwirklichter Betrug hinter den Missbrauch eigener Vertretungsmacht zurück (Kienapfel/Schmoller StudB BT II § 153 Rn. 64; RIS-Justiz RS0094784 [T 1: Täuschung eines Kontrollorgans]; RS0094733 [T 2: Erschleichung der Zustimmung {mit} verfügungsberechtigter Organe]; RS0094442 [insb. T4: durch Falschinformation erschlichene Auszahlungsgenehmigung]; RS0094764 [eine auf bewusst unrichtiger oder unvollständiger Information beruhende Zustimmung des Geschäftsherrn schließt Befugnismissbrauch nicht aus]). (…)
Der gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr des § 52 AktG verstoßende Hauptversammlungsbeschluss war gem § 199 Abs. 1 Z. 3 AktG nichtig (Artmann in Jabornegg/Strasser, AktG5 § 52 Rz. 72). Die eigenverantwortlich und weisungsfrei agierenden (vgl Strasser, aaO § 70 Rz. 10) Vorstandsmitglieder wären nicht zur Ausschüttung, sondern vielmehr zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage verpflichtet gewesen (Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG5 §§ 77 bis 84 Rz. 115). An der Annahme einer i.S.d. § 153 StGB missbräuchlichen Vertretungshandlung durch Auszahlung der Sonderdividende ändert die Nichtigkeit der ihr zugrunde liegenden Beschlussfassung hingegen nichts (vgl Kienapfel/Schmoller § 153 Rn. 53).
Zusammenfassend bedeutet das also:
1. Bei einer zu Lasten einer Aktiengesellschaft begangenen Untreue ist, wie bei einer zu Lasten einer GmbH begangenen Untreue, nicht der mittelbare Schaden der Gesellschafter, sondern der unmittelbare Nachteil der Gesellschaft maßgebend.
2. Die Aktionäre sind aufgrund der körperschaftlichen Struktur der AG nicht berechtigt, über das Vermögen der AG zu disponieren.
3. Die Untreuestrafbarkeit kann durch eine Zustimmung der Aktionäre oder der Alleinaktionärin grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden.
4. Eine Überschreitung von von der Hauptversammlung aktienrechtlich vorgegebenen Kompetenzen ist auch unter dem Aspekt des § 153 StGB unzulässig.
5. Vermögensverschiebungen innerhalb von Konzernunternehmen können Schädigungen i.S.d. § 153 StGB darstellen, da der Konzern als solcher nicht Rechtsträger ist.