Hans-Heiner Kühne: Strafprozessrecht – Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts
9., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2015, C.F. Müller Verlag, Heidelberg
I. Einleitung
Buchbesprechungen Kühne’s kommen ohne Schönfärbungen und Übertreibungen aus. Zu groß ist das – nicht nur strafprozessuale – Wissen des humanistisch breit gebildeten Hans-Heiner Kühne über die jeweils von ihm gewählte Darstellungsmaterie. Diese Zeilen über die jetzt vorgelegte 9. Auflage der systematischen Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts machen da keine Ausnahme. Dem Autor – einer der Strahlgestalten des deutschen Straf- und Strafprozessrechts auch und gerade in seinen transnationalen Bezügen – ist eine ganz hervorragende Grundüberarbeitung seines ohnehin schon wuchtigen Referenzwerkes gelungen. Um es in Summe den Einzelbetrachtungen vorwegzunehmen: Wo bisweilen Lehr- und Handbuchautoren wissenschaftlicher Provenienz eher zu vergeistigten Formulierungen neigen, ist Kühne’s Diktion in Klarheit und Informationsgehalt schlichtweg eine Wonne. An die Hand genommen und sicher durch die Materie geführt, fühlt sich der einen ersten Zugriff zu den besprochenen Themen suchende Leser ebenso wie jener, der mit hohem Vorwissen ausgestattet letzte Verständnislücken zu schließen sucht und vom großartigen Vermögen Kühne’s profitieren möchte, Detailfragen und Alltagsthemen des Strafprozesses in größere sinngebende Zusammenhänge einzustellen. Höchst selten beschert eine eigentlich eher in die Breite als Tiefe angelegte Lektüre so zahlreiche „Aha-Momente“.
II. Das Werk
Den stets brillanten Formulierungen steht ein übersichtlicher und schlüssiger Aufbau des Werks zur Seite, zu dem mittels der dem „Inhaltsverzeichnis“ noch vorgestellten „Inhaltsübersicht“ ein überaus schneller und sicherer Zugriff gelingt. Das aktuelle geopolitische Entwicklungen und die Großwetterlage ubiquitärer terroristischer Bedrohung mit ihren Auswirkungen auf „Gesetzgeber und Gerichte“ aufgreifende Vorwort weckt brennendes Interesse daran, wie gekonnt Kühne im Folgenden das Verhalten derselben bei „leider durchaus begründeter Angst insbesondere vor rechtem und islamistischem Terrorismus“ an Individualrechten juristisch vermaßt. Dessen mahnende Beobachtung zu „immer mehr Großzügigkeit gegenüber der staatlichen Gewalt im Rahmen der Prävention und Verfolgung von Verbrechen“ ändert nichts an der ausnahmslos wohlgewogenen und unaufgeregten Darstellungsweise des Gesamtwerks. Womöglich hat sich auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts vor seiner Entscheidung vom 20.04.2016 (1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09) mit Durchsicht des Werkes seines rechtsstaatlichen Kompasses versichert.
Das Lehr- und Handbuch ist – an der historischen Lebenslinie des Strafverfahrens orientiert – in die Kapitel „Einführung in das Strafverfahrensrecht“, „Das Ermittlungsverfahren“, „Das Verfahren von der Anklageerhebung bis zum Beginn der Hauptverhandlung“, „Das Hauptverfahren in erster Instanz“, „Das Rechtsmittelverfahren und das Wiederaufnahmeverfahren“, „Besondere Verfahrensarten“ und schließlich „Einführung in Strafverfahrenssysteme europäischer Nachbarstaaten“ gegliedert. Diese Darstellungsentscheidung gefällt, weil es mittels des dann ausdifferenzierenden – ohne zu zahlreiche Unterebenen – Inhaltsverzeichnisses am historischen Gang eines Strafverfahrens orientiert immer optimale Orientierung und sicheres Erschließen der Einzelmaterien ermöglicht.
Die Umfänge der Ausführungen zu diesen einzelnen Verfahrensabschnitten überzeugen in den Relationen zu deren jeweiliger tatsächlicher Relevanz, auch etwas gedrängtere Darstellungen (z. B. „3. Kapitel, Das Verfahren von der Anklageerhebung bis zum Beginn der Hauptverhandlung“ S. 399 – 409) oder die Ausführungen zum Strafbefehlsverfahren (6. Kapitel, Besondere Verfahrensarten – § 67 Das Strafbefehlsverfahren S. 701 – 705) vermitteln weit mehr als das notwendige strafprozessuale Grundwissenszeug (so z. B. auch V. Problematik und Bedeutung des Zwischenverfahrens Rn. 621 ff.; sowie mit gutem Gespür für die Strafrechtspraxis zum Strafbefehlsverfahren II. Anwendungsbereich Rn. 1128 und der Gebotenheit des Strafbefehlsverfahrens in Ansehung der „notorisch überlasteten Staatsanwaltschaft“).
Die im ersten Abschnitt („Allgemeines“) des ersten Kapitels („Einführung in das Strafverfahrensrecht“) vermittelten Einsichten sind enorm, mit welcher Leichtigkeit Kühne durch Rechtsquellen (§ 2, S. 6 – 17) und vor allem die Grundzüge und Normenprogramme des europäischen Strafverfahrensrechts (§ 3, S. 20 – 67) führt, ist beeindruckend. Wer sich über die ausnahmslos instruktiven allgemeinen Darstellungen der verschiedenen Rechtsquellen und Gerichtshöfe hinaus Anhalte für konkret zu bewältigende Fallarbeit erhofft, wird auch dazu fündig. Die Akribie im Zusammentragen von Entscheidungen des EGMR gegen Deutschland im Bereich des Strafverfahrensrechts (Rn. 38) im Kontext der Divergenzdiskussion in Fällen, in denen deutsche Gerichte und der EGMR die EMRK unterschiedlich auslegen, bietet echte Arbeitshilfen. Die besonders starken Ausführungen zu den „Folgen der Divergenzen“ (Rn. 40 ff.) machen erneut deutlich, weshalb an Kühne’s traumwandlerischer Sicherheit im Umgang mit europäischem Strafverfahrensrecht wenige heranreichen.
Hier und da wird freilich sichtbar – ohne den einschränkungslos positiven Eindruck des Werks zu schmälern – dass Kühne’s Herkunft und Position nicht jene des (strafverteidigenden) Rechtsanwalts ist. So buchstabiert der Autor zu Funktion und Aufgaben des Verteidigers im System der StPO (§ 9 Der Verteidiger I. Funktion des Verteidigers im System der StPO, S. 121 ff.) zwar fein Metajuristisches dazu aus, wie jede „menschliche Wahrnehmung der Außenwelt gefiltert und durch das subjektive Sieb persönlichen Wissens und Erlebens“ gedrückt wird (Rn. 172), attestiert dann (a. a. O.) jedoch im Wechselspiel der Kräfte von Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidigung („triadisches Kräftefeld“) der „richterlichen Leitung der Beweisaufnahme Distanziertheit und Sicherheit“, die sich dem Praktiker in der Mehrzahl der strafrechtlichen Hauptverhandlungen so einschränkungslos nicht recht erschließen will. Unerwähnt bleibt in diesem Zusammenhang – auch das nur weit am Rande – das die Verteidigung stets umtreibende Sujet des „Inertia“-Effekts und der strukturbedingte Umstand, dass das Gericht der Hauptverhandlung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses noch vor ihrem Beginn selbst eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit anzunehmen hatte. Womöglich zu profane Selbstverständlichkeiten, die gehaltvollerem gewichen waren.
Welche Brücken Kühne aus seinem reichen Wissensschatz hin zur Praxis und umgekehrt zu schlagen im Stande ist, zeigen exemplarisch seine Ausführungen zu § 46 Befangenheit von Entscheidungsträgern und Kommunikationsgarantie (Rn. 731 ff.), in denen es dem Verfasser trotz einer sehr kasuistisch angelegten Entscheidungsmaterie vorzüglich gelingt, grundlegende Erwägungen mit praktischen Einzelfallbeispielen (Rn. 733) zu verquicken. Verzeihlich ist dann auch, wenn die 9. Auflage aus 2015 eine im Strafverteidiger 2006 abgedruckte Entscheidung des Bundesgerichtshofs immer noch (S. 474, Fn. 59) als „neuerdings vom BGH entschieden“ erwähnt (Rn. 738). Dass dem Verfasser eine wissenschaftliche Entrücktheit zur besprochenen Materie wahrlich nicht vorgeworfen werden kann, zeigen auch die instruktiven Ausführungen zum Protokoll (§ 58 Das Sitzungsprotokoll), mit denen Kühne z. B. die – im Übrigen auch dem Rezensionsverfasser bis dahin nicht genügend präsente – starke Position des Protokollführers in Abgrenzung zum Vorsitzenden herausarbeitet (Rn. 969 f.) und trefflich markiert, dass die Juristenausbildung auf bestmögliche und authentischste Protokollführung nicht angelegt ist. Was der Übung der Vorsitzenden zum wörtlichen Diktat von Protokollinhalten zusätzliches Verzerrungspotenzial verschafft.
Die den Ausführungen zur Revision gewidmeten 22 Seiten des Werks (S. 670 – 692) sind – ohne nach der Anlage des Lehr- und Handbuchs hier natürlich erschöpfend sein zu können – eine jederzeit informative Verzahnung von formalen und inhaltlichen Aspekten der Revision (zu empirischen Komponenten des Revisionsverfahrens generell (Rn. 1087 ff.) und schaffen für ein Lehrbuch sinnvolle Ergänzungen der formal-ablaufbezogenen Informationen zum Rechtsmittel).
Im Rahmen der „Einführung in Strafverfahrenssysteme europäischer Nachbarstaaten“ (7. Kapitel, Rn. 1146 ff.) gibt der Autor das Versprechen einer seriösen rechtsvergleichenden Vorstellung, bei der „vermieden werden“ solle, dass „aus dem Zusammenhang gerissene Details sachfremd miteinander verglichen werden“. Es wird mehr als eingelöst, sind die Vorstellungen der einschlägigen Verfahrensrechte Englands und Wales (§ 71, Rn. 1149 ff.), Frankreichs (§ 72, Rn. 1206 ff.), Italiens (§ 73, Rn. 1250 ff.), Österreichs (§ 74, Rn. 1309 ff.), Spaniens (§ 75, Rn. 1356) und der Niederlande (§ 76, Rn. 1402) durchweg von solcher Güte, dass der sinnvolle Aufbau in seiner wiederkehrenden Unterteilung (Rechtsquellen, Verfahrensbeteiligte, Verfahrensprinzipien und Zwangsmaßnahmen) fast wegen der enormen Qualität des Gesamtwerks untergeht.
Bisweilen nachgerade erfrischend ist es, den Kopf über die vertraute Streitlandschaft der bundesdeutschen Strafprozessordnung zu heben und – teilweise konsterniert (so z. B. zum Verständnis der Rolle des Verteidigers im Nachbarland Österreich, vgl. Rn. 1337 ff.) – zur Kenntnis zu nehmen, was im europäischen Ausland seit jeher für selbstverständlich erachtet bzw. aktuell kritisch diskutiert wird. Dass Kühne ans Ende seines Lehrbuchs – freilich mit einleitenden Worten (Rn. 1481) – den Entwurf des „Corpus Iuris“ setzt, und dabei mahnend die möglichen Auswirkungen eines „europäischen Strafverfahrensrechts als Rahmen für Verfahren mit internationalem europäischem Bezug“ herausstellt, ist folgerichtiger Schlusspunkt eines Lehr- und Handbuchs, das bei aller Detailliertheit in der Befassung mit der bundesdeutschen Strafprozessrechtsmaterie deren europäischen Pendants – zu Recht – viel Aufmerksamkeit beimisst.
III. Zusammenfassung
In jeder denkbaren Hinsicht löst Kühne die Versprechen des Buchdeckels ein. Systematischer ist eine Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts nicht denkbar, die Überschrift als „Lehr- und Handbuch“ trägt sein Werk zu Recht. Die Lehrbuchkomponente wird, neben den bereits ausgeführten Stärken des Werks, auch und gerade durch eine lebhafte und immer weiterführende Fußnotenkultur bedient. Aus welch breiten Erkenntnisquellen von bundeslandspezifischen Besonderheiten aus Landesverfassungen bis hin zu speziellsten strafverfahrensrechtlichen Abhandlungen des europäischen Auslands geschöpft wird, ist hilfreich und beeindruckend zugleich.
Weder Schönverfärbungen, noch Übertreibungen braucht es bei der Quintessenz alles Gesagten: Auch wenn es im Marktsegment solcher breit angelegter Verfahrensrechtsdarstellungen Mitbewerber geben mag, ist Hans-Heiner Kühne’s Lehr- und Handbuch in seiner 9. Auflage letztlich konkurrenzlos. Die nennenswerte Strafprozessrechtsbibliothek kommt ohne dessen Anschaffung nicht aus.
[:en]
9., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2015, C.F. Müller Verlag, Heidelberg
I. Einleitung
Buchbesprechungen Kühne’s kommen ohne Schönfärbungen und Übertreibungen aus. Zu groß ist das – nicht nur strafprozessuale – Wissen des humanistisch breit gebildeten Hans-Heiner Kühne über die jeweils von ihm gewählte Darstellungsmaterie. Diese Zeilen über die jetzt vorgelegte 9. Auflage der systematischen Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts machen da keine Ausnahme. Dem Autor – einer der Strahlgestalten des deutschen Straf- und Strafprozessrechts auch und gerade in seinen transnationalen Bezügen – ist eine ganz hervorragende Grundüberarbeitung seines ohnehin schon wuchtigen Referenzwerkes gelungen. Um es in Summe den Einzelbetrachtungen vorwegzunehmen: Wo bisweilen Lehr- und Handbuchautoren wissenschaftlicher Provenienz eher zu vergeistigten Formulierungen neigen, ist Kühne’s Diktion in Klarheit und Informationsgehalt schlichtweg eine Wonne. An die Hand genommen und sicher durch die Materie geführt, fühlt sich der einen ersten Zugriff zu den besprochenen Themen suchende Leser ebenso wie jener, der mit hohem Vorwissen ausgestattet letzte Verständnislücken zu schließen sucht und vom großartigen Vermögen Kühne’s profitieren möchte, Detailfragen und Alltagsthemen des Strafprozesses in größere sinngebende Zusammenhänge einzustellen. Höchst selten beschert eine eigentlich eher in die Breite als Tiefe angelegte Lektüre so zahlreiche „Aha-Momente“.
II. Das Werk
Den stets brillanten Formulierungen steht ein übersichtlicher und schlüssiger Aufbau des Werks zur Seite, zu dem mittels der dem „Inhaltsverzeichnis“ noch vorgestellten „Inhaltsübersicht“ ein überaus schneller und sicherer Zugriff gelingt. Das aktuelle geopolitische Entwicklungen und die Großwetterlage ubiquitärer terroristischer Bedrohung mit ihren Auswirkungen auf „Gesetzgeber und Gerichte“ aufgreifende Vorwort weckt brennendes Interesse daran, wie gekonnt Kühne im Folgenden das Verhalten derselben bei „leider durchaus begründeter Angst insbesondere vor rechtem und islamistischem Terrorismus“ an Individualrechten juristisch vermaßt. Dessen mahnende Beobachtung zu „immer mehr Großzügigkeit gegenüber der staatlichen Gewalt im Rahmen der Prävention und Verfolgung von Verbrechen“ ändert nichts an der ausnahmslos wohlgewogenen und unaufgeregten Darstellungsweise des Gesamtwerks. Womöglich hat sich auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts vor seiner Entscheidung vom 20.04.2016 (1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09) mit Durchsicht des Werkes seines rechtsstaatlichen Kompasses versichert.
Das Lehr- und Handbuch ist – an der historischen Lebenslinie des Strafverfahrens orientiert – in die Kapitel „Einführung in das Strafverfahrensrecht“, „Das Ermittlungsverfahren“, „Das Verfahren von der Anklageerhebung bis zum Beginn der Hauptverhandlung“, „Das Hauptverfahren in erster Instanz“, „Das Rechtsmittelverfahren und das Wiederaufnahmeverfahren“, „Besondere Verfahrensarten“ und schließlich „Einführung in Strafverfahrenssysteme europäischer Nachbarstaaten“ gegliedert. Diese Darstellungsentscheidung gefällt, weil es mittels des dann ausdifferenzierenden – ohne zu zahlreiche Unterebenen – Inhaltsverzeichnisses am historischen Gang eines Strafverfahrens orientiert immer optimale Orientierung und sicheres Erschließen der Einzelmaterien ermöglicht.
Die Umfänge der Ausführungen zu diesen einzelnen Verfahrensabschnitten überzeugen in den Relationen zu deren jeweiliger tatsächlicher Relevanz, auch etwas gedrängtere Darstellungen (z. B. „3. Kapitel, Das Verfahren von der Anklageerhebung bis zum Beginn der Hauptverhandlung“ S. 399 – 409) oder die Ausführungen zum Strafbefehlsverfahren (6. Kapitel, Besondere Verfahrensarten – § 67 Das Strafbefehlsverfahren S. 701 – 705) vermitteln weit mehr als das notwendige strafprozessuale Grundwissenszeug (so z. B. auch V. Problematik und Bedeutung des Zwischenverfahrens Rn. 621 ff.; sowie mit gutem Gespür für die Strafrechtspraxis zum Strafbefehlsverfahren II. Anwendungsbereich Rn. 1128 und der Gebotenheit des Strafbefehlsverfahrens in Ansehung der „notorisch überlasteten Staatsanwaltschaft“).
Die im ersten Abschnitt („Allgemeines“) des ersten Kapitels („Einführung in das Strafverfahrensrecht“) vermittelten Einsichten sind enorm, mit welcher Leichtigkeit Kühne durch Rechtsquellen (§ 2, S. 6 – 17) und vor allem die Grundzüge und Normenprogramme des europäischen Strafverfahrensrechts (§ 3, S. 20 – 67) führt, ist beeindruckend. Wer sich über die ausnahmslos instruktiven allgemeinen Darstellungen der verschiedenen Rechtsquellen und Gerichtshöfe hinaus Anhalte für konkret zu bewältigende Fallarbeit erhofft, wird auch dazu fündig. Die Akribie im Zusammentragen von Entscheidungen des EGMR gegen Deutschland im Bereich des Strafverfahrensrechts (Rn. 38) im Kontext der Divergenzdiskussion in Fällen, in denen deutsche Gerichte und der EGMR die EMRK unterschiedlich auslegen, bietet echte Arbeitshilfen. Die besonders starken Ausführungen zu den „Folgen der Divergenzen“ (Rn. 40 ff.) machen erneut deutlich, weshalb an Kühne’s traumwandlerischer Sicherheit im Umgang mit europäischem Strafverfahrensrecht wenige heranreichen.
Hier und da wird freilich sichtbar – ohne den einschränkungslos positiven Eindruck des Werks zu schmälern – dass Kühne’s Herkunft und Position nicht jene des (strafverteidigenden) Rechtsanwalts ist. So buchstabiert der Autor zu Funktion und Aufgaben des Verteidigers im System der StPO (§ 9 Der Verteidiger I. Funktion des Verteidigers im System der StPO, S. 121 ff.) zwar fein Metajuristisches dazu aus, wie jede „menschliche Wahrnehmung der Außenwelt gefiltert und durch das subjektive Sieb persönlichen Wissens und Erlebens“ gedrückt wird (Rn. 172), attestiert dann (a. a. O.) jedoch im Wechselspiel der Kräfte von Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidigung („triadisches Kräftefeld“) der „richterlichen Leitung der Beweisaufnahme Distanziertheit und Sicherheit“, die sich dem Praktiker in der Mehrzahl der strafrechtlichen Hauptverhandlungen so einschränkungslos nicht recht erschließen will. Unerwähnt bleibt in diesem Zusammenhang – auch das nur weit am Rande – das die Verteidigung stets umtreibende Sujet des „Inertia“-Effekts und der strukturbedingte Umstand, dass das Gericht der Hauptverhandlung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses noch vor ihrem Beginn selbst eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit anzunehmen hatte. Womöglich zu profane Selbstverständlichkeiten, die gehaltvollerem gewichen waren.
Welche Brücken Kühne aus seinem reichen Wissensschatz hin zur Praxis und umgekehrt zu schlagen im Stande ist, zeigen exemplarisch seine Ausführungen zu § 46 Befangenheit von Entscheidungsträgern und Kommunikationsgarantie (Rn. 731 ff.), in denen es dem Verfasser trotz einer sehr kasuistisch angelegten Entscheidungsmaterie vorzüglich gelingt, grundlegende Erwägungen mit praktischen Einzelfallbeispielen (Rn. 733) zu verquicken. Verzeihlich ist dann auch, wenn die 9. Auflage aus 2015 eine im Strafverteidiger 2006 abgedruckte Entscheidung des Bundesgerichtshofs immer noch (S. 474, Fn. 59) als „neuerdings vom BGH entschieden“ erwähnt (Rn. 738). Dass dem Verfasser eine wissenschaftliche Entrücktheit zur besprochenen Materie wahrlich nicht vorgeworfen werden kann, zeigen auch die instruktiven Ausführungen zum Protokoll (§ 58 Das Sitzungsprotokoll), mit denen Kühne z. B. die – im Übrigen auch dem Rezensionsverfasser bis dahin nicht genügend präsente – starke Position des Protokollführers in Abgrenzung zum Vorsitzenden herausarbeitet (Rn. 969 f.) und trefflich markiert, dass die Juristenausbildung auf bestmögliche und authentischste Protokollführung nicht angelegt ist. Was der Übung der Vorsitzenden zum wörtlichen Diktat von Protokollinhalten zusätzliches Verzerrungspotenzial verschafft.
Die den Ausführungen zur Revision gewidmeten 22 Seiten des Werks (S. 670 – 692) sind – ohne nach der Anlage des Lehr- und Handbuchs hier natürlich erschöpfend sein zu können – eine jederzeit informative Verzahnung von formalen und inhaltlichen Aspekten der Revision (zu empirischen Komponenten des Revisionsverfahrens generell (Rn. 1087 ff.) und schaffen für ein Lehrbuch sinnvolle Ergänzungen der formal-ablaufbezogenen Informationen zum Rechtsmittel).
Im Rahmen der „Einführung in Strafverfahrenssysteme europäischer Nachbarstaaten“ (7. Kapitel, Rn. 1146 ff.) gibt der Autor das Versprechen einer seriösen rechtsvergleichenden Vorstellung, bei der „vermieden werden“ solle, dass „aus dem Zusammenhang gerissene Details sachfremd miteinander verglichen werden“. Es wird mehr als eingelöst, sind die Vorstellungen der einschlägigen Verfahrensrechte Englands und Wales (§ 71, Rn. 1149 ff.), Frankreichs (§ 72, Rn. 1206 ff.), Italiens (§ 73, Rn. 1250 ff.), Österreichs (§ 74, Rn. 1309 ff.), Spaniens (§ 75, Rn. 1356) und der Niederlande (§ 76, Rn. 1402) durchweg von solcher Güte, dass der sinnvolle Aufbau in seiner wiederkehrenden Unterteilung (Rechtsquellen, Verfahrensbeteiligte, Verfahrensprinzipien und Zwangsmaßnahmen) fast wegen der enormen Qualität des Gesamtwerks untergeht.
Bisweilen nachgerade erfrischend ist es, den Kopf über die vertraute Streitlandschaft der bundesdeutschen Strafprozessordnung zu heben und – teilweise konsterniert (so z. B. zum Verständnis der Rolle des Verteidigers im Nachbarland Österreich, vgl. Rn. 1337 ff.) – zur Kenntnis zu nehmen, was im europäischen Ausland seit jeher für selbstverständlich erachtet bzw. aktuell kritisch diskutiert wird. Dass Kühne ans Ende seines Lehrbuchs – freilich mit einleitenden Worten (Rn. 1481) – den Entwurf des „Corpus Iuris“ setzt, und dabei mahnend die möglichen Auswirkungen eines „europäischen Strafverfahrensrechts als Rahmen für Verfahren mit internationalem europäischem Bezug“ herausstellt, ist folgerichtiger Schlusspunkt eines Lehr- und Handbuchs, das bei aller Detailliertheit in der Befassung mit der bundesdeutschen Strafprozessrechtsmaterie deren europäischen Pendants – zu Recht – viel Aufmerksamkeit beimisst.
III. Zusammenfassung
In jeder denkbaren Hinsicht löst Kühne die Versprechen des Buchdeckels ein. Systematischer ist eine Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts nicht denkbar, die Überschrift als „Lehr- und Handbuch“ trägt sein Werk zu Recht. Die Lehrbuchkomponente wird, neben den bereits ausgeführten Stärken des Werks, auch und gerade durch eine lebhafte und immer weiterführende Fußnotenkultur bedient. Aus welch breiten Erkenntnisquellen von bundeslandspezifischen Besonderheiten aus Landesverfassungen bis hin zu speziellsten strafverfahrensrechtlichen Abhandlungen des europäischen Auslands geschöpft wird, ist hilfreich und beeindruckend zugleich.
Weder Schönverfärbungen, noch Übertreibungen braucht es bei der Quintessenz alles Gesagten: Auch wenn es im Marktsegment solcher breit angelegter Verfahrensrechtsdarstellungen Mitbewerber geben mag, ist Hans-Heiner Kühne’s Lehr- und Handbuch in seiner 9. Auflage letztlich konkurrenzlos. Die nennenswerte Strafprozessrechtsbibliothek kommt ohne dessen Anschaffung nicht aus.