Compliance für die Justiz – Reformansätze –
Alternativen zum (auf Individuen gemünzten) Strafrecht: Verwaltungssanktionen, Bußgelder, Unternehmensstrafrecht
I. Einleitung
Man stelle sich vor:
Im Falle eines Diebstahls durch einen Ehepartner würde eine Geldstrafe gegen den anderen Ehepartner verhängt mit der Begründung, der sanktionierte Ehepartner habe bei seiner Partnerwahl nicht hinreichend geprüft, ob der spätere Dieb ein zuverlässiger Partner sei, es treffe ihn daher ein Auswahlverschulden.
Oder alternativ:
Der Familie des Diebes wird dessen Tat strafrechtlich zugerechnet mit dem Argument, es handle sich um eine Zuwiderhandlung, durch welche die Familie insgesamt bereichert worden ist oder werden sollte.
Es dürfte schnell Einigkeit bestehen, dass im Individualstrafrecht solche Sanktionen unvorstellbar sind, jedenfalls aber kaum Maßnahmen eines modernen Strafrechts sein können. Gleichwohl haben diese beiden Beispiele viel mit der aktuellen Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht zu tun.
Bei dieser aktuellen Diskussion sind insbesondere zwei Lager auszumachen:
Von einer Seite wird das Strafrecht noch immer als solitäre Regelungsmaterie verstanden, die zwar auf eine ultima-ratio-Funktion beschränkt ist, aber darüber hinaus ohne Interaktionen bzw. ohne Verzahnung zum Zivilrecht und Verwaltungsrecht wirkt.
Von anderer Seite findet vor dem Hintergrund einer Abkehr von Prinzipien eine radikale Funktionalisierung strafrechtlicher Institute und verfassungsrechtlicher Garantien statt, namentlich gilt dies mit Blick auf das Schuldprinzip. Hierin sehe ich eine Entwicklung des Strafrechts hin zu einem (bloßen) Interventionsrecht.
Ich plädiere für einen Mittelweg, den ich in einer Verortung von Verbandssanktionen mit Sanktionsausschlussmöglichkeiten in einem reformierten Ordnungswidrigkeitenrecht sehe. Zu dieser Überzeugung gelange ich wie folgt:
II. Eingangsüberlegungen
1. Besteht rechtstatsächlich die Notwendigkeit, (auch noch) Unternehmen zu sanktionieren?
Die Befürworter eines Unternehmensstrafrechts führen den Diskurs als eher kriminalpolitische Diskussion, mit Schlagworten und ohne gesicherte rechtstatsächliche Befunde. So werden teils bereits seit Jahren bekannte Beobachtungen ohne Bezug zu Verbands- und Unternehmensstrukturen angeführt; ferner werden Behauptungen aufgestellt, die ohne empirischen Beleg bleiben.
Soweit mitunter Strukturen der/einer modernen Organisationsgesellschaft thematisiert werden, ist davon auszugehen, dass menschliches Zusammenleben bereits von Beginn an zunächst in Gemeinschaften und alsbald auch in Gesellschaften stattgefunden hat. Es ist deshalb zwar zutreffend, dass „die moderne Industrie- und Wissensgesellschaft eine Organisationsgesellschaft“ ist.[1]Dies ist jedoch kein Spezifikum des 21. Jahrhunderts, mithin als tatsächlicher Beleg für die aktuelle Notwendigkeit einer Unternehmensstrafe zu unspezifisch.
In vergleichbarer Weise gilt dies für die Rekurrierung auf einen Gesamtschaden durch Wirtschaftskriminalität. Die Beobachtung eines signifikanten Gesamtschadens ist zwar zutreffend, sie ist jedoch seit Jahren bekannt, wurde u.a. bereits im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung von 2001[2] dargestellt und zeigt lediglich, dass Wirtschaftskriminalität in Deutschland breit angelegt stattfindet und sich daher als zu regulierendes Phänomen darstellt. Nicht aber ist dieses Argument – für sich gesehen – geeignet, die Notwendigkeit gerade einer Verbandsstrafe zu begründen.
Ernstzunehmen sind die Topoi der „organisierten Unverantwortlichkeit“, „Pflichtendiffusion“ bzw. „systemischen Fehlentwicklungen“. Freilich ist zu sehen, dass diese Begriffe, auch wenn sie im Schrifttum bereits seit Jahren angeführt werden, noch immer nicht empirisch belegt sind. Hier ist die Rechtstatsachenforschung gefragt. Bis dahin gilt die Hypothese, dass in praxi derartige Fälle eher nicht gegeben sind – von einigen Fällen von Unternehmenssteuerkarussellen abgesehen, wobei hier die betroffenen Unternehmen zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Aburteilung ohnehin regelmäßig nicht mehr bestehen. Auch „große“ Wirtschaftsstrafsachen in jüngerer Zeit charakterisieren sich nicht als organisierte Unverantwortlichkeit.[3]
2. Welchen (Mehr-)Wert kann ein Unternehmensstrafrecht über das bestehende Individualstrafrecht hinaus haben?
Im Sinne eines Mehrwerts einer Unternehmensstrafe wird vorgebracht, das Individualstrafrecht könne konkrete wirtschaftsstrafrechtliche Konstellationen nicht mehr zufriedenstellend lösen, obwohl es immer subtiler ausdifferenziert worden sei.
Auch wenn zutreffend ist, dass in jüngerer Zeit eine extensive Entwicklung des – auf natürliche Personen ausgerichteten – Wirtschaftsstrafrechts zu konstatieren ist, überzeugt auch dieses Argument nicht. Zwar ist zutreffend, dass eine extensive täterschaftliche Zurechnung in vertikaler Hinsicht (mittelbare Täterschaft) wie auch in horizontaler Perspektive (Mittäterschaft) stattfindet. Veranschaulicht werden kann dies anhand der Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“, soweit diese auch auf unternehmerisches Handeln angewendet werden soll.[4] Weiter kann eine zunehmende Vorverlagerung der Strafbarkeit in wirtschaftsstrafrechtlichen Kontexten angeführt werden. Selbst wenn die Entlastung des Individualstrafrechts ein berechtigtes Anliegen sein sollte, ist eine solche Forderung nicht realistisch und dogmatisch ist sie nicht geboten.
Insbesondere wird die Einführung einer Unternehmensstrafe keine – eher formelhaft geforderte – „Rückbesinnung“ auf die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts bewirken. Wenn es so ist, dass die wirtschaftsstrafrechtlichen Institute vertikaler und horizontaler Zurechnung, neben den genannten auch die Geschäftsherrenhaftung, extensive Auslegungen der Pflichtenüberwälzungsnorm § 14 StGB (insb. dessen Abs. 3) etc., der geltenden Rechtslage entsprechen, dann wird auch die Einführung einer Unternehmensstrafe nicht zu einer einschränkenden Anwendung bzw. Auslegung dieser Institute führen. Im Gegenteil: Zu erwarten ist, dass analoge, gleichfalls weitreichende Institute auf Unternehmensebene entwickelt werden, mithin ein (extensives) strafrechtliches Zwei-Ebenen-System (Unternehmen und Individuen) entsteht.
3. Welcher (Straf-)Zweck kann mit einem Unternehmensstrafrecht (nur) verfolgt werden?
Die Etablierung einer Verbandsstrafe wird heute überwiegend mit deren Präventionswirkung legitimiert.[5] Freilich ist die präventive Wirkung von Strafe insgesamt, erst recht die prospektive Wirkung einer (welcher?) Unternehmensstrafe ungeklärt.
Nimmt man zunächst den Strafzweck der (negativen) Generalprävention in den Blick,[6] so ist davon auszugehen, dass die Wirkungen einer Unternehmenssanktion für andere Unternehmen bzw. deren Repräsentanten vergleichbar sind mit der Wirkung einer Sanktion gegen eine Individualperson auf andere Individualpersonen. Darüber hinaus könnte sich eine generalpräventive Wirkung einstellen, wenn Rechtsgüter der Allgemeinheit verletzt werden. Der Strafzweck der Spezialprävention hingegen könnte erreicht werden, wenn sich ein sanktioniertes Unternehmen künftig in gleicher Weise davor hüten muss, rückfällig, also Wiederholungstäter, zu werden, wie dies für Individualpersonen gilt.[7] Darüber hinaus könnte der Strafzweck der Spezialprävention dazu führen, dass Unternehmen in noch stärkerem Maße als bislang Compliance-Strukturen als Präventionsinstrument installieren.[8]
Aber: Bei alledem ist freilich den zu erwartenden Strafzwecken einer Unternehmensstrafe die (general- bzw. spezial-) präventive Wirkung geltender Rechtsfolgen gegenüber zu stellen. Bereits das im Kontext der Verfallsanordnung geltende Bruttoprinzip stellt sich aus der Sicht vieler potenziell Betroffener als wirksames präventives Instrument dar. Ferner ist mit Blick auf die „Übelsauferlegung“ einer Verbandsgeldbuße gem. § 30 OWiG plausibel (schon mit Blick auf die Höchstsumme des Ahndungsteils in Höhe von 10 Mio EUR bei einer vorsätzlichen Straftat als Anknüpfungstat, § 30 Abs. 2 Nr. 1 OWiG), dass diese Maßnahme als echte Sanktion wahrgenommen wird, auch wenn die Geldbuße nach herkömmlicher Betrachtung im Gegensatz zu einer Kriminalstrafe kein sozialethisches Unwerturteil enthält.
Gerade an dieser Stelle ist ferner auch die „Sanktionierung durch Medienberichterstattung“ anzusprechen, welche Unternehmen und Unternehmensverbände im Kontext von Verbandsgeldbußen und auch im Kontext von Individualstrafverfahren gegen Repräsentanten heute regelmäßig trifft. Hierdurch entsteht ein dem Schuldspruch vorgelagertes sozialethisches Unwerturteil, welches häufig das spätere Unwerturteil und dessen Rezeption faktisch bei weitem übersteigt.
Überdies ist bereits heute das Strafbarkeitsrisiko und dadurch ausgelöst das Präventionsbedürfnis der Unternehmensrepräsentanten hoch. Mit Groß kann daher pointiert gesagt werden, dass derjenige „Manager, der die Begehung von Straftaten für ein kalkulierbares Risiko hält […] eher ärztlichen, denn anwaltlichen Rat“ benötigt.[9]
Im Übrigen fällt auf, dass die Diskussion um die generelle Erreichbarkeit der Strafzwecke bei einer Unternehmensstrafe im Kern eigentlich um die tieferliegende Frage kreist, ob die Unternehmensstrafe nicht eigentlich Unschuldige trifft, nämlich Stakeholder des betroffenen Unternehmens. Dies freilich ist nicht nur eine Frage der Strafzwecke, sondern eine manifeste Verletzung des materiellen Schuldprinzips. Ich komme darauf gleich näher zu sprechen, will an dieser Stelle aber immerhin anmerken, dass auch der von Kubiciel favorisierte retributive Ansatz im Sinne des Gedankens des Schuldausgleichs, wonach „Verbände, die vom Strafrecht geschützte Freiheiten genießen, sich nicht beschweren [könnten], wenn auf die ihnen zurechenbaren Gefährdungen der Freiheit mit Strafe reagiert“ werde,[10] dieses Dilemma nicht auflöst. Denn die Freiheitsgefährdung durch Verbände ist eben in der Sache die Freiheitsgefährdung durch Unternehmensrepräsentanten, die deren Sanktionierung nach sich ziehen sollte, und kann zwar ggf. normativ verbandsbezogen ausgelegt werden, es handelt sich dabei aber – zwingend – um Zurechnung oder sonstige Zuschreibung. Und dabei gilt schlicht: die Zurechnung fremder Schuld kann eine fehlende Schuldpotenzialität nicht ersetzen.[11]
Um der Problematik der Schuldzurechnung auszuweichen, wird teilweise eine originäre Verbandsstrafbarkeit gefordert. Dabei gilt mit Blick auf das Verschulden eines Verbandes in Form eines Organisationsverschuldens[12], dass es sich dabei um ein „Schuldanalogiemodell“ handelt,[13] bei dem im Falle der Bestrafung eines Verbandes in den in Rede stehenden verletzten Straftatbestand (mit einem Unterlassensappell: „Du sollst nicht stehlen oder Dich sonst strafbar machen!“) eine organisationsbezogene Norm (mit einem Begehungsappell: „Du sollst organisieren!“) inkorporiert wird, mit der Folge, dass das Organisationsverschulden den strafrechtlichen Schuldvorwurf qua Analogie auslöst. Das freilich hat mit dem Schuldprinzip, verstanden als Vorwurf, trotz individueller Vermeidbarkeit eine Strafnorm verletzt zu haben, nicht mehr zu tun, wenn es eigentlich nicht um die Verwirklichung der Straf-, sondern um die Verletzung der Organisationsnorm geht.
Dies führt unmittelbar zur Frage nach einer absoluten Schranke für die Unternehmensstrafe durch das Schuldprinzip.
III. Materielles Schuldprinzip als absolute Schranke für die Unternehmensstrafe?
In der aktuellen Diskussion wird von einem Lager noch immer das verfassungsrechtliche Schuldprinzip als unüberwindbare Hürde und damit als entscheidendes Argument gegen ein Unternehmensstrafrecht ins Feld geführt.[14] Das BVerfG hat sich in der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267, Rn. 364) wie folgt positioniert:
„Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Dieser setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG. Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität.“
Diese Worte sind deutlich. „No body to kick, no soul to damn“, könnte man auch sagen. Wenn jede Strafe Schuld voraussetzt, gibt es ohne Schuld keine Strafe und wenn dieses Prinzip in der Menschenwürde wurzelt, dann kann es ohne Menschenwürdebezug, und dadurch ausgelöst individuelle Verantwortlichkeit, keine Strafe geben.[15]
Von den Befürwortern eines Unternehmensstrafrechts wird um diese verfassungsrechtliche Perspektive „herumgesegelt“. Unter Verweis auf eine frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – dem sog. Bertelsmann-Lesering-Beschluss (BVerG NJW 1967, 195: zu § 890 ZPO) – wird ausgeführt, das Verfassungsgericht habe damals die Annahme geäußert, dass sich auch Unternehmen auf das verfassungsrechtliche Schuldprinzip berufen können, dieses aber nicht verletzt ist, wenn dem Unternehmen Schuld von Personen zugerechnet wird, die für das Unternehmen verantwortlich gehandelt haben. Ferner – so die Befürworter – müsse hinterfragt werden, ob und inwieweit sich Unternehmen auf das Schuldprinzip berufen können, gerade weil das BVerfG auch im Lissabon-Urteil das Schuldprinzip in einen tragenden Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie gebracht habe. Menschenwürde komme Unternehmen aber nicht zu, weil sich Unternehmen auch nicht auf die grund- und menschenrechtliche Dimension der Selbstbelastungsfreiheit berufen könnten. Dies spreche dafür, dass das verfassungsrechtliche Schuldprinzip eine Unternehmensstrafbarkeit entweder gar nicht oder nur in anderer Gestalt als bei Menschen begrenzt und ihr im Prinzip nicht entgegenstehe.[16]Denn das BVerfG habe sich in der Lissabon-Entscheidung nur mit dem Individualstrafrecht befasst. Das ist zwar vordergründig richtig und wenig überraschend, weil sich das BVerfG mangels existenter Unternehmensstrafe nicht mit einer solchen in einer verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung befassen konnte. Freilich müssten die Befürworter der Unternehmensstrafe erklären, wie die vorstehend zitierte Passage der Lissabon-Entscheidung mit Blick auf eine ggf. künftige Geltung einer Unternehmensstrafe umformuliert werden könnte: „Das Individualstrafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Das Unternehmensstrafrecht hingegen beruht nicht auf diesem materiellen Schuldgrundsatz, sondern […?].“. Ferner: „Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne; für das Unternehmensstrafrecht bestimmt […Art. 20 Abs. 3 GG?] die Auffassung vom Wesen [welchem?] der Strafe und das Verhältnis von [Verantwortlichkeit?] und Sühne.“ Sollte das realistisch sein?
Die Diskussion macht zumindest deutlich – insoweit dürfte Einigkeit bestehen –, dass die Strafbarkeit von Unternehmen mit dem in Deutschland etablierten sozialethischen Verständnis von Schuld nicht vereinbar ist.
Man müsste sich dementsprechend auch in Deutschland darauf verständigen, „Schuld“ im Sinne von Organisationsfehlern[17] bzw. als Betriebsführungsschuld lediglich zuzurechnen oder Schuld als sozial orientiertes Konstrukt anzuerkennen. Selbst wenn das BVerfG diesen Schritt mittragen sollte, würde eine solche Relativierung bzw. Funktionalisierung von Schuld Folgeprobleme für das Strafrecht insgesamt aufwerfen, die nicht ansatzweise absehbar sind.
Bleiben schuldunabhängige Ansätze in den Blick zu nehmen, namentlich die im Schrifttum schon seit längerem geforderte Unternehmenskuratel, wonach bei Feststellung organisatorischer Mängel anlässlich einer unternehmensbezogenen Straftat durch Gerichtsurteil ein Kurator quasi als magisches Auge mit Informationsrechten den gestörten Informationsfluss im Unternehmen optimieren soll, dessen Mängel als wesentliche Ursache der in Rede stehenden Unternehmenskriminalität angesehen werden.[18] Firmiere ein Unternehmen mit dem Zusatz „u.K.“ (= unter Kuratel), so stelle sich dadurch Prävention schon wegen der offensichtlich nachteiligen Folgen einer derartigen Firmierung ein.
Ich möchte an dieser Stelle dazu nur zwei Dinge anmerken: Erstens könnte eine solche Rechtsfolge der Unternehmenskuratel mit der beschriebenen präventiven Wirkung ohne weiteres auch im Ordnungswidrigkeiten- bzw. im Verwaltungsrecht Platz finden. Und auch an dieser Stelle ist vorrangig zu überlegen, ob nicht geltende Rechtsfolgen des Wirtschaftsverwaltungsrechts bereits ausreichend sind. Zweitens sollte sehr genau überlegt werden, ob wir den derzeitigen Kanon schundunabhängiger Rechtsfolgen, namentlich die Maßregeln der Besserung und Sicherung, erweitern, weil auch eine solche Erweiterung zu einer Relativierung des Schuldprinzips führt. Dies ist auch meine – hier freilich bestenfalls kursorische – Antwort auf das „Unternehmensinterventionsrecht“ von Schmitt-Leonardy mit den Rechtsfolgen der Wiedergutmachung und der Unternehmenskorrektur, verstanden als Korrektur des Unternehmenskurses, durch Publizität und durch eine gestaffelte Unternehmenskuratel.[19]
Ferner stellt sich die Unternehmensstrafe als Kollektivstrafe dar,[20] jedenfalls dann, wenn es keine eigene, übergeordnete Verbandsstruktur gibt:
Durch die Verbandsstrafe wird unbeteiligter Anteilseigner und unschuldige Mitarbeiter, mithin unschuldige Stakeholder, unmittelbar getroffen. Es liegt auf der Hand, dass Stakeholder, die mit den jeweiligen Zuwiderhandlungen in keinerlei Bezug stehen, durch alle in Betracht kommenden Verbandssanktionen unmittelbar getroffen werden, also auch dann, wenn sie weder einen Bezug zum operativen Geschäft haben, noch in die Organisation des Unternehmens eingebunden sind, also auch für Organisationsmängel nicht verantwortlich sein können.
Zwar ist es durchaus zutreffend, dass etwa eine Geldstrafe gegen einen Familienvater mittel auch dessen Ehefrau bzw. die gemeinsamen Kinder betrifft, weil auch deren Lebensverhältnisse für einen bestimmten Zeitraum eingeengt sind. Dabei handelt es sich jedoch um mittelbare, gewissermaßen unerwünschte Nebenfolgen einer Kriminalstrafe gegen eine natürliche Person. Bei den Verbandssanktionen wird unmittelbar der Verband getroffen hinter dem freilich ebenso unmittelbar die Vermögensinteressen der Gesellschafter, Anteilseigner bzw. sonstigen Stakeholder stehen. Dies ist mit dem materiellen Schuldprinzip unvereinbar.
IV. Ehrlichkeit in der Diskussion
1. Was leistet das geltende Recht, namentlich §§ 30, 130 OWiG, und was leistet es nicht?
Es ist daran zu erinnern, dass der Bußgeldrahmen des § 30 OWiG erst jüngst durch das Achte Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.06.2013 von 1.000.000,00 € auf 10.000.000,00 € erhöht wurde (BGBl. 1, S. 1738). Diesen Schritt hat der Gesetzgeber für notwendig erachtet, gerade um Verbände „unrechtsadäquat“ zu sanktionieren. Ferner ist davon auszugehen, dass die Zahlungsverpflichtung als solche und deren Höhe entscheidend ist für Verbände, weniger deren Rechtsnatur.
Darüber hinaus stellt das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht gerade auch im europäischen Kontext eine Art „Verwaltungsstrafrecht“ dar, was bereits dem Umstand entnommen werden kann, dass über Bußgeldbescheide im Falle eines erfolgten Einspruchs die Strafgerichte zu entscheiden haben, mit der Folge, dass das Ordnungswidrigkeitenrecht als „Strafrecht im weiteren bzw. im materiellen Sinne“ zu verstehen ist.
Wenn weiter die geringen Fallzahlen der Anwendung von Verbandsgeldbußen gemäß § 30 OWiG erwähnt werden, mag dies dem Grunde nach zutreffen. Diese Beobachtung zeigt aber allenfalls, dass es insoweit ein Anwendungsdefizit, kein Regelungsdefizit gibt.
Darüber hinaus ist mit Blick auf die geltende Rechtslage daran zu erinnern, dass Handlungsmöglichkeiten des Wirtschaftsverwaltungsrechts neben dem Widerruf einer erteilten Genehmigung, auch die Untersagung bestimmter Tätigkeiten und auch die administrative Schließung des Unternehmens (§ 20 MSchG, § 35 GewO) beinhalten können und weiter auch die Zwangsauflösung und Löschung im Handelsregister (§§ 61, 62 GmbHG, § 396 AktG).[21]
2. Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts?
Die vorstehenden Befunde legen eine Aufwertung der Regelungsmaterie Ordnungswidrigkeitenrecht, die historisch als Verwaltungsunrecht, weniger als „Strafzettel-Ordnung“ verstanden wurde, geradezu nahe:
Vorweg: Das im Ordnungswidrigkeitenrecht geltende Opportunitätsprinzip ist grundsätzlich dem Legalitätsprinzip mit Blick auf die Sanktionierung von Verbänden vorzuziehen. Allein mit Blick auf Unternehmen sind zahlreiche Konstellationen gerade mittelständischer Entitäten gegeben, bei denen eine überindividuelle Struktur nicht vorliegt, mithin eine Sanktionierung über die Individuen hinaus a priori nicht veranlasst ist. Hier ist es sachdienlich, ein Bußgeldverfahren gegen den Verband gar nicht einzuleiten. Freilich ist daran zu denken, für Unternehmenssanktionen das derzeit geltende eher freie Ermessen de lege ferenda einzuschränken hin zu einem gebundenen Ermessen (Wann ist einzuschreiten, wann sollte eine Sanktionierung erfolgen und wann eine Verfahrenseinstellung?).[22]
Mit Blick auf eine Neukonturierung des Ordnungswidrigkeitenrechts bietet sich an:
Es sollte zunächst Einigkeit bestehen, dass eine übergeordnete Verbandsstruktur eine essentielle Voraussetzung für die Verhängung von Verbandssanktionen ist (vgl. auch schon oben zur Geltung des Opportunitätsprinzips).
Ferner:
– Es sollten klare Sanktionsausschlussmöglichkeiten für den Verband etabliert werden. Insofern empfiehlt es sich, sich an Section 7, 2 des UK-Bribery Act 2010 und den dazu veröffentlichten Fallstudien (case studies)[23] zu orientieren, d.h. namentlich folgende Umstände (adequate procedures) zu berücksichtigen:
- Unternehmensbezogene, d.h. individuelle Compliance-Richtlinien und Compliance-Maßnahmen als Exkulpation bzw. als Ausschlussgrund für eine Pflichtverletzung
- Risikoeinschätzung/gebotene Sorgfalt (bereichsbezogen)
- Überwachung und Nachprüfung
– Eine gesetzliche Klarstellung, dass die jeweilige Höhe des Ahndungs- und ggf. des Abschöpfungsanteils einer Verbandsgeldbuße im Tenor der Bußgeldentscheidung zum Ausdruck gebracht wird.- Mit Blick auf den Ahndungsteil der Verbandsgeldbuße sollten Sanktionszumessungskriterien eingeführt werden (vgl. etwa § 46 StGB), die eine klare Orientierung an den wirtschaftlichen Verhältnissen des betroffenen Unternehmens ermöglichen.- Ferner sollte – beschränkt auf die Kalkulation der Verbandsgeldbuße – darüber nachgedacht werden, ob auch hier ein Tagessatzsystem (vgl. dazu § 40 StGB) implementiert wird, weil dieses eine zumindest ungefähre Belastungsgleichheit gewährleistet. Dadurch könnte auch dem gegenwärtigen „Wildwuchs“ begegnet werden, der darin besteht, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden die betroffenen Unternehmen häufig vor die Wahl stellen, entweder eine mehr oder weniger grob geschätzte, teils auch bewusst hoch angesetzte Verbandsgeldbuße zu akzeptieren oder rufschädigende und kostenintensive weitere Ermittlungen zu riskieren, zunehmend begleitet durch mediale Liveberichterstattung und durch offen zur Schau gestellte detaillierte Aktenkenntnis von Medienvertretern.- Zu überlegen wäre weiter, die gerichtliche Zuständigkeit nach erfolgtem Einspruch gegen den (Verbands-) Bußgeldbescheid von dem mit komplexen und umfassenden Sachverhalten aus Kapazitätsgründen überforderten Amtsgericht auf ein Gericht höherer Ordnung zu übertragen. Dabei empfiehlt es sich, entsprechend den §§ 74, 74c GVG, die Zuständigkeit des Landgerichts zu begründen.- Die Vereinfachungen der Hauptverhandlung, insbesondere mit Blick auf die Beweisaufnahme und das eingeschränkte Beweisantragsrecht (§§ 71, 77 ff. OWiG), sollten in Verfahren gegen Unternehmen keine Anwendung finden; vielmehr sollten die Vorschriften über die Beweisaufnahme der StPO volle Geltung haben.
V. Szenario eines Unternehmensstrafverfahrensrechts
Schließlich möchte ich noch kurz das aus meiner Sicht wahrscheinliche Szenario eines Unternehmensstrafverfahrensrechts beleuchten. Gerade vor dem Hintergrund des dann geltenden Legalitätsprinzips würde dies zu einer Flut von Strafverfahren gegen Verbände, gerade auch gegen kleine mittelständische Unternehmen, führen, welche die sog. Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege weiter an den Rand der Möglichkeiten bringen dürfte. Zu erwarten ist, dass die Einführung einer Verbandsstrafe daher zu einer weiteren Zunahme informeller Erledigungsformen (namentlich § 257c StPO) führen würde. Ebenso offensichtlich ist der Umstand, dass dadurch ein mit Blick auf Unternehmensstrukturen teilweise beklagtes „Präventionsdefizit“, welches gerade auch vor dem Hintergrund verfahrensbeendender Absprachen insgesamt gesehen wird, noch verstärkt würde.
Darüber hinaus ist für die (wenigen) Fälle, in denen Unternehmensstrafverfahren wirklich einmal streitig durchgeführt werden, zu erwarten, dass sich der Verband auf Kosten von Individualbeschuldigten verteidigen muss (Selbstreinigung) und umgekehrt Individualbeschuldigte ihr Heil im Angriff gegen den Verband suchen werden, wenn sie nicht zuvor durch arbeitsrechtliche Zusicherungen „ruhiggestellt“ worden sind. Die mit Blick auf die geltende Rechtslage beschriebene Gefahr von Bauernopfern (in Gestalt von Individualpersonen, d.h. Arbeitnehmern) besteht also gerade erst dann, wenn eine Verbandsstrafe eingeführt wird und sich Verbände auf dem Rücken von Individualbeschuldigten verteidigen werden. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten zeigen, dass gerade dies zu erwarten ist.
VI. Fazit
Die Reform des Ordnungswidrigkeitenverfahrens, das zu Verbandsgeldbußen mit durch die betroffenen Unternehmen selbst beeinflussbaren Sanktionsausschlussgründen führen kann, bietet sich als geeigneter Weg an.
Die Folgen der Einführung eines Unternehmensstrafrechts würden zweierlei bedeuten: Erstens eine Funktionalisierung strafrechtlicher Prinzipien,[24] erst recht des Schuldprinzips, und zweitens eine Zunahme an Informalität. Der „Preis“ der Einführung einer Verbandsstrafe besteht also darin, dass sich das Strafrecht zu einem allgemeinen Interventionsrecht entwickeln würde. Wollen wir das? Und: dürfen wir das wollen?
Alternativen zum (auf Individuen gemünzten) Strafrecht: Verwaltungssanktionen, Bußgelder, Unternehmensstrafrecht
I. Einleitung
Man stelle sich vor:
Im Falle eines Diebstahls durch einen Ehepartner würde eine Geldstrafe gegen den anderen Ehepartner verhängt mit der Begründung, der sanktionierte Ehepartner habe bei seiner Partnerwahl nicht hinreichend geprüft, ob der spätere Dieb ein zuverlässiger Partner sei, es treffe ihn daher ein Auswahlverschulden.
Oder alternativ:
Der Familie des Diebes wird dessen Tat strafrechtlich zugerechnet mit dem Argument, es handle sich um eine Zuwiderhandlung, durch welche die Familie insgesamt bereichert worden ist oder werden sollte.
Es dürfte schnell Einigkeit bestehen, dass im Individualstrafrecht solche Sanktionen unvorstellbar sind, jedenfalls aber kaum Maßnahmen eines modernen Strafrechts sein können. Gleichwohl haben diese beiden Beispiele viel mit der aktuellen Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht zu tun.
Bei dieser aktuellen Diskussion sind insbesondere zwei Lager auszumachen:
Von einer Seite wird das Strafrecht noch immer als solitäre Regelungsmaterie verstanden, die zwar auf eine ultima-ratio-Funktion beschränkt ist, aber darüber hinaus ohne Interaktionen bzw. ohne Verzahnung zum Zivilrecht und Verwaltungsrecht wirkt.
Von anderer Seite findet vor dem Hintergrund einer Abkehr von Prinzipien eine radikale Funktionalisierung strafrechtlicher Institute und verfassungsrechtlicher Garantien statt, namentlich gilt dies mit Blick auf das Schuldprinzip. Hierin sehe ich eine Entwicklung des Strafrechts hin zu einem (bloßen) Interventionsrecht.
Ich plädiere für einen Mittelweg, den ich in einer Verortung von Verbandssanktionen mit Sanktionsausschlussmöglichkeiten in einem reformierten Ordnungswidrigkeitenrecht sehe. Zu dieser Überzeugung gelange ich wie folgt:
II. Eingangsüberlegungen
1. Besteht rechtstatsächlich die Notwendigkeit, (auch noch) Unternehmen zu sanktionieren?
Die Befürworter eines Unternehmensstrafrechts führen den Diskurs als eher kriminalpolitische Diskussion, mit Schlagworten und ohne gesicherte rechtstatsächliche Befunde. So werden teils bereits seit Jahren bekannte Beobachtungen ohne Bezug zu Verbands- und Unternehmensstrukturen angeführt; ferner werden Behauptungen aufgestellt, die ohne empirischen Beleg bleiben.
Soweit mitunter Strukturen der/einer modernen Organisationsgesellschaft thematisiert werden, ist davon auszugehen, dass menschliches Zusammenleben bereits von Beginn an zunächst in Gemeinschaften und alsbald auch in Gesellschaften stattgefunden hat. Es ist deshalb zwar zutreffend, dass „die moderne Industrie- und Wissensgesellschaft eine Organisationsgesellschaft“ ist.[1]Dies ist jedoch kein Spezifikum des 21. Jahrhunderts, mithin als tatsächlicher Beleg für die aktuelle Notwendigkeit einer Unternehmensstrafe zu unspezifisch.
In vergleichbarer Weise gilt dies für die Rekurrierung auf einen Gesamtschaden durch Wirtschaftskriminalität. Die Beobachtung eines signifikanten Gesamtschadens ist zwar zutreffend, sie ist jedoch seit Jahren bekannt, wurde u.a. bereits im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung von 2001[2] dargestellt und zeigt lediglich, dass Wirtschaftskriminalität in Deutschland breit angelegt stattfindet und sich daher als zu regulierendes Phänomen darstellt. Nicht aber ist dieses Argument – für sich gesehen – geeignet, die Notwendigkeit gerade einer Verbandsstrafe zu begründen.
Ernstzunehmen sind die Topoi der „organisierten Unverantwortlichkeit“, „Pflichtendiffusion“ bzw. „systemischen Fehlentwicklungen“. Freilich ist zu sehen, dass diese Begriffe, auch wenn sie im Schrifttum bereits seit Jahren angeführt werden, noch immer nicht empirisch belegt sind. Hier ist die Rechtstatsachenforschung gefragt. Bis dahin gilt die Hypothese, dass in praxi derartige Fälle eher nicht gegeben sind – von einigen Fällen von Unternehmenssteuerkarussellen abgesehen, wobei hier die betroffenen Unternehmen zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Aburteilung ohnehin regelmäßig nicht mehr bestehen. Auch „große“ Wirtschaftsstrafsachen in jüngerer Zeit charakterisieren sich nicht als organisierte Unverantwortlichkeit.[3]
2. Welchen (Mehr-)Wert kann ein Unternehmensstrafrecht über das bestehende Individualstrafrecht hinaus haben?
Im Sinne eines Mehrwerts einer Unternehmensstrafe wird vorgebracht, das Individualstrafrecht könne konkrete wirtschaftsstrafrechtliche Konstellationen nicht mehr zufriedenstellend lösen, obwohl es immer subtiler ausdifferenziert worden sei.
Auch wenn zutreffend ist, dass in jüngerer Zeit eine extensive Entwicklung des – auf natürliche Personen ausgerichteten – Wirtschaftsstrafrechts zu konstatieren ist, überzeugt auch dieses Argument nicht. Zwar ist zutreffend, dass eine extensive täterschaftliche Zurechnung in vertikaler Hinsicht (mittelbare Täterschaft) wie auch in horizontaler Perspektive (Mittäterschaft) stattfindet. Veranschaulicht werden kann dies anhand der Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“, soweit diese auch auf unternehmerisches Handeln angewendet werden soll.[4] Weiter kann eine zunehmende Vorverlagerung der Strafbarkeit in wirtschaftsstrafrechtlichen Kontexten angeführt werden. Selbst wenn die Entlastung des Individualstrafrechts ein berechtigtes Anliegen sein sollte, ist eine solche Forderung nicht realistisch und dogmatisch ist sie nicht geboten.
Insbesondere wird die Einführung einer Unternehmensstrafe keine – eher formelhaft geforderte – „Rückbesinnung“ auf die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts bewirken. Wenn es so ist, dass die wirtschaftsstrafrechtlichen Institute vertikaler und horizontaler Zurechnung, neben den genannten auch die Geschäftsherrenhaftung, extensive Auslegungen der Pflichtenüberwälzungsnorm § 14 StGB (insb. dessen Abs. 3) etc., der geltenden Rechtslage entsprechen, dann wird auch die Einführung einer Unternehmensstrafe nicht zu einer einschränkenden Anwendung bzw. Auslegung dieser Institute führen. Im Gegenteil: Zu erwarten ist, dass analoge, gleichfalls weitreichende Institute auf Unternehmensebene entwickelt werden, mithin ein (extensives) strafrechtliches Zwei-Ebenen-System (Unternehmen und Individuen) entsteht.
3. Welcher (Straf-)Zweck kann mit einem Unternehmensstrafrecht (nur) verfolgt werden?
Die Etablierung einer Verbandsstrafe wird heute überwiegend mit deren Präventionswirkung legitimiert.[5] Freilich ist die präventive Wirkung von Strafe insgesamt, erst recht die prospektive Wirkung einer (welcher?) Unternehmensstrafe ungeklärt.
Nimmt man zunächst den Strafzweck der (negativen) Generalprävention in den Blick,[6] so ist davon auszugehen, dass die Wirkungen einer Unternehmenssanktion für andere Unternehmen bzw. deren Repräsentanten vergleichbar sind mit der Wirkung einer Sanktion gegen eine Individualperson auf andere Individualpersonen. Darüber hinaus könnte sich eine generalpräventive Wirkung einstellen, wenn Rechtsgüter der Allgemeinheit verletzt werden. Der Strafzweck der Spezialprävention hingegen könnte erreicht werden, wenn sich ein sanktioniertes Unternehmen künftig in gleicher Weise davor hüten muss, rückfällig, also Wiederholungstäter, zu werden, wie dies für Individualpersonen gilt.[7] Darüber hinaus könnte der Strafzweck der Spezialprävention dazu führen, dass Unternehmen in noch stärkerem Maße als bislang Compliance-Strukturen als Präventionsinstrument installieren.[8]
Aber: Bei alledem ist freilich den zu erwartenden Strafzwecken einer Unternehmensstrafe die (general- bzw. spezial-) präventive Wirkung geltender Rechtsfolgen gegenüber zu stellen. Bereits das im Kontext der Verfallsanordnung geltende Bruttoprinzip stellt sich aus der Sicht vieler potenziell Betroffener als wirksames präventives Instrument dar. Ferner ist mit Blick auf die „Übelsauferlegung“ einer Verbandsgeldbuße gem. § 30 OWiG plausibel (schon mit Blick auf die Höchstsumme des Ahndungsteils in Höhe von 10 Mio EUR bei einer vorsätzlichen Straftat als Anknüpfungstat, § 30 Abs. 2 Nr. 1 OWiG), dass diese Maßnahme als echte Sanktion wahrgenommen wird, auch wenn die Geldbuße nach herkömmlicher Betrachtung im Gegensatz zu einer Kriminalstrafe kein sozialethisches Unwerturteil enthält.
Gerade an dieser Stelle ist ferner auch die „Sanktionierung durch Medienberichterstattung“ anzusprechen, welche Unternehmen und Unternehmensverbände im Kontext von Verbandsgeldbußen und auch im Kontext von Individualstrafverfahren gegen Repräsentanten heute regelmäßig trifft. Hierdurch entsteht ein dem Schuldspruch vorgelagertes sozialethisches Unwerturteil, welches häufig das spätere Unwerturteil und dessen Rezeption faktisch bei weitem übersteigt.
Überdies ist bereits heute das Strafbarkeitsrisiko und dadurch ausgelöst das Präventionsbedürfnis der Unternehmensrepräsentanten hoch. Mit Groß kann daher pointiert gesagt werden, dass derjenige „Manager, der die Begehung von Straftaten für ein kalkulierbares Risiko hält […] eher ärztlichen, denn anwaltlichen Rat“ benötigt.[9]
Im Übrigen fällt auf, dass die Diskussion um die generelle Erreichbarkeit der Strafzwecke bei einer Unternehmensstrafe im Kern eigentlich um die tieferliegende Frage kreist, ob die Unternehmensstrafe nicht eigentlich Unschuldige trifft, nämlich Stakeholder des betroffenen Unternehmens. Dies freilich ist nicht nur eine Frage der Strafzwecke, sondern eine manifeste Verletzung des materiellen Schuldprinzips. Ich komme darauf gleich näher zu sprechen, will an dieser Stelle aber immerhin anmerken, dass auch der von Kubiciel favorisierte retributive Ansatz im Sinne des Gedankens des Schuldausgleichs, wonach „Verbände, die vom Strafrecht geschützte Freiheiten genießen, sich nicht beschweren [könnten], wenn auf die ihnen zurechenbaren Gefährdungen der Freiheit mit Strafe reagiert“ werde,[10] dieses Dilemma nicht auflöst. Denn die Freiheitsgefährdung durch Verbände ist eben in der Sache die Freiheitsgefährdung durch Unternehmensrepräsentanten, die deren Sanktionierung nach sich ziehen sollte, und kann zwar ggf. normativ verbandsbezogen ausgelegt werden, es handelt sich dabei aber – zwingend – um Zurechnung oder sonstige Zuschreibung. Und dabei gilt schlicht: die Zurechnung fremder Schuld kann eine fehlende Schuldpotenzialität nicht ersetzen.[11]
Um der Problematik der Schuldzurechnung auszuweichen, wird teilweise eine originäre Verbandsstrafbarkeit gefordert. Dabei gilt mit Blick auf das Verschulden eines Verbandes in Form eines Organisationsverschuldens[12], dass es sich dabei um ein „Schuldanalogiemodell“ handelt,[13] bei dem im Falle der Bestrafung eines Verbandes in den in Rede stehenden verletzten Straftatbestand (mit einem Unterlassensappell: „Du sollst nicht stehlen oder Dich sonst strafbar machen!“) eine organisationsbezogene Norm (mit einem Begehungsappell: „Du sollst organisieren!“) inkorporiert wird, mit der Folge, dass das Organisationsverschulden den strafrechtlichen Schuldvorwurf qua Analogie auslöst. Das freilich hat mit dem Schuldprinzip, verstanden als Vorwurf, trotz individueller Vermeidbarkeit eine Strafnorm verletzt zu haben, nicht mehr zu tun, wenn es eigentlich nicht um die Verwirklichung der Straf-, sondern um die Verletzung der Organisationsnorm geht.
Dies führt unmittelbar zur Frage nach einer absoluten Schranke für die Unternehmensstrafe durch das Schuldprinzip.
III. Materielles Schuldprinzip als absolute Schranke für die Unternehmensstrafe?
In der aktuellen Diskussion wird von einem Lager noch immer das verfassungsrechtliche Schuldprinzip als unüberwindbare Hürde und damit als entscheidendes Argument gegen ein Unternehmensstrafrecht ins Feld geführt.[14] Das BVerfG hat sich in der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267, Rn. 364) wie folgt positioniert:
„Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Dieser setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG. Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität.“
Diese Worte sind deutlich. „No body to kick, no soul to damn“, könnte man auch sagen. Wenn jede Strafe Schuld voraussetzt, gibt es ohne Schuld keine Strafe und wenn dieses Prinzip in der Menschenwürde wurzelt, dann kann es ohne Menschenwürdebezug, und dadurch ausgelöst individuelle Verantwortlichkeit, keine Strafe geben.[15]
Von den Befürwortern eines Unternehmensstrafrechts wird um diese verfassungsrechtliche Perspektive „herumgesegelt“. Unter Verweis auf eine frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – dem sog. Bertelsmann-Lesering-Beschluss (BVerG NJW 1967, 195: zu § 890 ZPO) – wird ausgeführt, das Verfassungsgericht habe damals die Annahme geäußert, dass sich auch Unternehmen auf das verfassungsrechtliche Schuldprinzip berufen können, dieses aber nicht verletzt ist, wenn dem Unternehmen Schuld von Personen zugerechnet wird, die für das Unternehmen verantwortlich gehandelt haben. Ferner – so die Befürworter – müsse hinterfragt werden, ob und inwieweit sich Unternehmen auf das Schuldprinzip berufen können, gerade weil das BVerfG auch im Lissabon-Urteil das Schuldprinzip in einen tragenden Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie gebracht habe. Menschenwürde komme Unternehmen aber nicht zu, weil sich Unternehmen auch nicht auf die grund- und menschenrechtliche Dimension der Selbstbelastungsfreiheit berufen könnten. Dies spreche dafür, dass das verfassungsrechtliche Schuldprinzip eine Unternehmensstrafbarkeit entweder gar nicht oder nur in anderer Gestalt als bei Menschen begrenzt und ihr im Prinzip nicht entgegenstehe.[16]Denn das BVerfG habe sich in der Lissabon-Entscheidung nur mit dem Individualstrafrecht befasst. Das ist zwar vordergründig richtig und wenig überraschend, weil sich das BVerfG mangels existenter Unternehmensstrafe nicht mit einer solchen in einer verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung befassen konnte. Freilich müssten die Befürworter der Unternehmensstrafe erklären, wie die vorstehend zitierte Passage der Lissabon-Entscheidung mit Blick auf eine ggf. künftige Geltung einer Unternehmensstrafe umformuliert werden könnte: „Das Individualstrafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Das Unternehmensstrafrecht hingegen beruht nicht auf diesem materiellen Schuldgrundsatz, sondern […?].“. Ferner: „Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne; für das Unternehmensstrafrecht bestimmt […Art. 20 Abs. 3 GG?] die Auffassung vom Wesen [welchem?] der Strafe und das Verhältnis von [Verantwortlichkeit?] und Sühne.“ Sollte das realistisch sein?
Die Diskussion macht zumindest deutlich – insoweit dürfte Einigkeit bestehen –, dass die Strafbarkeit von Unternehmen mit dem in Deutschland etablierten sozialethischen Verständnis von Schuld nicht vereinbar ist.
Man müsste sich dementsprechend auch in Deutschland darauf verständigen, „Schuld“ im Sinne von Organisationsfehlern[17] bzw. als Betriebsführungsschuld lediglich zuzurechnen oder Schuld als sozial orientiertes Konstrukt anzuerkennen. Selbst wenn das BVerfG diesen Schritt mittragen sollte, würde eine solche Relativierung bzw. Funktionalisierung von Schuld Folgeprobleme für das Strafrecht insgesamt aufwerfen, die nicht ansatzweise absehbar sind.
Bleiben schuldunabhängige Ansätze in den Blick zu nehmen, namentlich die im Schrifttum schon seit längerem geforderte Unternehmenskuratel, wonach bei Feststellung organisatorischer Mängel anlässlich einer unternehmensbezogenen Straftat durch Gerichtsurteil ein Kurator quasi als magisches Auge mit Informationsrechten den gestörten Informationsfluss im Unternehmen optimieren soll, dessen Mängel als wesentliche Ursache der in Rede stehenden Unternehmenskriminalität angesehen werden.[18] Firmiere ein Unternehmen mit dem Zusatz „u.K.“ (= unter Kuratel), so stelle sich dadurch Prävention schon wegen der offensichtlich nachteiligen Folgen einer derartigen Firmierung ein.
Ich möchte an dieser Stelle dazu nur zwei Dinge anmerken: Erstens könnte eine solche Rechtsfolge der Unternehmenskuratel mit der beschriebenen präventiven Wirkung ohne weiteres auch im Ordnungswidrigkeiten- bzw. im Verwaltungsrecht Platz finden. Und auch an dieser Stelle ist vorrangig zu überlegen, ob nicht geltende Rechtsfolgen des Wirtschaftsverwaltungsrechts bereits ausreichend sind. Zweitens sollte sehr genau überlegt werden, ob wir den derzeitigen Kanon schundunabhängiger Rechtsfolgen, namentlich die Maßregeln der Besserung und Sicherung, erweitern, weil auch eine solche Erweiterung zu einer Relativierung des Schuldprinzips führt. Dies ist auch meine – hier freilich bestenfalls kursorische – Antwort auf das „Unternehmensinterventionsrecht“ von Schmitt-Leonardy mit den Rechtsfolgen der Wiedergutmachung und der Unternehmenskorrektur, verstanden als Korrektur des Unternehmenskurses, durch Publizität und durch eine gestaffelte Unternehmenskuratel.[19]
Ferner stellt sich die Unternehmensstrafe als Kollektivstrafe dar,[20] jedenfalls dann, wenn es keine eigene, übergeordnete Verbandsstruktur gibt:
Durch die Verbandsstrafe wird unbeteiligter Anteilseigner und unschuldige Mitarbeiter, mithin unschuldige Stakeholder, unmittelbar getroffen. Es liegt auf der Hand, dass Stakeholder, die mit den jeweiligen Zuwiderhandlungen in keinerlei Bezug stehen, durch alle in Betracht kommenden Verbandssanktionen unmittelbar getroffen werden, also auch dann, wenn sie weder einen Bezug zum operativen Geschäft haben, noch in die Organisation des Unternehmens eingebunden sind, also auch für Organisationsmängel nicht verantwortlich sein können.
Zwar ist es durchaus zutreffend, dass etwa eine Geldstrafe gegen einen Familienvater mittel auch dessen Ehefrau bzw. die gemeinsamen Kinder betrifft, weil auch deren Lebensverhältnisse für einen bestimmten Zeitraum eingeengt sind. Dabei handelt es sich jedoch um mittelbare, gewissermaßen unerwünschte Nebenfolgen einer Kriminalstrafe gegen eine natürliche Person. Bei den Verbandssanktionen wird unmittelbar der Verband getroffen hinter dem freilich ebenso unmittelbar die Vermögensinteressen der Gesellschafter, Anteilseigner bzw. sonstigen Stakeholder stehen. Dies ist mit dem materiellen Schuldprinzip unvereinbar.
IV. Ehrlichkeit in der Diskussion
1. Was leistet das geltende Recht, namentlich §§ 30, 130 OWiG, und was leistet es nicht?
Es ist daran zu erinnern, dass der Bußgeldrahmen des § 30 OWiG erst jüngst durch das Achte Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.06.2013 von 1.000.000,00 € auf 10.000.000,00 € erhöht wurde (BGBl. 1, S. 1738). Diesen Schritt hat der Gesetzgeber für notwendig erachtet, gerade um Verbände „unrechtsadäquat“ zu sanktionieren. Ferner ist davon auszugehen, dass die Zahlungsverpflichtung als solche und deren Höhe entscheidend ist für Verbände, weniger deren Rechtsnatur.
Darüber hinaus stellt das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht gerade auch im europäischen Kontext eine Art „Verwaltungsstrafrecht“ dar, was bereits dem Umstand entnommen werden kann, dass über Bußgeldbescheide im Falle eines erfolgten Einspruchs die Strafgerichte zu entscheiden haben, mit der Folge, dass das Ordnungswidrigkeitenrecht als „Strafrecht im weiteren bzw. im materiellen Sinne“ zu verstehen ist.
Wenn weiter die geringen Fallzahlen der Anwendung von Verbandsgeldbußen gemäß § 30 OWiG erwähnt werden, mag dies dem Grunde nach zutreffen. Diese Beobachtung zeigt aber allenfalls, dass es insoweit ein Anwendungsdefizit, kein Regelungsdefizit gibt.
Darüber hinaus ist mit Blick auf die geltende Rechtslage daran zu erinnern, dass Handlungsmöglichkeiten des Wirtschaftsverwaltungsrechts neben dem Widerruf einer erteilten Genehmigung, auch die Untersagung bestimmter Tätigkeiten und auch die administrative Schließung des Unternehmens (§ 20 MSchG, § 35 GewO) beinhalten können und weiter auch die Zwangsauflösung und Löschung im Handelsregister (§§ 61, 62 GmbHG, § 396 AktG).[21]
2. Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts?
Die vorstehenden Befunde legen eine Aufwertung der Regelungsmaterie Ordnungswidrigkeitenrecht, die historisch als Verwaltungsunrecht, weniger als „Strafzettel-Ordnung“ verstanden wurde, geradezu nahe:
Vorweg: Das im Ordnungswidrigkeitenrecht geltende Opportunitätsprinzip ist grundsätzlich dem Legalitätsprinzip mit Blick auf die Sanktionierung von Verbänden vorzuziehen. Allein mit Blick auf Unternehmen sind zahlreiche Konstellationen gerade mittelständischer Entitäten gegeben, bei denen eine überindividuelle Struktur nicht vorliegt, mithin eine Sanktionierung über die Individuen hinaus a priori nicht veranlasst ist. Hier ist es sachdienlich, ein Bußgeldverfahren gegen den Verband gar nicht einzuleiten. Freilich ist daran zu denken, für Unternehmenssanktionen das derzeit geltende eher freie Ermessen de lege ferenda einzuschränken hin zu einem gebundenen Ermessen (Wann ist einzuschreiten, wann sollte eine Sanktionierung erfolgen und wann eine Verfahrenseinstellung?).[22]
Mit Blick auf eine Neukonturierung des Ordnungswidrigkeitenrechts bietet sich an:
Es sollte zunächst Einigkeit bestehen, dass eine übergeordnete Verbandsstruktur eine essentielle Voraussetzung für die Verhängung von Verbandssanktionen ist (vgl. auch schon oben zur Geltung des Opportunitätsprinzips).
Ferner:
– Es sollten klare Sanktionsausschlussmöglichkeiten für den Verband etabliert werden. Insofern empfiehlt es sich, sich an Section 7, 2 des UK-Bribery Act 2010 und den dazu veröffentlichten Fallstudien (case studies)[23] zu orientieren, d.h. namentlich folgende Umstände (adequate procedures) zu berücksichtigen:
- Unternehmensbezogene, d.h. individuelle Compliance-Richtlinien und Compliance-Maßnahmen als Exkulpation bzw. als Ausschlussgrund für eine Pflichtverletzung
- Risikoeinschätzung/gebotene Sorgfalt (bereichsbezogen)
- Überwachung und Nachprüfung
– Eine gesetzliche Klarstellung, dass die jeweilige Höhe des Ahndungs- und ggf. des Abschöpfungsanteils einer Verbandsgeldbuße im Tenor der Bußgeldentscheidung zum Ausdruck gebracht wird.
– Mit Blick auf den Ahndungsteil der Verbandsgeldbuße sollten Sanktionszumessungskriterien eingeführt werden (vgl. etwa § 46 StGB), die eine klare Orientierung an den wirtschaftlichen Verhältnissen des betroffenen Unternehmens ermöglichen.
– Ferner sollte – beschränkt auf die Kalkulation der Verbandsgeldbuße – darüber nachgedacht werden, ob auch hier ein Tagessatzsystem (vgl. dazu § 40 StGB) implementiert wird, weil dieses eine zumindest ungefähre Belastungsgleichheit gewährleistet. Dadurch könnte auch dem gegenwärtigen „Wildwuchs“ begegnet werden, der darin besteht, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden die betroffenen Unternehmen häufig vor die Wahl stellen, entweder eine mehr oder weniger grob geschätzte, teils auch bewusst hoch angesetzte Verbandsgeldbuße zu akzeptieren oder rufschädigende und kostenintensive weitere Ermittlungen zu riskieren, zunehmend begleitet durch mediale Liveberichterstattung und durch offen zur Schau gestellte detaillierte Aktenkenntnis von Medienvertretern.
– Zu überlegen wäre weiter, die gerichtliche Zuständigkeit nach erfolgtem Einspruch gegen den (Verbands-) Bußgeldbescheid von dem mit komplexen und umfassenden Sachverhalten aus Kapazitätsgründen überforderten Amtsgericht auf ein Gericht höherer Ordnung zu übertragen. Dabei empfiehlt es sich, entsprechend den §§ 74, 74c GVG, die Zuständigkeit des Landgerichts zu begründen.
– Die Vereinfachungen der Hauptverhandlung, insbesondere mit Blick auf die Beweisaufnahme und das eingeschränkte Beweisantragsrecht (§§ 71, 77 ff. OWiG), sollten in Verfahren gegen Unternehmen keine Anwendung finden; vielmehr sollten die Vorschriften über die Beweisaufnahme der StPO volle Geltung haben.
V. Szenario eines Unternehmensstrafverfahrensrechts
Schließlich möchte ich noch kurz das aus meiner Sicht wahrscheinliche Szenario eines Unternehmensstrafverfahrensrechts beleuchten. Gerade vor dem Hintergrund des dann geltenden Legalitätsprinzips würde dies zu einer Flut von Strafverfahren gegen Verbände, gerade auch gegen kleine mittelständische Unternehmen, führen, welche die sog. Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege weiter an den Rand der Möglichkeiten bringen dürfte. Zu erwarten ist, dass die Einführung einer Verbandsstrafe daher zu einer weiteren Zunahme informeller Erledigungsformen (namentlich § 257c StPO) führen würde. Ebenso offensichtlich ist der Umstand, dass dadurch ein mit Blick auf Unternehmensstrukturen teilweise beklagtes „Präventionsdefizit“, welches gerade auch vor dem Hintergrund verfahrensbeendender Absprachen insgesamt gesehen wird, noch verstärkt würde.
Darüber hinaus ist für die (wenigen) Fälle, in denen Unternehmensstrafverfahren wirklich einmal streitig durchgeführt werden, zu erwarten, dass sich der Verband auf Kosten von Individualbeschuldigten verteidigen muss (Selbstreinigung) und umgekehrt Individualbeschuldigte ihr Heil im Angriff gegen den Verband suchen werden, wenn sie nicht zuvor durch arbeitsrechtliche Zusicherungen „ruhiggestellt“ worden sind. Die mit Blick auf die geltende Rechtslage beschriebene Gefahr von Bauernopfern (in Gestalt von Individualpersonen, d.h. Arbeitnehmern) besteht also gerade erst dann, wenn eine Verbandsstrafe eingeführt wird und sich Verbände auf dem Rücken von Individualbeschuldigten verteidigen werden. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten zeigen, dass gerade dies zu erwarten ist.
VI. Fazit
Die Reform des Ordnungswidrigkeitenverfahrens, das zu Verbandsgeldbußen mit durch die betroffenen Unternehmen selbst beeinflussbaren Sanktionsausschlussgründen führen kann, bietet sich als geeigneter Weg an.
Die Folgen der Einführung eines Unternehmensstrafrechts würden zweierlei bedeuten: Erstens eine Funktionalisierung strafrechtlicher Prinzipien,[24] erst recht des Schuldprinzips, und zweitens eine Zunahme an Informalität. Der „Preis“ der Einführung einer Verbandsstrafe besteht also darin, dass sich das Strafrecht zu einem allgemeinen Interventionsrecht entwickeln würde. Wollen wir das? Und: dürfen wir das wollen?
[1] So etwa der Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17.09.2013 (https://www.justiz.nrw.de/JM/justizpolitik/jumiko/beschluesse/2013/herbstkonferenz13/zw3/TOP_II_5_Gesetzentwurf.pdf), S. 1, 20.
[5] Alwart, ZStW 105 (1993), 752 (772); Dannecker, FS-Böttcher, 2007, S. 465 (483); Wessing, ZWH 2012, 301 (305); Kubiciel, ZRP 2014, 133.
[6] Vgl. auch Engelhardt, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2010, S. 541 ff. gerade zur Diskussion in den USA.
[7] Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S. 18 ff.; Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Verbänden, 1993, S. 17; Tiedemann, NJW 1988, 1170.
[8] Vgl. dazu bereits Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 4. Aufl. 2014, Kapitel 1 Rn. 123.
[12] Maßgeblich Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 375 ff.
[13] Schünemann, ZIS 2014, 1 (4); weitere Nachweise ders., Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, vor § 25 Rn. 24.
[14] Eindrucksvoll Neumann, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 13 ff.; vgl. in diesem Band auch Lüderssen, S. 79 ff.; Sachs, S. 195 ff.; Schulz, S. 403 ff.; Theile, S. 175 ff.
[15] Vgl. auch Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, 2013, Rn. 756 unter Bezugnahme auf Pawlik, Person, Subjekt, Bürger – Zur Legitimation von Strafe, 2004, S. 76 ff.
[16] So maßgeblich Vogel, StV 2012, 427 (429); ders. in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 205 (208).
[20] Vgl. aber Lüderssen, Interventionsrecht gegen Unternehmen? – Skizze eines neuen Haftungstypus, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 387 (390); Schmitt-Leonardy (o. Fn. 15), Rn. 875 mit Blick auf die Sanktionierung von Arthur Andersen, und Rn. 714 ff.
[21] Jahn, F.A.Z. vom 31.11.2013: „Niemand sollte aber so tun, als wäre der Staat ansonsten gegenüber straffälligen Unternehmen machtlos. Die Gewerbeaufsicht kann jede Lackbude schließen, die die Umwelt verseucht […].“
[22] Vgl. auch Maas, Rede: Eröffnung Symposium zur Verbandsverantwortlichkeit, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Reden/DE/2014/20141201_Verbandsverantwortlichkeit.html?nn=3433226.
[24] Das kann ferner anhand der aktuellen Diskussion zur Frage gezeigt werden, ob juristischen Personen und Personenvereinigungen in einem Strafverfahren die Selbstbelastungsfreiheit zustehen muss oder nicht. Bekanntlich hat der Gesetzgeber des § 81a GWB aus dem Jahre 2013 hierzu geregelt, dass juristische Personen und Personenvereinigungen in Bußgeldverfahren nach GWB über ihre Umsätze Auskünfte erteilen müssen, auch wenn sie sich dadurch der Ahndung mit einer Geldbuße aussetzen (vgl. auch BGH vom 23.01.2014 – KRB 48/13). In der Gesetzesbegründung ist ausgeführt, die Verfassung garantiere solchen Verbänden die Selbstbelastungsfreiheit nicht: „Die Selbstbelastungsfreiheit ist Ausdruck der Garantie der Menschenwürde, die auf juristische Personen und Personenvereinigungen nicht wesensgleich im Sinne von Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes anwendbar ist“, BT-Drucks. 17/9852 vom 31.5.2012, S. 35. Gerade dieser Gedanke wird daher im jüngsten Schrifttum auch auf die Frage der Geltung von nemo tenetur für Verbände in Strafverfahren angewandt, vgl. Fink, wistra 2014, 457 ff.