Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht

Jiaru Liu: Strafbarkeit von Organmitgliedern einer Aktiengesellschaft wegen treuwidrigen Verhaltens in China

Duncker & Humblot, Berlin 2011, zugleich Dissertation Heidelberg 2010

Liu widmet sich mit der Strafbarkeit von Organmitgliedern einer Aktiengesellschaft wegen treuwidrigen Verhaltens in China einer Thematik, die wegen der zunehmenden Öffnung Chinas für ausländische Investoren und Unternehmen stetig an Bedeutung gewinnt. China ist mittlerweile die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Als solche kommt auch ihrem Wirtschaftsstrafrecht wachsende Bedeutung zu. Liu erweitert mit ihrem Werk den in englischer und deutscher Sprache vergleichsweise schmalen Literaturbestand zum chinesischen (Wirtschafts-)Strafrecht.

Das Buch beschäftigt sich in sechs Kapiteln umfassend mit der Strafbarkeit des Vorstands und des Aufsichtsrats einer chinesischen Aktiengesellschaft nach – geltendem und in der Diskussion befindlichem − chinesischem Strafrecht.

Nach einer dissertationstypischen Einführung vermittelt die Autorin im zweiten Kapitel in gedrängter Form die Notwendigen Vorkenntnisse, indem sie die historische Entwicklung der Aktiengesellschaft in China sowie die besonderen Eigenschaften der chinesischen Aktiengesellschaft und deren Ursachen herausstellt. Eine wesentliche Besonderheit liegt in dem Umstand, dass oftmals der Staat der größte Aktionär chinesischer Aktiengesellschaften ist, der die Hauptversammlung und nicht selten auch (indirekt) den Vorstand und den Aufsichtsrat dominiert. Aufgrund dieser Situation greifen außerstrafrechtliche Mittel zum Schutz des Gesellschaftsvermögens, d.h. Mechanismen zur Kontrolle der Organe/Organglieder, nicht effektiv.

Im dritten Teil (Die Strafbarkeit der Organmitglieder einer AG wegen pflichtwidrigen Verhaltens in China) werden die einzelnen Tatbestände des chinesischen Strafgesetzbuchs dargestellt, die ein vorsätzliches treuwidriges Verhalten unter Strafe stellen. Ebenso wie im deutschen Recht besteht zwischen diesen Strafnormen und den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, die die Rechte und Pflichten der Organe bzw. Organteile festschreiben, ein enger Zusammenhang. In China ist die Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht gesetzlich normiertes oder ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der entsprechenden Tatbestände. Dementsprechend beginnt die Autorin dieses Kapitel zu Recht mit einer Darstellung der Funktionen der Organe und der gesellschaftsrechtlichen (Treue-)Pflichten der Organmitglieder. Die einzelnen Treue- und Sorgfaltspflichten werden für den Vorstand und den Aufsichtsrat im Detail dargestellt, Unterschiede bzw. Abgrenzungsfragen zwischen beiden Pflichtenstellung thematisiert sowie die daraus folgenden Implikationen aufgezeigt.

Hieran schließt sich die Darstellung der einzelnen Straftatbestände an, die ein treuwidriges Verhalten der Organmitglieder einer Aktiengesellschaft unter Strafe stellen (§§ 169 Abs. 2, 165, 166, 169 Abs. 1, 272, 167, 168 chinesisches StGB). Dabei versteht die Autorin unter einem treuwidrigen Verhalten sowohl eine Verletzung der Treue- als auch der Sorgfaltspflicht. Der Darstellung jeden Tatbestands ist der Gesetzestext auf Deutsch vorangestellt. Schon dies ist für den Leser ein Gewinn, weil der Zugang zu den Gesetzestexten des chinesischen Strafgesetzbuchs in deutscher oder englischer Sprache schwierig ist. Dies insbesondere, weil die verschiedenen Übersetzungen oftmals in Nuancen voneinander abweichen – Feinheiten, die je nach Fall entscheidend sein können. Sodann widmet sich die Autorin der Entstehungsgeschichte der jeweiligen Norm. Die hier vorgenommene Darlegung von (in China medial beachteten) Beispielsfällen aus der Praxis bzw. die Einordnung in den politisch-kulturellen Hintergrund gewährt dem Leser einen dankenswert wenig europäischen Blickwinkel.

Inhaltlich wird jeder Straftatbestand gegliedert nach seinen Tatbestandsmerkmalen erörtert. Die jeweiligen Problemfelder werden unter einem gesonderten Gliederungspunkt behandelt. Diese getrennte Darstellung ermöglicht es dem Leser, sich zunächst einen Überblick über die Norm zu verschaffen und seine Kenntnisse im Anschluss gezielt zu vertiefen. Während die Autorin in einigen Punkten, insbesondere zu der fehlenden Differenzierung zwischen der Treue- und der Sorgfaltspflicht der Organglieder und der daraus resultierende Ausdehnung der Strafbarkeit unternehmerischer Entscheidungen, eine durchaus kritische Betrachtung der Rechtslage in China vornimmt, vermisst der Leser an mancher Stelle eine eigene Bewertung der Autorin zu einem Meinungsstreit bzw. einer Problematik.

Das vierte Kapitel beinhaltet eine ausführliche Erörterung der Reformbedürftigkeit der Strafnormen bezüglich treuwidriger Handlungen der Organmitglieder im geltenden chinesischen Strafrecht und die Reformdiskussion im Schrifttum. Als allgemeine, d.h. normübergreifenden Aspekte, die ein Reformbedürfnis begründen, benennt Liu den unzureichenden strafrechtlichen Schutz nicht-staatlicher Gesellschaften vor treuwidrigem Verhalten der Organglieder, die Gesetzgebungstechnik in China, die strengen Strafdrohungen, die mit der Strafbarkeitsvoraussetzung eines „gravierenden Vermögensverlusts“ einhergehende gesetzliche Unbestimmtheit der Strafnormen sowie die divergierende Bewertung von Verhaltensweise als treuepflichtwidrig oder pflichtgemäß im chinesischen Gesellschaftsgesetz und dem chinesischen StGB. Im Anschluss werden die Reformvorschläge des chinesischen Schrifttums dargestellt und bewertet, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: Der Auffassung, an der derzeitigen Gesetzeslage mit einer Mehrzahl von Tatbeständen festzuhalten, steht die Meinung gegenüber, die eine umfassende Untreuenorm nach dem Vorbild des deutschen § 266 StGB einführen will.

Mit Blick auf die letztgenannte Auffassung stellt das fünfte Kapitel eine Rechtsvergleichende Betrachtung zu der Strafbarkeit der Organmitglieder einer Aktiengesellschaft wegen treuwidrigen Verhaltens im deutschen Recht an. Während der rein darstellende Teil zu den Tatbestandsmerkmalen des § 266 StGB und den dort bestehenden (bekannten) Problemen recht breit ausfällt, hätte man zu den Bezügen/Vergleichen mit dem chinesischen Recht gerne noch etwas mehr gelesen.

Interessant ist der im letzten Kapitel dargelegte eigene Reformvorschlag der Autorin, mit Blick auf die in Deutschland (verfassungsrechtlich) geforderte restriktive Auslegung des Untreuetatbestands in China eine spezielle Untreuenorm, konkret eine Organuntreuenorm, zu schaffen.

Insgesamt liegt der besondere Verdienst dieses Werks darin, dass es ein tiefergehendes Verständnis des chinesischen Strafrechtssystems ermöglicht. Um eine Strafnorm bzw. die – nicht selten gravierenden − Unterschiede zu seinem deutschen Pendant zu verstehen, ist die Kenntnis der gesellschaftlichen und rechtshistorischen Hintergründe vielfach unumgänglich. Ebendiese Einblicke in gesellschaftliche und politische Sichtweisen vermittelt Liu an vielen Stellen im Kontext ihrer Rechtsausführungen. Dadurch bringt sie dem Leser das Rechtsverständnis und die Strafrechtssystematik Chinas ein Stück weit näher.

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Duncker & Humblot, Berlin 2011, zugleich Dissertation Heidelberg 2010

Liu widmet sich mit der Strafbarkeit von Organmitgliedern einer Aktiengesellschaft wegen treuwidrigen Verhaltens in China einer Thematik, die wegen der zunehmenden Öffnung Chinas für ausländische Investoren und Unternehmen stetig an Bedeutung gewinnt. China ist mittlerweile die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Als solche kommt auch ihrem Wirtschaftsstrafrecht wachsende Bedeutung zu. Liu erweitert mit ihrem Werk den in englischer und deutscher Sprache vergleichsweise schmalen Literaturbestand zum chinesischen (Wirtschafts-)Strafrecht.

Das Buch beschäftigt sich in sechs Kapiteln umfassend mit der Strafbarkeit des Vorstands und des Aufsichtsrats einer chinesischen Aktiengesellschaft nach – geltendem und in der Diskussion befindlichem − chinesischem Strafrecht.

Nach einer dissertationstypischen Einführung vermittelt die Autorin im zweiten Kapitel in gedrängter Form die Notwendigen Vorkenntnisse, indem sie die historische Entwicklung der Aktiengesellschaft in China sowie die besonderen Eigenschaften der chinesischen Aktiengesellschaft und deren Ursachen herausstellt. Eine wesentliche Besonderheit liegt in dem Umstand, dass oftmals der Staat der größte Aktionär chinesischer Aktiengesellschaften ist, der die Hauptversammlung und nicht selten auch (indirekt) den Vorstand und den Aufsichtsrat dominiert. Aufgrund dieser Situation greifen außerstrafrechtliche Mittel zum Schutz des Gesellschaftsvermögens, d.h. Mechanismen zur Kontrolle der Organe/Organglieder, nicht effektiv.

Im dritten Teil (Die Strafbarkeit der Organmitglieder einer AG wegen pflichtwidrigen Verhaltens in China) werden die einzelnen Tatbestände des chinesischen Strafgesetzbuchs dargestellt, die ein vorsätzliches treuwidriges Verhalten unter Strafe stellen. Ebenso wie im deutschen Recht besteht zwischen diesen Strafnormen und den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, die die Rechte und Pflichten der Organe bzw. Organteile festschreiben, ein enger Zusammenhang. In China ist die Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht gesetzlich normiertes oder ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der entsprechenden Tatbestände. Dementsprechend beginnt die Autorin dieses Kapitel zu Recht mit einer Darstellung der Funktionen der Organe und der gesellschaftsrechtlichen (Treue-)Pflichten der Organmitglieder. Die einzelnen Treue- und Sorgfaltspflichten werden für den Vorstand und den Aufsichtsrat im Detail dargestellt, Unterschiede bzw. Abgrenzungsfragen zwischen beiden Pflichtenstellung thematisiert sowie die daraus folgenden Implikationen aufgezeigt.

Hieran schließt sich die Darstellung der einzelnen Straftatbestände an, die ein treuwidriges Verhalten der Organmitglieder einer Aktiengesellschaft unter Strafe stellen (§§ 169 Abs. 2, 165, 166, 169 Abs. 1, 272, 167, 168 chinesisches StGB). Dabei versteht die Autorin unter einem treuwidrigen Verhalten sowohl eine Verletzung der Treue- als auch der Sorgfaltspflicht. Der Darstellung jeden Tatbestands ist der Gesetzestext auf Deutsch vorangestellt. Schon dies ist für den Leser ein Gewinn, weil der Zugang zu den Gesetzestexten des chinesischen Strafgesetzbuchs in deutscher oder englischer Sprache schwierig ist. Dies insbesondere, weil die verschiedenen Übersetzungen oftmals in Nuancen voneinander abweichen – Feinheiten, die je nach Fall entscheidend sein können. Sodann widmet sich die Autorin der Entstehungsgeschichte der jeweiligen Norm. Die hier vorgenommene Darlegung von (in China medial beachteten) Beispielsfällen aus der Praxis bzw. die Einordnung in den politisch-kulturellen Hintergrund gewährt dem Leser einen dankenswert wenig europäischen Blickwinkel.

Inhaltlich wird jeder Straftatbestand gegliedert nach seinen Tatbestandsmerkmalen erörtert. Die jeweiligen Problemfelder werden unter einem gesonderten Gliederungspunkt behandelt. Diese getrennte Darstellung ermöglicht es dem Leser, sich zunächst einen Überblick über die Norm zu verschaffen und seine Kenntnisse im Anschluss gezielt zu vertiefen. Während die Autorin in einigen Punkten, insbesondere zu der fehlenden Differenzierung zwischen der Treue- und der Sorgfaltspflicht der Organglieder und der daraus resultierende Ausdehnung der Strafbarkeit unternehmerischer Entscheidungen, eine durchaus kritische Betrachtung der Rechtslage in China vornimmt, vermisst der Leser an mancher Stelle eine eigene Bewertung der Autorin zu einem Meinungsstreit bzw. einer Problematik.

Das vierte Kapitel beinhaltet eine ausführliche Erörterung der Reformbedürftigkeit der Strafnormen bezüglich treuwidriger Handlungen der Organmitglieder im geltenden chinesischen Strafrecht und die Reformdiskussion im Schrifttum. Als allgemeine, d.h. normübergreifenden Aspekte, die ein Reformbedürfnis begründen, benennt Liu den unzureichenden strafrechtlichen Schutz nicht-staatlicher Gesellschaften vor treuwidrigem Verhalten der Organglieder, die Gesetzgebungstechnik in China, die strengen Strafdrohungen, die mit der Strafbarkeitsvoraussetzung eines „gravierenden Vermögensverlusts“ einhergehende gesetzliche Unbestimmtheit der Strafnormen sowie die divergierende Bewertung von Verhaltensweise als treuepflichtwidrig oder pflichtgemäß im chinesischen Gesellschaftsgesetz und dem chinesischen StGB. Im Anschluss werden die Reformvorschläge des chinesischen Schrifttums dargestellt und bewertet, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: Der Auffassung, an der derzeitigen Gesetzeslage mit einer Mehrzahl von Tatbeständen festzuhalten, steht die Meinung gegenüber, die eine umfassende Untreuenorm nach dem Vorbild des deutschen § 266 StGB einführen will.

Mit Blick auf die letztgenannte Auffassung stellt das fünfte Kapitel eine Rechtsvergleichende Betrachtung zu der Strafbarkeit der Organmitglieder einer Aktiengesellschaft wegen treuwidrigen Verhaltens im deutschen Recht an. Während der rein darstellende Teil zu den Tatbestandsmerkmalen des § 266 StGB und den dort bestehenden (bekannten) Problemen recht breit ausfällt, hätte man zu den Bezügen/Vergleichen mit dem chinesischen Recht gerne noch etwas mehr gelesen.

Interessant ist der im letzten Kapitel dargelegte eigene Reformvorschlag der Autorin, mit Blick auf die in Deutschland (verfassungsrechtlich) geforderte restriktive Auslegung des Untreuetatbestands in China eine spezielle Untreuenorm, konkret eine Organuntreuenorm, zu schaffen.

Insgesamt liegt der besondere Verdienst dieses Werks darin, dass es ein tiefergehendes Verständnis des chinesischen Strafrechtssystems ermöglicht. Um eine Strafnorm bzw. die – nicht selten gravierenden − Unterschiede zu seinem deutschen Pendant zu verstehen, ist die Kenntnis der gesellschaftlichen und rechtshistorischen Hintergründe vielfach unumgänglich. Ebendiese Einblicke in gesellschaftliche und politische Sichtweisen vermittelt Liu an vielen Stellen im Kontext ihrer Rechtsausführungen. Dadurch bringt sie dem Leser das Rechtsverständnis und die Strafrechtssystematik Chinas ein Stück weit näher.

Autorinnen und Autoren

  • Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht
    Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht ist Rechtsanwalt und Partner der auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht spezialisierten Kanzlei Wessing & Partner. Neben der Beratung und Vertretung von (internationalen) Unternehmen in Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren verteidigt Prof. Dr. Ahlbrecht Vorstände, Geschäftsführer und leitende Mitarbeiter in Strafverfahren. Er ist zudem Ansprechpartner des WisteV-Arbeitskreises Korruptions- und Wettbewerbsstrafrecht.

WiJ

  • Dr. Elias Schönborn , Jan Uwe Thiel

    Gesetzliche Regelungen zur Handy-Sicherstellung sind verfassungswidrig (Österreich)

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Tino Haupt

    Der Zugriff auf Fahrzeugdaten aus strafprozessualer Perspektive

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Florian Neuber

    Verteidigung ohne Grenzen?

    Internationales Strafrecht