Dr. Marc Engelhart

Anmerkung zu OLG München, Beschl. v. 23.9.2014 – 3 Ws 599/14, 3 Ws 600/14

Zur Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft nach § 130 OWiG im faktischen Konzern

I. Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung des OLG München ist die Frage der aufsichtsrechtlichen Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft nach § 130 OWiG im Konzernverhältnis, wenn in einer Tochtergesellschaft Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen werden.

Die Staatsanwaltschaft Landshut hatte Anklage gegen mehrere verantwortliche Mitarbeiter der CAP Flughafen München Sicherheits GmbH (CAP) und die CAP selbst als Nebenbeteiligte erhoben. Die Anklage lautete auf die strafbare Vorenthaltung von Lohnnebenkosten seitens der Geschäftsführer der CAP im Rahmen eines Lohnsplittingmodells. Die Flughafen München GmbH (FMG) hielt 76,1% der Anteile an der CAP und hatte mit dieser eine „personelle Verflechtung“, es bestand jedoch kein Beherrschungsvertrag. Der FMG warf die Anklage als weiterer Nebenbeteiligten vor, durch Handeln eines vertretungsberechtigten Organs fahrlässig die notwendigen Aufsichtsmaßnahmen als „faktische Konzernmutter“ zur Unterbindung des Lohnsplittingmodells unterlassen zu haben (§§ 130, 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Dem dritten Nebenbeteiligten V, der einer von drei Geschäftsführer der FMG wie auch Aufsichtsratsvorsitzender der CAP war, wurde der Vorwurf gemacht, persönlich fahrlässig als vertretungsberechtigtes Organ die erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen unterlassen zu haben, die das unzulässige Lohnsplitting verhindert hätten (§§ 130, 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG).

Die mit dem Fall befasste Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Landshut hat die Anklage nur hinsichtlich der verantwortlichen Mitarbeiter der CAP und hinsichtlich der CAP als Nebenbeteiligte zugelassen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Nebenbeteiligte FMG und den V aber abgelehnt, da keine Aufsichtspflicht seitens der FMG bestanden habe. Die Staatsanwaltschaft München hat gegen die Nichteröffnung des Hauptverfahrens sofortige Beschwerde eingelegt, die vom OLG München als unbegründet verworfen wurde.

II. Entscheidungsgründe

Das OLG München stellt zunächst fest, dass kein Beherrschungsvertrag zwischen der FMG und der CAP geschlossen wurde, so dass das Tochterunternehmen insoweit als rechtlich selbständig anzusehen ist. Sodann widmet es sich dem Aspekt der „faktischen“ Konzernstruktur. Ob aufgrund der persönlichen Verflechtung sowie der Beteiligung der FMG an der CAP eine „faktische“ Konzernstruktur vorliegt, lässt das Gericht letztlich aber offen, da die Ermittlungsergebnisse zumindest keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer solchen ergeben. Es bestehe auch grundsätzliche keine originäre gesellschaftsrechtliche Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft gegenüber dem Tochterunternehmen. Die Verantwortlichkeit könne zwar auf einer faktischen Konzernstruktur gründen, dafür genüge vorliegend aber weder die tatsächlich gegebene Beteiligung der FMG an der CAP noch die „personelle Verflechtung“. Es sei nicht gerechtfertigt, die Konzernmutter unter den vorliegend obwaltenden Umständen als eigentliche Betriebsinhaberin des Tochterunternehmens ansehen zu wollen und würde überdies „wegen unüberschaubarer Zurechnungskaskaden zu einer unzulässigen Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 130 OWiG führen“. Hierfür bestehe auch keinerlei Bedürfnis, weil die Verantwortlichen des Tochterunternehmens von § 130 OWiG selbst erfasst werden und die Verantwortlichen der Muttergesellschaft über § 9 OWiG gegebenenfalls auch sanktioniert werden können, sodass keine Sanktionslücke bestehe.

Das OLG führt dann weiter aus, dass die Anwendbarkeit des § 130 OWiG auf Konzernsachverhalte nicht pauschal beantwortet werden könne, sondern stets von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig sei. Für den Umfang der Aufsichtspflicht im Sinne des § 130 OWiG seien die tatsächlichen Verhältnisse im Konzern maßgeblich, weshalb auf die tatsächliche Einflußnahme der Konzernmutter auf die Tochtergesellschaft abzustellen sei. Nur wenn der Tochtergesellschaft von der Konzernmutter Weisungen erteilt werden, die das Handeln der Tochtergesellschaft beeinflussen, und dadurch die Gefahr der Verletzung betriebsbezogener Pflichten begründet werde, bestehe im Umfang dieser konkreten Einflußnahme eine gesellschaftsrechtliche Aufsichtspflicht der Konzernmutter. Soweit die Tochtergesellschaft in ihrer Willensbildung und Handlungsfreiheit nicht durch die Weisungen beeinflusst werde, verbleibe die Aufsichtspflicht im Sinne des § 130 OWiG trotz der Einbettung in den Konzern bei den Leitungspersonen der Tochtergesellschaft. Es bestehe keine schriftliche konzernrechtliche Vertragsvereinbarung zwischen der FMG und der CAP, wonach die FMG generell „durchregieren“ könne. Daher sei auf eine tatsächlich erfolgte Einflußnahme der Konzernmutter auf die Tochtergesellschaft im Einzelfall abzustellen, um eine unverhältnismäßige und unkalkulierbare Ausweitung der Aufsichtspflichten zu vermeiden und eine Kongruenz zwischen Einfluss und Verantwortlichkeit, also zwischen Herrschaft und Haftung, herzustellen.

Das OLG sah keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das von der CAP praktizierte Lohnsplittingmodell von der FMG durch tatsächliche Handhabung zum Konzernthema gemacht worden wäre, die FMG die Entscheidung hierüber an sich gezogen hätte und tatsächlich eine Steuerung der CAP durch die FMG in der Frage des Lohnsplittings erfolgte. Die CAP habe seit vielen Jahren ihre eigene interne Verwaltung und sei für ihre Personalsachen eigenständig zuständig gewesen. Die Verknüpfung beider Unternehmen durch einzelne Funktionsträger der CAP und der FMG, um eine bessere Steuerung der Tochtergesellschaften zu erreichen, die Weisung der FMG an die CAP, strikt auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes zu achten, die Tatsache, dass der FMG die interne Kostenstruktur der CAP bekannt gewesen war und dass bei Verhandlungen der FMG über Preise letztendlich über die der CAP zustehenden Gewinnmargen mitverhandelt wurde, stehe dem nicht entgegen. Diese Aspekte beträfen gerade nicht das Lohnsplitting.

Die persönliche Beteiligung des V an der Angelegenheit sieht das OLG als nicht so umfassend an, als dass dieser die Kompetenz für die Entscheidung zum Lohnsplittingmodell als Konzernangelegenheit der FMG an sich gezogen hätte. Die Gewerkschaft ver.di hatte wegen des Lohnsplittings eine Anfrage an die Geschäftsführung der FMG gerichtet, die FMG habe damit nach dem OLG also den Vorgang nicht selbst initiiert. Die FMG Geschäftsführung hatte das Schreiben von ver.di an ihre Rechtsabteilung wie an die CAP weitergeleitet, so dass – nach dem OLG – V die rechtliche Überprüfung auch nicht selbst bearbeitet habe. Die FMG Rechtsabteilung empfahl der CAP die Einholung eines Rechtsgutachtens. Die Geschäftsführung der CAP hatte zwei Rechtsgutachten in eigener Verantwortlichkeit eingeholt, gegen zumindest ein Gutachten hatte die Rechtsabteilung der FMG auch Bedenken geäußert. Die Geschäftsführung der CAP entschied dann jedoch auf Grundlage der Gutachten, bei dem Lohnsplittingmodell zu bleiben, wenn der Aufsichtsrat der CAP einverstanden sei. V hat sich als Aufsichtsratsvorsitzender der CAP dieser Auffassung der CAP Geschäftsführung angeschlossen und in den Akten vermerkt, „damit sollte die Angelegenheit hinreichend geklärt sein“. Das OLG sieht in dem Verhalten des V weder eine billigende Beurteilung noch gar eine endgültige Entscheidung hinsichtlich der Beibehaltung des Lohnsplittingmodells. So habe insgesamt die FMG in der Frage der Zulässigkeit des von der CAP praktizierten Lohnsplittingmodells keinen maßgeblichen Einfluss auf die Willensbildung und Handlungsfreiheit der CAP ausgeübt, weshalb es im Falle der Strafbarkeit dieses Lohnsplittingmodells bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verantwortlichen der CAP verbleibe.

 

III. Anmerkung

Das OLG München behandelt mit seinen Ausführungen zur Aufsichtspflicht im Konzernverhältnis ein hochaktuelles Thema,[1] das insbesondere im Hinblick auf die Erfüllung von Compliance-Pflichten Gegenstand der Diskussion zu § 130 OWiG de lege lata[2] sowie de lege ferenda[3] ist. Der Gesetzgeber hat bislang in § 130 OWiG keine Regelung zur Lage im Konzern getroffen. Der Tatbestand spricht allein von „Betrieb“ oder „Unternehmen“. Eine hierzu vom Bundesrat geforderte Klarstellung zur Verantwortlichkeit der Konzernmutter im Rahmen der Beratungen zur 8. GWB-Novelle im Jahr 2012[4] hat die Bundesregierung (bedauerlicherweise) abgelehnt, da der bestehende Rechtsrahmen ausreiche.[5] Damit bleibt die Frage weiterhin vor allem der kontroversen Diskussion im Schrifttum überlassen.[6]

In der Rechtsprechung findet sich bislang keine klare Stellungnahme seitens des BGH, insbesondere nicht aus neuerer Zeit. Der BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1981 die Frage der aufsichtsrechtlichen Verantwortlichkeit einer Konzernobergesellschaft offengelassen und nur angeführt, dass einer solchen Verantwortlichkeit die Rechtspersönlichkeit des Tochterunternehmens (in diesem Fall eine GmbH), die damit selbst Inhaberin des Gesellschaftsunternehmens sei, entgegenstehen könne.[7] Im Jahr 1994 stellte der BGH schließlich darauf ab, dass der „Unternehmensträger“ der eigentliche Adressat des § 130 OWiG sei,[8] was für eine Konzernverantwortlichkeit zumindest bei abhängigen Gesellschaften spricht.[9] Das OLG Jena hat im Jahr 2009 in einem zivilrechtlichen Verfahren zudem festgestellt, dass im Konzern dem Geschäftsführer der Muttergesellschaft die Überwachung der Tochtergesellschaften sowie die Einrichtung bestimmter Kontrollmechanismen obliegt.[10] Die bisherige Rechtsprechung hat sich damit nur ansatzweise mit der Thematik befasst. Die Entscheidung des OLG München ist daher eine der wenigen Fälle, in denen sich ein Gericht überhaupt näher mit der Konzernthematik bei § 130 OWiG auseinandersetzt, was ihr allein dadurch Bedeutung zukommen lässt. Auch wenn das Gericht bemüht ist, keine allgemeinen Grundsätze zur Verantwortlichkeit innerhalb des Konzerns aufzustellen und spezifisch auf den vorliegenden Einzelfall abzustellen, so lassen sich doch einige Grundlinien erkennen.

Ohne dass sich das Gericht mit der Frage überhaupt auseinandersetzt, geht es davon aus, dass eine Konzernobergesellschaft grundsätzlich durchaus eine Aufsichtspflicht gegenüber einer Tochtergesellschaft haben kann. Die Aufsichtspflicht wird dabei als echtes Tatbestandsmerkmal behandelt. Dies ist keineswegs selbstverständlich, da sich im Schrifttum hierzu auch zahlreiche ablehnende Ansichten zu einer Aufsicht der Muttergesellschaft finden.[11] Allerdings bilden Konzerne eine eigene wirtschaftliche Organisationseinheit mit eigener Zwecksetzung und Leitung, so dass sie durchaus dem Typus des Unternehmens iSv. § 130 OWiG entsprechen.[12] Die Mehrheit des Schrifttums schließt daher eine Aufsichtspflicht nicht gänzlich aus, beschränkt diese aber auf bestimmte (zum Teil nur wenige) Fallkonstellationen,[13] wie die 100 prozentige Inhaberschaft[14] oder den Konzernbereich (d.h. unter Ausschluss der inneren Organisation der Tochtergesellschaft)[15]. Die entscheidende Frage ist somit, welche Konstellationen das OLG hier als erfasst ansieht.

Das OLG differenziert, ohne dies systematisch herauszuarbeiten, zwischen Konzernen mit Beherrschungsvertrag und faktischen Konzernstrukturen, zwischen gesellschaftsrechtlicher und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Betrachtung. Da ein Beherrschungsvertrag vorliegend nicht bestand, konnte das Gericht nur auf faktische Konzernstrukturen abstellen. In dieser Differenzierung allein klingt aber an, dass das Gericht bei einem Beherrschungsvertrag andere Kriterien angelegt hätte. Diese ist auch plausibel, da ein Beherrschungsvertrag iSv. § 291 AktG grundsätzlich die Leitung der Tochtergesellschaft zum Gegenstand hat. Damit korreliert dann aber auch eine entsprechende Verpflichtung zur rechtmäßigen Leitung und Aufsicht über die Vorgänge innerhalb der Tochtergesellschaft , so dass hier § 130 OWiG anwendbar ist.

Das OLG spricht in seinen einleitenden Ausführungen die „gesellschaftsrechtliche Aufsichtspflicht“ an und wendet sich dann im Anschluss der „Anwendbarkeit des § 130 OWiG auf Konzernsachverhalte“ zu. Hier wird nunmehr deutlich, dass das Gericht die gesellschaftsrechtliche Situation nicht außer Betracht lässt, aber die Frage der Einbeziehung von Konzernen in den § 130 OWiG letztlich davon unabhängig vornimmt. Dies ist nachvollziehbar, da auch das Gesellschaftsrecht nur bedingt Klarheit schaffen kann. Ein Konzern kann aus gesellschaftsrechtlicher Sicht dem engen Verständnis des § 18 AktG folgen, aber auch der deutlich weiteren Begrifflichkeit des § 15 AktG zu verbundenen Unternehmen, sowie dem (noch weiteren) Ansatz zum faktischen Konzern in § 311 AktG.[16] Indem das OLG die Terminologie „faktischer Konzernstrukturen“ aufnimmt, klingt zwar der Bezug zu § 311 AktG an, das Gericht bezieht sich jedoch auf keine gesellschaftsrechtliche Norm oder Rechtsprechung. Im Ergebnis erfolgt damit die Bestimmung des Konzerns bei § 130 OWiG nicht gesellschaftsrechtsakzessorisch, sondern autonom ordnungswidrigkeitenrechtlich, wenn auch auf gesellschaftsrechtlicher Basis. Dies entspricht der verbreiteten Ansicht im Schrifttum.[17] Die autonome Begriffsbestimmung ist letztlich nicht zu beanstanden, da mangels klarer gesellschaftsrechtlicher Vorgaben kein Gebot im Sinne der einheitlichen Auslegung der Rechtsordnung zu konstatieren ist und § 130 OWiG mit dem Ansatz, Aufsichtspflichten innerhalb bestimmter wirtschaftlich verfestigter Strukturen zu normieren, auch andere Ziele als das AktG mit Herstellung der gesellschaftsrechtlichen Ordnung verfolgt.

Im faktischen Konzern sind nunmehr nach dem OLG weder die personelle Verflechtung noch die Beteiligungsverhältnisse an der Tochter entscheidend für eine mögliche Verantwortlichkeit nach § 130 OWiG. Dies würde ansonsten zu einer zu weiten Ausdehnung des Verantwortlichkeitsbereichs des § 130 OWiG führen. Dies erscheint sachgerecht, nicht allein wie vom OLG ausgeführt wegen des ansonsten zu weiten Anwendungsbereichs, sondern allein deswegen, weil beide Aspekte nicht klar den Umfang bestimmen können, in denen das Mutterunternehmen Einfluss auf die Tochtergesellschaft hat. Auch bei einer 100 prozentigen Beteiligung kann diese auf den vermögensrechtlichen Aspekt beschränkt sein und keine Einflussnahme auf die Geschäftsführung umfassen. Ebenso kommt es im Rahmen der personellen Verflechtung im Detail darauf an, welcher Art diese ist und auf welcher Ebene diese stattfindet.

Im Ergebnis zu Recht kommt daher das OLG zu dem Schluss, dass es bei faktischen Konzernstrukturen vor allem auf die Frage einer tatsächlichen Einflussnahme der Muttergesellschaft auf die Tochter ankommt, die dann wiederum mit einer entsprechenden Aufsichts- und Kontrollfunktion korreliert. Es geht somit, wenn keine weiteren gesellschaftsrechtlichen Pflichten ableitbar sind, um die gelebte Praxis. Damit stellt das OLG auch klar, dass es aus seiner Sicht keine generelle Konzernüberwachungspflicht hinsichtlich der Einhaltung straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Normen in Tochterunternehmen gibt. Bedauerlicherweise stellt das OLG hier keinen Bezug zur aktuellen Compliance-Diskussion her, bei der gerade aus § 130 OWiG zum Teil doch sehr weitgehende Compliance-Pflichten abgeleitet werden.[18] Als caveat gegenüber dem Ansatz des OLG ist zudem anzuführen, dass allein die Nichteinmischung seitens der Muttergesellschaft nicht dazu führen kann, dass keine Aufsichtspflicht besteht. Vielmehr kann der Ansatz nur insoweit tragen, dass – bei der Vielgestalt der Formen innerhalb eines faktischen Konzerns – Rücksicht darauf genommen wird, inwieweit und in welchen Bereichen die Obergesellschaft in die Tochtergesellschaft in der Praxis „hineinregiert“, was von der faktischen Mitgeschäftsführung über einzelne Weisungen bis hin zur fast völligen Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft reichen kann. In Bereichen, in denen die Obergesellschaft bestimmte Aufgaben für die Tochter wahrnimmt oder durch Weisungen etc. mitentscheidet, ist sie aber auch besonders zur Überwachung und Kontrolle der Rechtseinhaltung verpflichtet. Im Übrigen hat sie eine Pflicht möglichen Verstößen nachzugehen, soweit sie hiervon konkrete Kenntnis im Einzelfall erlangt, die eine Zuverlässigkeit der Geschäftsleitung der abhängigen Gesellschaft in Frage stellt.[19]

Das OLG hat nunmehr nachvollziehbar keine ausreichenden Umstände gesehen, in denen die Muttergesellschaft für die Tochter Aufgaben wahrgenommen hätte. Die Gestaltung des Vergütungsmodells mit dem Lohnsplitting wurde unabhängig in der Tochtergesellschaft abgewickelt wie auch die Verwaltung inklusive der Personalangelegenheiten selbständig durchgeführt wurde. Weniger nachvollziehbar ist jedoch die Annahme des OLG, dass der Muttergesellschaft – obwohl sie positiv Kenntnis z.B. seitens ver.di von den Bedenken gegen das Lohnsplittingmodell hat – keine besondere Kontrollpflicht erwachsen ist. Die Geschäftsführung der FMG hatte Kenntnis von den Bedenken, die Rechtsabteilung der FMG hatte selbst Bedenken und der V war über den Aufsichtsrat auch direkt mit der Thematik befasst, die für ihn als Geschäftsführer der FMG bereits von Relevanz war. Dass aus diesen Umständen keine Pflicht seitens der FMG, insbesondere des V erwachsen solle, aktiv den Aspekten in der Tochtergesellschaft nachzugehen und in diesem Punkt eine vertiefte Aufsichtsfunktion wahrzunehmen, ist äußerst zweifelhaft. Insgesamt stellt das OLG hier besonders hohe Hürden für die Staatsanwaltschaft auf, wenn sie selbst eine vertiefte Befassung seitens der Muttergesellschaft mit dem in Frage stehenden delinquenten Verhalten in der Tochtergesellschaft nicht für die Begründung der Aufsichtspflicht ausreichen lässt. Diese restriktive Haltung mag daran liegen, dass – wie das OLG auch anführt – der Geschäftsführer des Mutterunternehmens über § 9 OWiG auch Beteiligter einer Aufsichtspflichtverletzung des vertretungsberechtigten Organs des Tochterunternehmens sein könne (was vorliegend jedoch nicht geprüft wird). Dies setzt jedoch eine vorsätzliche Beteiligung iSd § 14 voraus, die ein deutliches Mehr gegenüber der auch fahrlässig möglichen Außerachtlassung der Aufsicht in § 130 OWiG darstellt und damit auf andersartiges „deliktisches“ Verhalten zielt.

Mit seiner Entscheidung leistet das OLG München im Bereich der Aufsichtspflichten innerhalb von Konzernverhältnissen insoweit Pionierarbeit, als es die erste vertieftere Auseinandersetzung mit der Thematik seitens der Rechtsprechung ist und auch erste Klarstellungen bezüglich der Reichweite des § 130 OWiG bringt. Wünschenswert für die weitere Entwicklung ist nunmehr die Herausarbeitung klarerer Fallgruppen z.B. hinsichtlich verschiedener Formen des Vertragskonzerns und des faktischen Konzerns sowie die Bestimmung der Kriterien, die für eine Einflussnahme in die Sphäre des Tochterunternehmens seitens der Muttergesellschaft und damit für die Begründung der Aufsichtspflicht besonders relevant sind.

Zur Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft nach § 130 OWiG im faktischen Konzern

I. Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung des OLG München ist die Frage der aufsichtsrechtlichen Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft nach § 130 OWiG im Konzernverhältnis, wenn in einer Tochtergesellschaft Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen werden.

Die Staatsanwaltschaft Landshut hatte Anklage gegen mehrere verantwortliche Mitarbeiter der CAP Flughafen München Sicherheits GmbH (CAP) und die CAP selbst als Nebenbeteiligte erhoben. Die Anklage lautete auf die strafbare Vorenthaltung von Lohnnebenkosten seitens der Geschäftsführer der CAP im Rahmen eines Lohnsplittingmodells. Die Flughafen München GmbH (FMG) hielt 76,1% der Anteile an der CAP und hatte mit dieser eine „personelle Verflechtung“, es bestand jedoch kein Beherrschungsvertrag. Der FMG warf die Anklage als weiterer Nebenbeteiligten vor, durch Handeln eines vertretungsberechtigten Organs fahrlässig die notwendigen Aufsichtsmaßnahmen als „faktische Konzernmutter“ zur Unterbindung des Lohnsplittingmodells unterlassen zu haben (§§ 130, 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Dem dritten Nebenbeteiligten V, der einer von drei Geschäftsführer der FMG wie auch Aufsichtsratsvorsitzender der CAP war, wurde der Vorwurf gemacht, persönlich fahrlässig als vertretungsberechtigtes Organ die erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen unterlassen zu haben, die das unzulässige Lohnsplitting verhindert hätten (§§ 130, 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG).

Die mit dem Fall befasste Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Landshut hat die Anklage nur hinsichtlich der verantwortlichen Mitarbeiter der CAP und hinsichtlich der CAP als Nebenbeteiligte zugelassen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Nebenbeteiligte FMG und den V aber abgelehnt, da keine Aufsichtspflicht seitens der FMG bestanden habe. Die Staatsanwaltschaft München hat gegen die Nichteröffnung des Hauptverfahrens sofortige Beschwerde eingelegt, die vom OLG München als unbegründet verworfen wurde.

II. Entscheidungsgründe

Das OLG München stellt zunächst fest, dass kein Beherrschungsvertrag zwischen der FMG und der CAP geschlossen wurde, so dass das Tochterunternehmen insoweit als rechtlich selbständig anzusehen ist. Sodann widmet es sich dem Aspekt der „faktischen“ Konzernstruktur. Ob aufgrund der persönlichen Verflechtung sowie der Beteiligung der FMG an der CAP eine „faktische“ Konzernstruktur vorliegt, lässt das Gericht letztlich aber offen, da die Ermittlungsergebnisse zumindest keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer solchen ergeben. Es bestehe auch grundsätzliche keine originäre gesellschaftsrechtliche Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft gegenüber dem Tochterunternehmen. Die Verantwortlichkeit könne zwar auf einer faktischen Konzernstruktur gründen, dafür genüge vorliegend aber weder die tatsächlich gegebene Beteiligung der FMG an der CAP noch die „personelle Verflechtung“. Es sei nicht gerechtfertigt, die Konzernmutter unter den vorliegend obwaltenden Umständen als eigentliche Betriebsinhaberin des Tochterunternehmens ansehen zu wollen und würde überdies „wegen unüberschaubarer Zurechnungskaskaden zu einer unzulässigen Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 130 OWiG führen“. Hierfür bestehe auch keinerlei Bedürfnis, weil die Verantwortlichen des Tochterunternehmens von § 130 OWiG selbst erfasst werden und die Verantwortlichen der Muttergesellschaft über § 9 OWiG gegebenenfalls auch sanktioniert werden können, sodass keine Sanktionslücke bestehe.

Das OLG führt dann weiter aus, dass die Anwendbarkeit des § 130 OWiG auf Konzernsachverhalte nicht pauschal beantwortet werden könne, sondern stets von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig sei. Für den Umfang der Aufsichtspflicht im Sinne des § 130 OWiG seien die tatsächlichen Verhältnisse im Konzern maßgeblich, weshalb auf die tatsächliche Einflußnahme der Konzernmutter auf die Tochtergesellschaft abzustellen sei. Nur wenn der Tochtergesellschaft von der Konzernmutter Weisungen erteilt werden, die das Handeln der Tochtergesellschaft beeinflussen, und dadurch die Gefahr der Verletzung betriebsbezogener Pflichten begründet werde, bestehe im Umfang dieser konkreten Einflußnahme eine gesellschaftsrechtliche Aufsichtspflicht der Konzernmutter. Soweit die Tochtergesellschaft in ihrer Willensbildung und Handlungsfreiheit nicht durch die Weisungen beeinflusst werde, verbleibe die Aufsichtspflicht im Sinne des § 130 OWiG trotz der Einbettung in den Konzern bei den Leitungspersonen der Tochtergesellschaft. Es bestehe keine schriftliche konzernrechtliche Vertragsvereinbarung zwischen der FMG und der CAP, wonach die FMG generell „durchregieren“ könne. Daher sei auf eine tatsächlich erfolgte Einflußnahme der Konzernmutter auf die Tochtergesellschaft im Einzelfall abzustellen, um eine unverhältnismäßige und unkalkulierbare Ausweitung der Aufsichtspflichten zu vermeiden und eine Kongruenz zwischen Einfluss und Verantwortlichkeit, also zwischen Herrschaft und Haftung, herzustellen.

Das OLG sah keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das von der CAP praktizierte Lohnsplittingmodell von der FMG durch tatsächliche Handhabung zum Konzernthema gemacht worden wäre, die FMG die Entscheidung hierüber an sich gezogen hätte und tatsächlich eine Steuerung der CAP durch die FMG in der Frage des Lohnsplittings erfolgte. Die CAP habe seit vielen Jahren ihre eigene interne Verwaltung und sei für ihre Personalsachen eigenständig zuständig gewesen. Die Verknüpfung beider Unternehmen durch einzelne Funktionsträger der CAP und der FMG, um eine bessere Steuerung der Tochtergesellschaften zu erreichen, die Weisung der FMG an die CAP, strikt auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes zu achten, die Tatsache, dass der FMG die interne Kostenstruktur der CAP bekannt gewesen war und dass bei Verhandlungen der FMG über Preise letztendlich über die der CAP zustehenden Gewinnmargen mitverhandelt wurde, stehe dem nicht entgegen. Diese Aspekte beträfen gerade nicht das Lohnsplitting.

Die persönliche Beteiligung des V an der Angelegenheit sieht das OLG als nicht so umfassend an, als dass dieser die Kompetenz für die Entscheidung zum Lohnsplittingmodell als Konzernangelegenheit der FMG an sich gezogen hätte. Die Gewerkschaft ver.di hatte wegen des Lohnsplittings eine Anfrage an die Geschäftsführung der FMG gerichtet, die FMG habe damit nach dem OLG also den Vorgang nicht selbst initiiert. Die FMG Geschäftsführung hatte das Schreiben von ver.di an ihre Rechtsabteilung wie an die CAP weitergeleitet, so dass – nach dem OLG – V die rechtliche Überprüfung auch nicht selbst bearbeitet habe. Die FMG Rechtsabteilung empfahl der CAP die Einholung eines Rechtsgutachtens. Die Geschäftsführung der CAP hatte zwei Rechtsgutachten in eigener Verantwortlichkeit eingeholt, gegen zumindest ein Gutachten hatte die Rechtsabteilung der FMG auch Bedenken geäußert. Die Geschäftsführung der CAP entschied dann jedoch auf Grundlage der Gutachten, bei dem Lohnsplittingmodell zu bleiben, wenn der Aufsichtsrat der CAP einverstanden sei. V hat sich als Aufsichtsratsvorsitzender der CAP dieser Auffassung der CAP Geschäftsführung angeschlossen und in den Akten vermerkt, „damit sollte die Angelegenheit hinreichend geklärt sein“. Das OLG sieht in dem Verhalten des V weder eine billigende Beurteilung noch gar eine endgültige Entscheidung hinsichtlich der Beibehaltung des Lohnsplittingmodells. So habe insgesamt die FMG in der Frage der Zulässigkeit des von der CAP praktizierten Lohnsplittingmodells keinen maßgeblichen Einfluss auf die Willensbildung und Handlungsfreiheit der CAP ausgeübt, weshalb es im Falle der Strafbarkeit dieses Lohnsplittingmodells bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verantwortlichen der CAP verbleibe.

 

III. Anmerkung

Das OLG München behandelt mit seinen Ausführungen zur Aufsichtspflicht im Konzernverhältnis ein hochaktuelles Thema,[1] das insbesondere im Hinblick auf die Erfüllung von Compliance-Pflichten Gegenstand der Diskussion zu § 130 OWiG de lege lata[2] sowie de lege ferenda[3] ist. Der Gesetzgeber hat bislang in § 130 OWiG keine Regelung zur Lage im Konzern getroffen. Der Tatbestand spricht allein von „Betrieb“ oder „Unternehmen“. Eine hierzu vom Bundesrat geforderte Klarstellung zur Verantwortlichkeit der Konzernmutter im Rahmen der Beratungen zur 8. GWB-Novelle im Jahr 2012[4] hat die Bundesregierung (bedauerlicherweise) abgelehnt, da der bestehende Rechtsrahmen ausreiche.[5] Damit bleibt die Frage weiterhin vor allem der kontroversen Diskussion im Schrifttum überlassen.[6]

In der Rechtsprechung findet sich bislang keine klare Stellungnahme seitens des BGH, insbesondere nicht aus neuerer Zeit. Der BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1981 die Frage der aufsichtsrechtlichen Verantwortlichkeit einer Konzernobergesellschaft offengelassen und nur angeführt, dass einer solchen Verantwortlichkeit die Rechtspersönlichkeit des Tochterunternehmens (in diesem Fall eine GmbH), die damit selbst Inhaberin des Gesellschaftsunternehmens sei, entgegenstehen könne.[7] Im Jahr 1994 stellte der BGH schließlich darauf ab, dass der „Unternehmensträger“ der eigentliche Adressat des § 130 OWiG sei,[8] was für eine Konzernverantwortlichkeit zumindest bei abhängigen Gesellschaften spricht.[9] Das OLG Jena hat im Jahr 2009 in einem zivilrechtlichen Verfahren zudem festgestellt, dass im Konzern dem Geschäftsführer der Muttergesellschaft die Überwachung der Tochtergesellschaften sowie die Einrichtung bestimmter Kontrollmechanismen obliegt.[10] Die bisherige Rechtsprechung hat sich damit nur ansatzweise mit der Thematik befasst. Die Entscheidung des OLG München ist daher eine der wenigen Fälle, in denen sich ein Gericht überhaupt näher mit der Konzernthematik bei § 130 OWiG auseinandersetzt, was ihr allein dadurch Bedeutung zukommen lässt. Auch wenn das Gericht bemüht ist, keine allgemeinen Grundsätze zur Verantwortlichkeit innerhalb des Konzerns aufzustellen und spezifisch auf den vorliegenden Einzelfall abzustellen, so lassen sich doch einige Grundlinien erkennen.

Ohne dass sich das Gericht mit der Frage überhaupt auseinandersetzt, geht es davon aus, dass eine Konzernobergesellschaft grundsätzlich durchaus eine Aufsichtspflicht gegenüber einer Tochtergesellschaft haben kann. Die Aufsichtspflicht wird dabei als echtes Tatbestandsmerkmal behandelt. Dies ist keineswegs selbstverständlich, da sich im Schrifttum hierzu auch zahlreiche ablehnende Ansichten zu einer Aufsicht der Muttergesellschaft finden.[11] Allerdings bilden Konzerne eine eigene wirtschaftliche Organisationseinheit mit eigener Zwecksetzung und Leitung, so dass sie durchaus dem Typus des Unternehmens iSv. § 130 OWiG entsprechen.[12] Die Mehrheit des Schrifttums schließt daher eine Aufsichtspflicht nicht gänzlich aus, beschränkt diese aber auf bestimmte (zum Teil nur wenige) Fallkonstellationen,[13] wie die 100 prozentige Inhaberschaft[14] oder den Konzernbereich (d.h. unter Ausschluss der inneren Organisation der Tochtergesellschaft)[15]. Die entscheidende Frage ist somit, welche Konstellationen das OLG hier als erfasst ansieht.

Das OLG differenziert, ohne dies systematisch herauszuarbeiten, zwischen Konzernen mit Beherrschungsvertrag und faktischen Konzernstrukturen, zwischen gesellschaftsrechtlicher und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Betrachtung. Da ein Beherrschungsvertrag vorliegend nicht bestand, konnte das Gericht nur auf faktische Konzernstrukturen abstellen. In dieser Differenzierung allein klingt aber an, dass das Gericht bei einem Beherrschungsvertrag andere Kriterien angelegt hätte. Diese ist auch plausibel, da ein Beherrschungsvertrag iSv. § 291 AktG grundsätzlich die Leitung der Tochtergesellschaft zum Gegenstand hat. Damit korreliert dann aber auch eine entsprechende Verpflichtung zur rechtmäßigen Leitung und Aufsicht über die Vorgänge innerhalb der Tochtergesellschaft , so dass hier § 130 OWiG anwendbar ist.

Das OLG spricht in seinen einleitenden Ausführungen die „gesellschaftsrechtliche Aufsichtspflicht“ an und wendet sich dann im Anschluss der „Anwendbarkeit des § 130 OWiG auf Konzernsachverhalte“ zu. Hier wird nunmehr deutlich, dass das Gericht die gesellschaftsrechtliche Situation nicht außer Betracht lässt, aber die Frage der Einbeziehung von Konzernen in den § 130 OWiG letztlich davon unabhängig vornimmt. Dies ist nachvollziehbar, da auch das Gesellschaftsrecht nur bedingt Klarheit schaffen kann. Ein Konzern kann aus gesellschaftsrechtlicher Sicht dem engen Verständnis des § 18 AktG folgen, aber auch der deutlich weiteren Begrifflichkeit des § 15 AktG zu verbundenen Unternehmen, sowie dem (noch weiteren) Ansatz zum faktischen Konzern in § 311 AktG.[16] Indem das OLG die Terminologie „faktischer Konzernstrukturen“ aufnimmt, klingt zwar der Bezug zu § 311 AktG an, das Gericht bezieht sich jedoch auf keine gesellschaftsrechtliche Norm oder Rechtsprechung. Im Ergebnis erfolgt damit die Bestimmung des Konzerns bei § 130 OWiG nicht gesellschaftsrechtsakzessorisch, sondern autonom ordnungswidrigkeitenrechtlich, wenn auch auf gesellschaftsrechtlicher Basis. Dies entspricht der verbreiteten Ansicht im Schrifttum.[17] Die autonome Begriffsbestimmung ist letztlich nicht zu beanstanden, da mangels klarer gesellschaftsrechtlicher Vorgaben kein Gebot im Sinne der einheitlichen Auslegung der Rechtsordnung zu konstatieren ist und § 130 OWiG mit dem Ansatz, Aufsichtspflichten innerhalb bestimmter wirtschaftlich verfestigter Strukturen zu normieren, auch andere Ziele als das AktG mit Herstellung der gesellschaftsrechtlichen Ordnung verfolgt.

Im faktischen Konzern sind nunmehr nach dem OLG weder die personelle Verflechtung noch die Beteiligungsverhältnisse an der Tochter entscheidend für eine mögliche Verantwortlichkeit nach § 130 OWiG. Dies würde ansonsten zu einer zu weiten Ausdehnung des Verantwortlichkeitsbereichs des § 130 OWiG führen. Dies erscheint sachgerecht, nicht allein wie vom OLG ausgeführt wegen des ansonsten zu weiten Anwendungsbereichs, sondern allein deswegen, weil beide Aspekte nicht klar den Umfang bestimmen können, in denen das Mutterunternehmen Einfluss auf die Tochtergesellschaft hat. Auch bei einer 100 prozentigen Beteiligung kann diese auf den vermögensrechtlichen Aspekt beschränkt sein und keine Einflussnahme auf die Geschäftsführung umfassen. Ebenso kommt es im Rahmen der personellen Verflechtung im Detail darauf an, welcher Art diese ist und auf welcher Ebene diese stattfindet.

Im Ergebnis zu Recht kommt daher das OLG zu dem Schluss, dass es bei faktischen Konzernstrukturen vor allem auf die Frage einer tatsächlichen Einflussnahme der Muttergesellschaft auf die Tochter ankommt, die dann wiederum mit einer entsprechenden Aufsichts- und Kontrollfunktion korreliert. Es geht somit, wenn keine weiteren gesellschaftsrechtlichen Pflichten ableitbar sind, um die gelebte Praxis. Damit stellt das OLG auch klar, dass es aus seiner Sicht keine generelle Konzernüberwachungspflicht hinsichtlich der Einhaltung straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Normen in Tochterunternehmen gibt. Bedauerlicherweise stellt das OLG hier keinen Bezug zur aktuellen Compliance-Diskussion her, bei der gerade aus § 130 OWiG zum Teil doch sehr weitgehende Compliance-Pflichten abgeleitet werden.[18] Als caveat gegenüber dem Ansatz des OLG ist zudem anzuführen, dass allein die Nichteinmischung seitens der Muttergesellschaft nicht dazu führen kann, dass keine Aufsichtspflicht besteht. Vielmehr kann der Ansatz nur insoweit tragen, dass – bei der Vielgestalt der Formen innerhalb eines faktischen Konzerns – Rücksicht darauf genommen wird, inwieweit und in welchen Bereichen die Obergesellschaft in die Tochtergesellschaft in der Praxis „hineinregiert“, was von der faktischen Mitgeschäftsführung über einzelne Weisungen bis hin zur fast völligen Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft reichen kann. In Bereichen, in denen die Obergesellschaft bestimmte Aufgaben für die Tochter wahrnimmt oder durch Weisungen etc. mitentscheidet, ist sie aber auch besonders zur Überwachung und Kontrolle der Rechtseinhaltung verpflichtet. Im Übrigen hat sie eine Pflicht möglichen Verstößen nachzugehen, soweit sie hiervon konkrete Kenntnis im Einzelfall erlangt, die eine Zuverlässigkeit der Geschäftsleitung der abhängigen Gesellschaft in Frage stellt.[19]

Das OLG hat nunmehr nachvollziehbar keine ausreichenden Umstände gesehen, in denen die Muttergesellschaft für die Tochter Aufgaben wahrgenommen hätte. Die Gestaltung des Vergütungsmodells mit dem Lohnsplitting wurde unabhängig in der Tochtergesellschaft abgewickelt wie auch die Verwaltung inklusive der Personalangelegenheiten selbständig durchgeführt wurde. Weniger nachvollziehbar ist jedoch die Annahme des OLG, dass der Muttergesellschaft – obwohl sie positiv Kenntnis z.B. seitens ver.di von den Bedenken gegen das Lohnsplittingmodell hat – keine besondere Kontrollpflicht erwachsen ist. Die Geschäftsführung der FMG hatte Kenntnis von den Bedenken, die Rechtsabteilung der FMG hatte selbst Bedenken und der V war über den Aufsichtsrat auch direkt mit der Thematik befasst, die für ihn als Geschäftsführer der FMG bereits von Relevanz war. Dass aus diesen Umständen keine Pflicht seitens der FMG, insbesondere des V erwachsen solle, aktiv den Aspekten in der Tochtergesellschaft nachzugehen und in diesem Punkt eine vertiefte Aufsichtsfunktion wahrzunehmen, ist äußerst zweifelhaft. Insgesamt stellt das OLG hier besonders hohe Hürden für die Staatsanwaltschaft auf, wenn sie selbst eine vertiefte Befassung seitens der Muttergesellschaft mit dem in Frage stehenden delinquenten Verhalten in der Tochtergesellschaft nicht für die Begründung der Aufsichtspflicht ausreichen lässt. Diese restriktive Haltung mag daran liegen, dass – wie das OLG auch anführt – der Geschäftsführer des Mutterunternehmens über § 9 OWiG auch Beteiligter einer Aufsichtspflichtverletzung des vertretungsberechtigten Organs des Tochterunternehmens sein könne (was vorliegend jedoch nicht geprüft wird). Dies setzt jedoch eine vorsätzliche Beteiligung iSd § 14 voraus, die ein deutliches Mehr gegenüber der auch fahrlässig möglichen Außerachtlassung der Aufsicht in § 130 OWiG darstellt und damit auf andersartiges „deliktisches“ Verhalten zielt.

Mit seiner Entscheidung leistet das OLG München im Bereich der Aufsichtspflichten innerhalb von Konzernverhältnissen insoweit Pionierarbeit, als es die erste vertieftere Auseinandersetzung mit der Thematik seitens der Rechtsprechung ist und auch erste Klarstellungen bezüglich der Reichweite des § 130 OWiG bringt. Wünschenswert für die weitere Entwicklung ist nunmehr die Herausarbeitung klarerer Fallgruppen z.B. hinsichtlich verschiedener Formen des Vertragskonzerns und des faktischen Konzerns sowie die Bestimmung der Kriterien, die für eine Einflussnahme in die Sphäre des Tochterunternehmens seitens der Muttergesellschaft und damit für die Begründung der Aufsichtspflicht besonders relevant sind.

[1] Vgl. bspw. Caracas, Verantwortlichkeit in internationalen Konzernstrukturen nach § 130 OWiG, 2014; Muders, Die Haftung im Konzern für die Verletzung des Bußgeldtatbestes des § 130 OWiG, 2014. Siehe auch Tschierschke, Die Sanktionierung des Unternehmensverbunds – Bestandsaufnahmen, Perspektiven und Europäisierung, 2013;

[2] Vgl. bspw. Frischemeier, Die Haftung geschäftsführender Organe für Compliance-Verstöße in Tochtergesellschaften, 2014, S. 140 ff.; Grundmeier, Rechtspflicht zu Compliance im Konzern, 2011; Kutschelis, Korruptionsprävention und Geschäftsleiterpflichten im nationalen und internationalen Unternehmensverbund, 2014; Petermann, Die Bedeutung von Compliance-Maßnahmen für die Sanktionsbegründung und -bemessung im Vertragskonzern, 2013; Vitorino Clarindo dos Santos, Rechtsfragen der Compliance in der internationalen Unternehmensgruppe, 2013.

[3] So vor allem im Entwurf des BUJ, Gesetzgebungsvorschlag für eine Änderung der §§ 30, 130 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) v. April 2014, der als Alternative zum Entwurf der Schaffung eines Verbandsstrafgesetzes seitens des Landes NRW gedacht ist.

[4] Vgl. das Achte Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-Novelle) v. 26.6.2013, BGBl. I S. 1738.

[5] Vgl. BT-Drs. 17/9852, S. 40 (Stellungnahme des Bundesrates), S. 49 (Gegenäußerung der Bundesregierung). Siehe auch Achenbach, wistra 2013, 369, 373; Keßler, WRP 2013, 1116, 1121.

[6] Göhler/Gürtler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 130 Rn. 5a; KK-OWiG/Rogall, 4. Aufl. 2014, § 130 Rn. 27; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, § 130 Rn. 5; J. Koch, AG 2009, 564; Mansdörfer/Timmerbeil, WM 2004, 369; Tiedemann, NJW 1986, 1842.

[7] BGH, Beschl. v. 01.12.1981 – KRB 3/79 -, WuW/E BGH, 1871, 1876 = MDR 1982, 461, 462 (Transportbeton-Vertrieb).

[8] BGH v. 13.04.1994 – II ZR 16/93 –, BGHZ 125, 366, 374 = NJW 1994, 1801.

[9] Vgl. J. Koch, AG 2009, 564 (567).

[10] OLG Jena v. 12.08.2009 – 7 U 244/07 –, NZG 2010, 226.

[11] Bspw. Brettel/Thomas, ZWeR 2009, 25; Deselaers, WuW 2006, 118, 123; Hermanns/Kleier, Grenzen der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen, 2007, S. 25; krit. auch J. Koch, AG 2009, 564, 573.

[12] Vgl. nur KK-OWiG/Rogall, § 130 Rn. 27 mwN.

[13] Achenbach, NZWiSt 2012, 321, 326 f.; Bock, ZIS 2009, 68, 71; Bohnert, OWiG, Rn. 7; W. Bosch, ZHR 177 (2013), 454, 466; Graf/Jäger/Wittig/Niesler, Wirtschaftsstrafrecht, § 130 OWiG Rn. 52 ff.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 105 f.; Wirtz, WuW 2001, 342, 347 ff.

[14] Tiedemann, NJW 1979, 1849, 1852.

[15] Bohnert, OWiG, § 130 Rn. 7; Göhler/Gürtler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 130 Rn. 5a; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 105; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, § 130 Rn. 5.

[16] Vgl. Hüffer, AktG, 11. Aufl. 2014, § 15 Rn. 2 mwN; J. Koch, AG 2009, 564, 566.

[17] KK-OWiG/Rogall, § 130 Rn. 27 f.; Graf/Jäger/Wittig/Niesler, Wirtschaftsstrafrecht, § 130 OWiG Rn. 52.

[18] Vgl. Bock, ZIS 2009, 68; Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, 2003, S. 127 ff.; B. Schmidt, Compliance in Kapitalgesellschaften, 2010, S. 70.

[19] Vgl. bspw. KK-OWiG-Rogall, § 130 Rn. 28; Wirtz, WuW 2001, 348 f.

Autorinnen und Autoren

  • Dr. Marc Engelhart
    Marc Engelhart leitet das Referat für Wirtschaftsstrafrecht am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg und ist zudem als selbständiger Rechtsanwalt tätig. Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Korruption, der Sanktionierung von Unternehmen und Fragen der Compliance.

WiJ

  • Dr. Carolin Raspé , Dr. Roland Stein

    Strafrechtliche Risiken bei der Sanktions- Compliance Teil 1

    Außenwirtschaftsrecht Kriegswaffenkontrollrecht

  • Sigrid Mehring-Zier

    Wirtschaftsvölkerstrafrecht in der europäischen Praxis – und Deutschland?

    Auslandsbezüge EU Internationales Strafrecht Rechtshilfe

  • Jakob Lehners

    Digitale Akteneinsicht in der Untersuchungshaft

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)