Friedrich Frank, Dr. Roland M. Ryser

Länderbericht Schweiz: Aktuelles Wirtschaftsstrafrecht

 I.    Einleitung

Der vorliegende Länderbericht wartet mit einer Neuheit auf: dem Entscheid einer Rechtsmittelinstanz, des Obergerichts des Kantons Solothurn, in einem Strafverfahren gegen ein Unternehmen, nämlich der Schweizer Post. Erstmals werden wichtige materiell-rechtliche und prozessuale Fragen rund um das Unternehmensstrafrecht einem Praxistest unterzogen, nachdem dieses bereits seit dem Jahre 2003 in Kraft ist.

Auch wenn dieses Urteil des Obergerichts in der Schweiz zumindest in Rechtskreisen für grosse Aufmerksamkeit sorgte, so ist dies doch nichts im Vergleich zur Umsetzungsgesetzgebung der Ausschaffungsinitiative, welche am 1. Oktober 2016 in Kraft treten und die Wegweisungspraxis insbesondere auch bei wirtschaftsstrafrechtlichen Delikten ganz erheblich verschärfen wird. Die in diesem Zusammenhang geschaffenen Art. 66a ff. nStGB werden auf die Praxis gravierende Auswirkungen haben.

Nicht unerwähnt bleiben sollen aber auch die nachfolgend ebenfalls besprochenen Entscheide des Bundesgerichts, in welchem die Reichweite der Opfermitverantwortung beim Betrug weiter konkretisiert wird, und des Bundesstrafgerichts, in welchem sich das Gericht erneut mit der Anwendbarkeit strafprozessualer Regelungen im Verwaltungsstrafverfahren auseinandersetzt.

II.    Neue wirtschaftsstrafrechtliche Gesetzesvorhaben

Am 1. Oktober 2016 tritt die Umsetzungsgesetzgebung der Ausschaffungsinitiative in Kraft, welche bereits in November 2010 vom schweizerischen Stimmvolk angenommen wurde. Das StGB wird in Art. 66a um die obligatorische (und nicht mehr nur fakultative) Landesverweisung ergänzt, wonach ausländische Personen ohne Bürgerrecht bei einer Verurteilung von Straftaten gemäss Katalog des Art. 66a Abs. 1 nStGB für 5 – 15 Jahre zwingend des Landes verwiesen werden, es sei denn es liegt ein persönlicher Härtefall gemäss Art. 66a Abs. 2 nStGB vor.[1]

Vom Katalog des Art. 66a Abs. 1 nStGB sind neben schweren auch vergleichsweise geringfügige Straftaten erfasst, etwa der Diebstahl, wenn dieser mit einem Hausfriedensbruch kombiniert wird (z.B. beim Wohnungseinbruchsdiebstahl) und der Sozialhilfebetrug. In wirtschaftsstrafrechtlicher Hinsicht sind vor allem die folgenden Katalogtaten relevant: qualifizierte Veruntreuung (Art. 138 Ziff. 2 StGB), gewerbsmässiger Betrug (Art. 146 Abs. 2 StGB), gewerbsmässiger Check- und Kreditkartenmissbrauch (Art. 148 Abs. 2 StGB), gewerbsmässiger Wucher (Art. 157 Ziff. 2 StGB), gewerbsmässige Hehlerei (Art. 160 Ziff. 2 StGB), Leistungs- und Abgabebetrug (Art. 14 Abs. 1, 2 und 4 VStrR), Steuerbetrug, Veruntreuung von Quellensteuern oder eine andere Straftat im Bereich der öffentlich-rechtlichen Abgaben, die mit einer Höchststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe oder mehr bedroht ist.

Von der zwingenden Landesverweisung kann nur abgesehen werden, wenn die sog. Härtefallklausel des Art. 66a Abs. 2 nStGB greift. Dies ist dann zu bejahen, wenn die Landesverweisung „für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.“ Hinsichtlich der Anwendung der Härtefallklausel wird es also auf eine Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Interessen ankommen, wobei zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen ist, wie diese von den zuständigen Gerichten vorgenommen werden wird.

Zusammengefasst sei an dieser Stelle auf folgende Besonderheiten hingewiesen:

– Erfasst sind nur Straftaten, welche nach dem Inkrafttreten des Art. 66a StGB, also nach dem 1. Oktober 2016, begangen werden.

– Die Landesverweisung wird bei sämtlichen Begehungsformen zwingend ausgesprochen, also auch bei Anstiftung und Gehilfenschaft zu einer Katalogtat. Dies gilt auch für die versuchte Begehung einer Katalogtat.

– Droht eine Landesverweisung, stellt sich dies immer als ein Fall sog. notwendiger Verteidigung (Art. 130 nStPO) dar.

– Der obligatorische Landesverweis kann nur vom Strafrichter ausgesprochen werden. Im Strafbefehlsverfahren ist dies nicht möglich (Art. 352 Abs. 2 nStPO).

– In Art. 66abis nStGB wird die fakultative Landesverweisung wieder eingeführt, wonach eine Landesverweisung durch den Strafrichter auch für Delikte ausgesprochen werden kann, die nicht im Katalog des Art. 66a nStGB aufgeführt sind.

III.   Neues aus der wirtschaftsstrafrechtlichen Rechtsprechung

1.    Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn Nr. STBER.2011.32 vom 19. November 2015[2] (Freispruch von „Die Schweizerische Post, Rechtsnachfolgerin Die Schweizerische Post AG“ vom Vorwurf der Geldwäscherei)

a)    Sachverhalt

Mit Urteil des Amtsgerichtspräsidenten von Solothurn-Lebern vom 19. April 2011 wurde „Die Schweizerische Post“ als selbständige öffentlich-rechtliche Anstalt in Anwendung von Art. 102 Abs. 2 StGB wegen Geldwäscherei i.S.v. Art. 305bis Ziff. 1 StGB zu einer Unternehmensbuße von CHF 250’000.– verurteilt. Auslöser des unternehmensstraf­rechtlichen Verfahrens war eine Barauszahlung am Postschalter in Solothurn über CHF 4,6 Mio. am 11. Februar 2005. Dieser Betrag war erst am Vortag auf dem Postkonto des involvierten Finanzintermediärs eingetroffen und stammte aus einem Anlagebetrug. Der von der zuständigen Schalterangestellten wegen des ungewöhnlichen Barbezugs kontaktierte Compliance-Mitarbeiter klärte vor Genehmigung der Transaktion lediglich ab, ob das Konto nicht gesperrt und darauf genügend Geld vorhanden war. Das Gericht befand, dass diese Abklärungen geldwäschereirechtlich ungenügend waren und „Die Schweizerische Post“ insbesondere über keine hinreichenden Reglemente für entsprechende Transaktionen verfügte, was einen Organisationsmangel i.S.v. Art. 102 Abs. 2 StGB begründe.

b)    Entscheid

Das Solothurner Obergericht hob diesen Entscheid des Amtsgerichtspräsidenten mit Urteil vom 19. November 2015 berufungsweise auf und sprach „Die Schweizerische Post“ bzw. deren Rechtsnachfolgerin „Die Schweizerische Post AG“ vom Vorwurf der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach Art. 102 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 305bis Ziff. 1 StGB vollumfänglich frei. Das Urteil ist nach aktuellem Kenntnisstand noch nicht rechtskräftig und wurde mit Beschwerde in Strafsachen an das Schweizerische Bundesgericht weitergezogen, welches als letzte Instanz darüber zu befinden haben wird.

c)    Bemerkungen

Nach der per 1. Oktober 2003 in Kraft getretenen unternehmensstrafrechtlichen Haf­tungsnorm von Art. 102 StGB können sich Unternehmen strafrechtlich verantwortlich machen, wenn ein im Unternehmen begangenes Verbrechen oder Vergehen (die sog. Anlasstat) wegen eines Organisationsmangels keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden kann (Art. 102 Abs. 1 StGB) oder das Unternehmen nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen hat, um bestimmte in der Norm abschliessend enumerierte wirtschaftsstrafrechtliche Delikte (z.B. Geld­wäscherei, Bestechung etc.) zu verhindern (Art. 102 Abs. 2 StGB)[3]. Bisherige Verurteilungen von Unternehmen erfolgten soweit ersichtlich lediglich in der Form von staatsanwaltschaftlichen Strafbefehlen und wurden mangels Anfech­tung nicht gerichtlich überprüft. Insofern stand im vorliegenden Berufungsverfahren am Solothurner Obergericht das Unternehmensstrafrecht erstmals auf dem Prüfstand eines höheren kantonalen Gerichts. Dem Urteil lassen sich Antworten auf einige wichtige unterneh­mensstrafrechtliche Fragestellungen sowohl materieller als auch prozessualer Natur entnehmen:

Das Solothurner Obergericht gründete den Freispruch darauf, dass die von Art. 102 Abs. 2 StGB vorausgesetzte Anlasstat nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv nachgewiesen werden muss. Vorliegend stellte die Bargeldtransaktion über CHF 4,6 Mio. in objektiver Hinsicht zwar eine Geldwäscherei­handlung dar, in subjektiver Hinsicht konnte aber bei keinem Mitarbeiter ein hinrei­chender Geldwäschereivorsatz festgestellt werden. Die Staatsanwaltschaft hatte ein gegen die verantwortlichen Schalteran­gestellten geführtes Geldwäschereiverfahren mangels Vorsatzes eingestellt, während gegen den involvierten Compliance-Mitarbeiter überhaupt kein Verfahren eröffnet worden war. Der Auffassung der Vorinstanz, der erforderliche Geldwäschereivorsatz sei durch die Compliance-Abteilung als Ganzes erfüllt worden, wurde durch das Obergericht eine Absage erteilt. Es könne aufgrund des Beweisergebnisses nicht angehen, beim nachweislich involvierten Compliance-Mitarbeiter den Vorsatz als nicht gegeben zu erachten, bei weiteren unbekannt gebliebenen Mitarbeitern hingegen schon.

In prozessualer Hinsicht hielt das Obergericht fest, dass sich die Verjährung der unter­nehmensstrafrechtlichen Haftung nach der Verjährungsfrist für die ihr zugrunde liegende Anlasstat richte. Das Schweizerische Bundesgericht hatte bisher lediglich entschieden, dass die unternehmensstrafrechtliche Verjährungsfrist gleichsam mit der Verjährung der Anlasstat zu laufen beginne, ohne jedoch die anwendbare Verjährungsfrist selbst zu bestimmen[4].

Bemerkenswert sind schliesslich die Ausführungen des Obergerichts zur Anwendung von Art. 102 StGB nach Umstrukturierungen des betroffenen Unternehmens. „Die Schweize­rische Post“ als öffentlich-rechtliche Anstalt wurde während laufendem Strafver­fahren in eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft unter der Firma „Die Schweizerische Post AG“ umgewandelt. Der von der Anlasstat betroffene bisher un­selbständige Geschäftsbereich der PostFinance wurde dabei in eine von „Die Schweize­rische Post AG“ gehaltene privatrechtliche Aktiengesellschaft ausgegliedert. Das Gericht hielt fest, dass die Post unter ihrer neuen Rechtsform der spezialgesetzlichen Aktiengesellschaft dieselben Aufgaben wahrnehme wie die bisherige Post und insbesondere weiterhin über die PostFinance AG im Bereich des Zahlungsverkehrs tätig sei. Auch in Beachtung des Schuldprinzips könne deshalb eine strafrechtliche Verantwortung der neuen „Die Schweizerische Post AG“ für das der bisherigen „Die Schweizerische Post“ als öffentlich-rechtliche Anstalt vorgeworfene Verhalten eintreten.

2.    Urteil des Bundesgerichts Nr. 6B_887/2015 vom 8. März 2016[5] (Kassation des vorinstanzlichen Urteils wegen Betrugs)

a)    Sachverhalt

X bestellte im Internet einen Drucker, obwohl er weder willens noch in der Lage war, den Kaufpreis von CHF 2’210.00 zu bezahlen. Nach dessen Lieferung unterliess er die fristgerechte Bezahlung der Rechnung, ignorierte Mahnungen der Verkäuferin und entzog sich jeglichen Kontaktversuchen. Sein Briefkasten war mit Klebeband versehen, so dass keine Post zugestellt werden konnte. Die Verkäuferin konnte den Kaufpreis schliesslich erst unter dem Druck des Betreibungsverfahrens erhältlich machen.

Die Vorinstanz, das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, verurteilte ihn dafür wegen Betrugs nach Art. 146 StGB. Er habe die Verkäuferin bei der Bestellung des Druckers über seine Leistungsfähigkeit und seinen Leistungswillen getäuscht.

b)    Entscheid

Das Schweizerische Bundesgericht hob das Urteil des Appellationsgerichts auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung bzw. zum Freispruch von der Anklage des Betrugs zurück. Es erwog, dass die vorinstanzliche Verurteilung von X wegen Betrugs Bundes­recht verletze, da keine arglistige Täuschung i.S. des Betrugstatbestands vorliege.

Mit Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung hielt das Bundesgericht fest, dass die Vorspiegelung des Leistungswillens grundsätzlich arglistig sei, weil sie eine innere Tatsache betreffe, die vom Vertragspartner ihrem Wesen nach nicht direkt überprüft werden könne. Arglist könne bei einfachen falschen Aussagen gegeben sein, wenn eine weitere Überprüfung nicht handelsüblich ist, etwa weil sie sich im Alltag als unverhältnismäßig erweise und die konkreten Verhältnisse eine nähere Abklärung nicht nahelegen oder gar aufdrängen und dem Opfer diesbezüglich keine Leichtfertigkeit vorgeworfen werden kann. Arglist scheide aus, wenn der Getäuschte den Irrtum mit einem Mindestmass an Aufmerksamkeit hätte vermeiden können.

Die Vorinstanz hatte unter dem Element der Arglist erwogen, dass es sich beim Verkauf des fraglichen Druckers im Internet um ein Alltagsgeschäft gehandelt habe, bei dem es unüblich sei, vertiefte Abklärungen über die Bonität eines Kunden zu tätigen. Insbesondere mit Blick auf die geringen Margen in dieser Branche wäre dies mit einem unverhältnismässigen administrativen Aufwand verbunden. Zudem hätten keinerlei konkrete Anhaltspunkte vorgelegen, dass die Verkäuferin, abweichend von ihren handelsüblichen Gepflogenheiten, zur Einholung weiterer Auskünfte veranlasst oder ver­pflichtet gewesen wäre. Entsprechend hatte das Appellationsgericht Arglist ange­nommen.

Das Bundesgericht gab der Vorinstanz zwar darin Recht, dass der Regelfall des Geschäftsalltags nicht aus dem Schutzbereich des Betrugstatbestands ausgeklammert werden dürfe. Allerdings handle es sich bei der vorliegenden Bestellung eines leistungs­starken Druckers der Mittelklasse mit einem Preis von rund CHF 2’200.00 gerade nicht um ein solches Alltagsgeschäft. Die Lieferung auf Rechnung bei im Internet bestellten Waren sei jedenfalls bei Produkten mit einem höheren Warenwert generell eher unüblich. Indem die Verkäuferin den für eine Privatperson unüblich leistungsstarken und teuren Drucker auf Rechnung (statt nach gesicherter Bezahlung über Kreditkarte oder per Vorauskasse) an eine ihr unbekannte Privatperson lieferte, sei sie bewusst ein gewisses Risiko eingegangen, zumal sie keinerlei Abklärungen hinsichtlich der Bonität des Käufers tätigte. Das Verhalten der Verkäuferin müsse entsprechend als leichtfertig eingestuft werden, weshalb keine arglistige Täuschung durch den Käufer vorliege.

c)    Bemerkungen

Das Urteil des Bundesgerichts zum betrugsrechtlichen Tatbestandsmerkmal der Arglist hat praktische Konsequenzen: Verkäufer, die im Internet bestellte Waren von einigem Wert statt gegen Vorauskasse bzw. Bezahlung per Kreditkarte auf Rechnung versenden, sind verpflichtet, Bonitätsabklärungen beim Käufer zu tätigen. Andernfalls müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, grundlegendste Vorsichtsmassnahmen missachtet zu haben, und es bleibt ihnen die Berufung auf den Tatbestand des Betrugs unter dem Ge­sichtspunkt der Opfermitverantwortung verwehrt. Entsprechend müssen sie sich auf zivil- bzw. betreibungsrechtlichem Weg beim Käufer schadlos zu halten versuchen, statt die Vorzüge eines Strafverfahrens – welches die vergleichsweise einfache adhäsionsweise Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen mittels staatlicher Beweiserhebung ermöglicht – in Anspruch nehmen zu können.

3.    Beschluss des Bundesstrafgerichts BE.2015.13 vom 1. März 2016[6] (Siegelungsbefugnis im Verwaltungsstrafverfahren)

a)    Sachverhalt

Das schweizerische Heilmittelinstitut, die Swissmedic, führt seit 2013 ein Verwaltungsstrafverfahren gegen B im Zusammenhang mit der C-AG wegen des Verdachts einer strafbaren Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinalprodukte durch Herstellung und Inverkehrbringung von Transplantaten. Im Juli 2015 wurde das Strafverfahren auf die Verantwortlichen der Klinik D-AG ausgedehnt, dies auch gegen deren Verwaltungsratspräsidenten, den A. In der Folge kam es zu mehreren Hausdurchsuchungen, unter anderem auch bei der C-AG, bei welchen Dokumente beschlagnahmt wurden.

A reichte daraufhin einen Siegelungsantrag ein und verlangte die Siegelung der bei der C-AG beschlagnahmten Beweismittel und Unterlagen. Die Swissmedic kam diesem Antrag nach, versiegelte die besagten Dokumente und stellte einen Entsiegelungsantrag bei der zuständigen Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts.

b)    Entscheid

Das Bundesstrafgericht ging auf den von der Swissmedic gestellten Entsiegelungsantrag nicht ein, da schon die Voraussetzungen für eine Siegelung nicht erfüllt seien. Denn eine solche Siegelungsbefugnis stünde nur dem eigentlichen Inhaber bzw. dem unmittelbaren Besitzer der Aufzeichnungen zu, nicht aber dem A. Denn die fraglichen Unterlagen wurden nicht bei ihm, sondern der C-AG beschlagnahmt.

Dies steht im Gegensatz zur neuen Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 248 StPO, nach welcher nicht nur der Inhaber, sondern auch andere Personen, denen ein rechtlich geschütztes Interesse an den Unterlagen oder der Geheimhaltung des Inhalts zukommt, zur Siegelung legitimiert sind.[7] Das Bundesstrafgericht setzt sich mit dieser Rechtsprechung auseinander, hält sie auf Art. 50 Abs. 3 VStrR indes für nicht anwendbar. Darüber hinaus habe das Bundesgericht schon in Bezug auf die Entsiegelungsfrist des Art. 248 Abs. 2 StPO eine entsprechende Anwendung im Verwaltungsstrafrecht verneint. Zuletzt sei der französische und italienische Wortlaut von Art. 50 Abs. 3 VStrR eindeutiger als jener des Art. 248 Abs. 1 StPO und lasse aufgrund dessen keine andere Auslegung zu.

Nach dem Entscheid der Beschwerdekammer kann die Swissmedic die Dokumente mangels Siegelung also sichten, müsse dabei aber gleichwohl, wie das Bundesstrafgericht ausdrücklich festhält, schützenswerte Berufsgeheimnisse, konkret Arztgeheimnisse, wahren.

c)    Bemerkungen

Der Beschluss des Bundesstrafgerichts steht in einer Reihe neuerer Urteile[8], in welchen es um die Anwendung strafprozessualer Regelungen auf das Verwaltungsstrafverfahrensrecht geht. Mehrheitlich wurde, wie hier, eine solche Anwendung zum Nachteil der Betroffenen verneint. Dies überzeugt nicht.

Im seinem Entscheid vom 27. September 2005 führte das Bundesgericht noch aus, dass es „dem Willen des Gesetzgebers [entspreche], die Durchsuchung von Papieren im Verwaltungs- und im Bundesstrafverfahren nach gleichen Grundsätzen zu regeln.“[9] An diesem Willen des Gesetzgebers hat sich nichts geändert, was sich auch an der Siegelungsbefugnis im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen zeigt. Diese wird Dritten auch dann zugesprochen, wenn die Rechtshilfe in einer verwaltungsstrafrechtlichen Anlasstat begründet liegt.[10] Im Übrigen wäre eine Ungleichbehandlung als Verstoss gegen den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung auch wertungswidersprüchlich, denn es gibt keinen Grund, dem Geheimnisträger in einem Verwaltungsstrafverfahren weniger Schutz zuzusprechen, als in einem ordentlichen Strafverfahren.

An einem solchen Verständnis ändert auch der Entscheid des Bundesgerichts nichts, in welchem das Gericht die 20-Tages-Frist des Art. 248 Abs. 2 StPO zur Stellung des Entsiegelungsantrages im Verwaltungsstrafverfahren für nicht anwendbar erklärt.[11] Denn hier ging es um eine behördliche Pflicht, innerhalb welcher Anträge gestellt werden müssen, nicht aber um ein Recht des betroffenen Geheimnisträgers (nämlich jenes zur Siegelung). Eben dieses Recht ist unzweifelhaft höher und vor allem ganz anders zu gewichten als die behördliche Pflicht zur Fristenwahrung. Im Übrigen wollte das Bundesgericht mit seinem Entscheid sicher nicht die Reichweite des Siegelungsanspruchs festlegen. Denn dies geschah ja bereits durch das vorerwähnte Urteil vom 27. September 2005, in welchem eine Gleichbehandlung des Siegelungsrechts in Bundesstrafprozess- und Verwaltungsstrafverfahrensrecht ausdrücklich postuliert wird.

Zuletzt lässt auch der Wortlaut des Art. 50 Abs. 3 VStrR eine über den Inhaber hinausgehende Siegelungsbefugnis dritter Geheimnisträger im Verwaltungsstrafverfahren zu. Folgerichtig gewährte das Bundesgericht nicht nur dem Inhaber der Papiere, sondern auch dem Angeschuldigten und jedem anderen direkt Betroffenen einen Siegelungsanspruch; dies bis zum bereits mehrfach erwähnten Entscheid vom 27. September 2005 seit seinem Urteil vom 9. Mai 1978.[12]

[1] Vgl. zum Text der Art. 66a ff. StGB: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2015/2735.pdf (zuletzt besucht am 20. Juni 2016). Die Botschaft ist abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2013/9459.pdf (zuletzt besucht am 20. Juni 2016). Ausführlich zu alldem auch Münch/De Weck, Die neue Landesverweisung in Art. 66a ff. StGB, Anwaltsrevue 2016, S. 163 ff.

[2] Abrufbar unter https://www.so.ch/gerichte/obergericht/aktuelle-entscheide/urteile/23122015-strafkammer/ (zuletzt besucht am 20. Juni 2016).

[3] Näher zum Unternehmensstrafrecht Ryser/Kuchowsky, Die Strafbarkeit des Unternehmens, Der Schweizer Treuhänder, ST 2005, s. 583 ff.; Ryser, Outsourcing, Eine unternehmensstrafrechtliche Untersuchung, Diss. Zürich 2006.

[4] BGer vom 21. Juli 2014, 6B_7/2014, E. 3 (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bger/140721_6B_7-2014.html, zuletzt besucht am 20. Juni 2016; übersetzt in: Die Praxis 12/2014, Nr. 115, S. 915-927).

[5] Abrufbar unter: http://sorminiserv.unibe.ch:8080/tools/aBgerDnLd.exe?Command=Get&AZ=6B_887/2015 &Format=Cache (zur amtlichen Publikation vorgesehen; zuletzt besucht am 20. Juni 2016).

[6]  Abrufbar unter: http://bstger.weblaw.ch/pdf/20160301_BE_2015_13.pdf (zuletzt besucht am 20. Juni 2016).

[7]  Eingehend zur Siegelungslegitimation gemäss StPO Burckhardt/Ryser, Die erweiterten Beschlagnahmeverbote zum Schutz des Anwaltsgeheimnisses, AJP 2013, S. 165 f.

[8] Vgl. dazu bereits Eicker/Frank/Glatthart, WiJ 2013, S. 50 f. (abrufbar unter: http://www.wi-j.de/index.php/de/wij/aktuelle-ausgabe/item/157-länderbericht-schweiz-aktuelles-wirtschaftsstrafrecht) und Blattner/Leu/Frank, WiJ 2013, S. 171 f. (abrufbar unter: http://www.wi-j.de/index.php/de/wij/aktuelle-ausgabe/item/196-länderbericht-schweiz-aktuelles-wirtschaftsstrafrecht).

[9] Urteil des Bundesgerichts vom 27. September 2005 (1S.28/2005), E. 2.4.2., abrufbar unter: http://www.servat.unibe.ch/dfr//bger/050927_1S_28-2005.html (zuletzt besucht am 20. Juni 2016).

[10] Beschluss des Bundesstrafgerichts vom 21. März 2012 (BE.2012.1), abrufbar unter: http://bstger.weblaw.ch/pdf/20120321_BE_2012_1.pdf (zuletzt besucht am 20. Juni 2016).

[11] Urteil des Bundesgerichts vom 8. Mai 2013 (1B_637/2012), abrufbar unter: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bger/130508_1B_637-2012.html (zuletzt besucht am 20. Juni 2016).

[12] BGE 104 IV 125 = Praxis 1978, Nr. 171, vgl. dazu auch Hauri, VStrR 1999, Bem. 14a zu Art. 50; ähnlich weitgehend BGE 106 IV 413, E. 8a.

Autorinnen und Autoren

  • Friedrich Frank
    Nach dem Studium an der Universität Tübingen assistierte Friedrich Frank an der Universität Bern und arbeitete als Rechtsanwalt in Stuttgart sowie als Tutor für Wirtschaftsstrafrecht an der Universität St. Gallen (HSG). Er besitzt die deutsche und die bernische Rechtsanwaltszulassung, ist Fachanwalt SAV Strafrecht und arbeitet als Anwalt bei der Kanzlei Jetzer Frank in Zürich, ausschliesslich im Bereich Strafrecht.
  • Dr. Roland M. Ryser
    Dr. Roland M. Ryser studierte und assistierte an der Universität Zürich. Seit 2009 ist er als Rechtsanwalt in der Kanzlei Schellenberg Wittmer AG in Zürich tätig und befasst sich schwergewichtig mit Fragen des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechts. 2011 arbeitete er als Consultant in einer Kanzlei in Sydney.

WiJ

  • Dr. Elias Schönborn , Jan Uwe Thiel

    Gesetzliche Regelungen zur Handy-Sicherstellung sind verfassungswidrig (Österreich)

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Tino Haupt

    Der Zugriff auf Fahrzeugdaten aus strafprozessualer Perspektive

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Florian Neuber

    Verteidigung ohne Grenzen?

    Internationales Strafrecht