Dr. Sabine Ottow

Ein jeder Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG, der zugleich eine Hauptpflichtverletzung darstellt, soll den Tatbestand der Untreue begründen

Anmerkung zu BGH, Urteil vom 12.10.2016 – 5 StR 134/15[1]

Sind die in § 93 Abs. 1 AktG normierten äußersten Grenzen unternehmerischen Ermessens überschritten und ist damit eine Hauptpflicht gegenüber dem zu betreuenden Unternehmen verletzt worden, so liegt eine Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten vor, die (gleichsam „automatisch“) so gravierend ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit im Sinne der Untreue gemäß § 266 StGB begründet.

Der 5. Strafsenat des BGH hat klargestellt, dass bei einem Verstoß gegen die zivilrechtliche Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG stets eine „gravierende“ bzw. „evidente“ Pflichtverletzung im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG[2]und des BGH[3] zum Untreuetatbestand vorliegt. Angesichts des durch § 93 Abs. 1 S. 1 AktG eingeräumten weiten unternehmerischen Ermessensspielraums sei für eine gesonderte Prüfung der Pflichtverletzung als „gravierend“ bzw. „evident“ kein Raum.[4]

Damit verlagert der 5. Strafsenat des BGH die Auslegungsprobleme des Untreuetatbestandes in das Aktienrecht.[5] Für die Praxis hat die Entscheidung erhebliche Bedeutung. Unternehmen und Zivilgerichte werden bei der Prüfung einer Pflichtverletzung durch Vorstände und Aufsichtsräte gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 (i.V.m. § 116 S. 1) AktG zu beachten haben, dass mit der Annahme eines Verstoßes gegen § 93 Abs. 1 S. 1 (i.V.m. § 116 S. 1) AktG (sofern es sich dabei um eine Hauptpflichtverletzung handelt) automatisch eine Untreuehandlung im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB bejaht wird.[6] Liegt auch ein Schaden vor und handelte das Vorstands-/Aufsichtsratsmitglied vorsätzlich, ist der Tatbestand der Untreue erfüllt.[7]

I. Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat den sechs Angeklagten, die im Dezember 2007 den Gesamtvorstand der H., einer Bank, bildeten, vorgeworfen, sich der Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB schuldig gemacht zu haben, indem sie im Dezember 2007 auf Grundlage unzureichender Informationen dem Abschluss eines der Verbesserung der bankaufsichtsrechtlichen Eigenkapitalquote zu dienen bestimmten Finanzgeschäfts mit der französischen B., der „Omega 55“-Transaktion, zustimmten und dadurch der H. einen Vermögensnachteil zufügten. Darüber hinaus hat die Staatsanwaltschaft Hamburg zweien der angeklagten Vorstandsmitglieder vorgeworfen, gemeinschaftlich gemäß § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG die Verhältnisse des H.-Konzerns in Darstellungen und Übersichten über den Vermögensstand unrichtig wiedergegeben zu haben, indem sie in dem Quartals-Zwischenbericht zum 31. März 2008 und in der Pressemitteilung vom 20. Juni 2008 fehlerhaft einen Überschuss in Höhe von EUR 81 Millionen auswiesen, während tatsächlich ein Fehlbetrag in Höhe von EUR 31 Millionen vorlag.

Das Landgericht Hamburg[8] hat zu dem in der Anklage den Angeklagten zur Last gelegten Sachverhalt folgende Feststellungen getroffen:

Im Jahre 2007 sind die bei der H. bankintern festgelegten Obergrenzen für den Umfang der durch Eigenkapital abzusichernden gewichteten Risikoaktiva (sog. RWA-Grenzen, „Risk Weighted Assets“) zum Teil deutlich überschritten worden. Dies resultierte in einer unterhalb der Planung liegenden Eigenkapitalquote. Die Angeklagten nahmen an, dass es dem Auftreten der Bank am Kapitalmarkt erheblichen Schaden zufügen würde, wenn die selbst gesetzten und auch nach außen kommunizierten Eigenkapitalziele nicht eingehalten würden.

Vor diesem Hintergrund wurden im zweiten Halbjahr 2007 umfänglich Angebote für RWA-Entlastungsmaßnahmen am Markt gesichtet. Nachdem eine andere fast bis zur Abschlussreife vorbereitete Transaktion kurzfristig gescheitert war, entstand in der RWA-Entlastungsplanung eine Lücke, die durch die Transaktion „Omega 55“ mit der B. geschlossen werden sollte. Die hierüber seit Mitte November 2007 geführten Verhandlungen erfolgten unter Zeitdruck, da die RWA-Entlastung noch zum Jahresende 2007 wirksam werden sollte und aus diesem Grund ein vorheriger Geschäftsabschluss erforderlich war.

Den Angeklagten waren zur Information und Entscheidung über den Abschluss der Transaktion in der Woche ab dem 17. Dezember 2007 vier Dokumente (zwei Vorlagen und zwei Voten) mit der Bitte um alsbaldige Entscheidung vorgelegt worden. Die den Angeklagten vorgelegten Unterlagen enthielten nach den Wertungen des Landgerichts Hamburg in der Darstellung der Transaktion verschiedene Lücken und Unklarheiten. Das konkrete Vertragswerk als solches war den Angeklagten nicht bekannt. Der Vorgang war als Eilvorlage gekennzeichnet. Die Angeklagten stimmten dem Geschäftsabschluss jeweils durch Unterzeichnung der Vorlagen in der Zeit vom 17. bis 20. Dezember 2007 zu. Die Entscheidung wurde im schriftlichen Umlaufverfahren getroffen, eine mündliche Vorstandsberatung fand nicht statt.

Tatsächlich führte die Gesamttransaktion „Omega 55“, die aus zwei Teilgeschäften („A-Teil“ und „B-Teil“) bestand, entgegen der mit ihr verfolgten (aufsichts-)rechtlichen Zielsetzung bei zutreffender Anwendung der aufsichtsrechtlichen Vorschriften nicht zu einer RWA-Entlastung und damit auch nicht zu Vorteilen bei der aufsichtsrechtlichen Bestimmung der Eigenkapitalquote. Vielmehr bewirkte der B-Teil der Transaktion in seinem ersten Teil („B-Teil 1“) letztlich, dass die B. in jedem Einzelfall, in dem sie für Ausfälle in dem im A-Teil abgesicherten Kreditportfolio hätte einstehen müssen, aus dem B-Teil 1 Gegenansprüche in gleicher Höhe erwarb, so dass sie im Ergebnis die Risiken aus dem H.-Kreditportfolio zu keiner Zeit wirtschaftlich zu tragen hatte.

Zudem übernahm die H. im zweiten Teil des am 24. Januar 2008 unterzeichneten B-Teils („B-Teil 2“) ein neues Risiko in Form einer Liquiditätsfazilität (wirtschaftlich: Einräumung einer Kreditlinie) im Nominalwert von EUR 400 Millionen für einen STCDO („Single Tranche Collateralised Debt Obligation“ = Variante des „Collateralised Debt Obligation“-Geschäfts, das seinerseits der Weitergabe von Kreditrisiken oder sonstigen Risiken gegen Zahlung entsprechender Prämien dient). Aufgrund dessen konnte die H. ständig für aktuelle Marktwertverluste dieses Finanzprodukts in Anspruch genommen werden.

Da die Transaktion allein dem nicht erreichten Zweck der Entlastung der aufsichtsrechtlich zu bestimmenden Eigenkapitalerfordernisse diente und darüber hinaus Kosten verursachte, war sie für die H. insgesamt sinnlos. Die Transaktion führte zu Vermögensverlusten, denen weder ein aufsichtsrechtlicher noch ein sonstiger Nutzen gegenüberstand. Wie das Landgericht Hamburg feststellte, wohnten der Transaktion bereits mit Abschluss der beiden Teilgeschäfte am 21. Dezember 2007 und am 24. Januar 2008 Vermögensnachteile für die H. in Höhe von mehr als EUR 40 Millionen inne.

Im Übrigen veröffentlichte die H. am 20. Juni 2008 den Quartals-Zwischenbericht für den H.-Konzern zum 31. März 2008 und eine hierauf bezogene Pressemitteilung. In beiden Dokumenten wurde zum Stichtag 31. März 2008 ein Konzernüberschuss von EUR 81 Millionen ausgewiesen. Beide Publikationen hatten im Hinblick auf den darin ausgewiesenen Überschuss einen falschen Inhalt. Bei zutreffender Bewertung ergab sich aus der auf den STCDO bezogenen Liquiditätsfaszilität ein Verlust von rund EUR 112 Millionen. Anstelle des Konzernüberschusses hätte dementsprechend im Quartals-Zwischenbericht zum 31. März 2008 und der hierauf bezogenen Pressemitteilung für den Konzern ein Verlust in Höhe von ca. EUR 31 Millionen anstelle eines Überschusses von EUR 81 Millionen ausgewiesen werden müssen.

Das Landgericht Hamburg[9] hat die Angeklagten freigesprochen. Betreffend den Vorwurf der Untreue habe die Hauptverhandlung zwar ergeben, dass die Angeklagten durch ihre Zustimmung ihre Vorstandspflichten aus § 93 Abs. 1 AktG verletzt und hierdurch der H. einen Vermögensnachteil zugefügt hätten. Die festgestellten Pflichtverletzungen seien jedoch nicht so „offensichtlich“ und „gravierend“, dass sie im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH den Tatbestand der Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB erfüllten. Betreffend den Vorwurf der unrichtigen Darstellung gemäß § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG habe die Hauptverhandlung ergeben, dass in den genannten Darstellungen des Vermögensstandes der H. zwar fälschlich der bezeichnete Überschuss anstelle des genannten Fehlbetrages ausgewiesen worden sei. Die Unrichtigkeit sei jedoch nicht erheblich. Daher sei bereits der objektive Tatbestand nicht verwirklicht.

II. Gründe

Der 5. Strafsenat des BGH hat das Urteil des Landgerichts Hamburg mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Hamburg zurückverwiesen.[10]

1. Zum Vorwurf der Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB

Wie der BGH konstatiert, hält der Freispruch der Angeklagten vom Vorwurf der Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Bei einem Verstoß gegen § 93 Abs. 1 S. 1 AktG liegt stets eine „gravierende“ bzw. „evidente“ Pflichtverletzung vor

Zwar habe das Landgericht im Ausgangspunkt zutreffend bedacht, dass die Anwendung des Untreuetatbestandes auf „klare und deutliche“ Fälle pflichtwidrigen Handels zu beschränken ist; gravierende Pflichtverletzungen ließen sich, so der BGH, nur dann bejahen, wenn die Pflichtverletzung evident ist. Allerdings liege bei einem Verstoß gegen § 93 Abs. 1 S. 1 AktG stets eine „gravierende“ bzw. „evidente“ Pflichtverletzung im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zu § 266 StGB vor.

Sind mit anderen Worten die in § 93 Abs. 1 AktG normierten äußersten Grenzen unternehmerischen Ermessens überschritten und ist damit eine Hauptpflicht gegenüber dem zu betreuenden Unternehmen verletzt worden, so liege eine Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten vor, die (gleichsam „automatisch“) so gravierend ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 266 StGB begründet. Angesichts des durch § 93 Abs. 1 AktG eingeräumten weiten unternehmerischen Entscheidungsspielraums sei für eine gesonderte Prüfung der Pflichtverletzung als „gravierend“ bzw. „evident“ kein Raum.

b) Voraussetzungen einer Pflichtverletzung gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG

Allerdings, so der BGH weiter, seien die vom Landgericht in seinem „zweiten Prüfungsschritt“ herangezogenen Gesichtspunkte bereits im Rahmen der Prüfung, ob überhaupt ein Verstoß gegen § 93 Abs. 1 AktG gegeben ist, zu würdigen. Eine Pflichtverletzung im Sinne des § 93 Abs. 1 AktG liege vor, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt wird oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muss. Diese mittlerweile als sog. Business Judgement Rule in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG kodifizierten Grundsätze seien auch Maßstab für das Vorliegen einer Pflichtverletzung im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB.

c) Informationspflichtverletzung begründet nicht ohne weiteres einen Pflichtenverstoß im Sinne des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG

Allein aus der vom Landgericht bejahten Verletzung einer Informationspflicht folge nicht ohne weiteres auch ein Pflichtenverstoß im Sinne des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG.

93 Abs. 1 S. 2 AktG definiere einen „sicheren Hafen“, d.h. die Einhaltung seiner Voraussetzungen schließe eine Pflichtverletzung aus. Umgekehrt begründe die Überschreitung seiner Grenzen durch einen Verstoß gegen Informationspflichten allein noch keine Pflichtverletzung. Vielmehr sei auch dann pflichtgemäßes Handeln gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG möglich. Allerdings indiziere ein Verstoß gegen § 93 Abs. 1 S. 2 AktG eine Pflichtverletzung. Letztlich sei eine Verletzung der Sorgfaltspflichten aus § 93 Abs. 1 S. 1 AktG immer nur dann zu bejahen, wenn ein schlechthin unvertretbares Vorstandshandeln vorliegt. Der Leitungsfehler müsse sich einem Außenstehenden förmlich aufdrängen.

d) Der von dem Landgericht gewählte fehlerhafte Prüfungsansatz führt zu einer Aufhebung der Freisprüche

aa) Informationspflichtverletzung kann auf Grundlage der Feststellungen des Landgerichts nicht ausgeschlossen werden

Der von der Wirtschaftsstrafkammer gewählte Prüfungsansatz würde, so der BGH, allein nicht zur Aufhebung des Urteils führen, wenn zum einen eine Informationspflichtverletzung zu verneinen gewesen wäre; dies vermag der Senat auf der Grundlage der Feststellungen allerdings nicht zu beurteilen. Das Landgericht habe es unterlassen, das Maß der Informationspflichten der Angeklagten hinreichend zu bestimmen, um ausgehend hiervon die tatsächlichen Anforderungen zu klären, denen die Vorstandsvorlagen hätten genügen müssen.

bb) Bei der Abwägung des Maßes der Pflichtverletzung blieben wesentliche tatsächliche Gesichtspunkte unberücksichtigt

Der Freispruch der Angeklagten könnte zum anderen, so der BGH weiter, bestehen bleiben, wenn das Landgericht in seinem „zweiten Prüfungsschritt“ hinreichend alle bei der Prüfung einer Sorgfaltspflichtverletzung gemäß § 93 Abs. 1 AktG zu beachtenden tatsächlichen Gesichtspunkte erörtert hätte; dies sei indes nicht der Fall.

Namentlich hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass sich insbesondere aus den zwei Voten ablesen ließ, dass die Bewertungen der zuständigen Mitarbeiter auf unzureichender Tatsachengrundlage beruhten und ausdrücklich vorläufigen Charakter hatten. Beide Voten hätten unmissverständlich klargemacht, dass sie unter erheblichem Zeitdruck angefertigt wurden. Sie enthielten damit „Warnsignale“, die Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit der jeweils vorgenommenen Gesamtbewertung hätten geben müssen.

Zudem wären mögliche Vorinformationen über RWA-Entlastungstransaktionen der Art von „Omega 55“ zu würdigen gewesen. Tragfähige Vorinformationen aus anderen ins Auge gefassten Transaktionen hätten einerseits das Informationsbedürfnis der Angeklagten mindern können; andererseits hätten die Angeklagten aus ihnen aber auch Kenntnisse über aufsichtsrechtliche Probleme und Risiken des Geschäfts erlangt haben können.

Soweit das Landgericht auf die „Uneigennützigkeit“ des Handelns der Angeklagten abstellte, hätte es sein Augenmerk schließlich auch darauf richten müssen, ob diese sich von der Einhaltung der bankinternen RWA-Grenzen finanzielle Vorteile (z.B. „Boni“) versprechen konnten oder bei Verfehlung dieser Ziele entsprechende Nachteile zu erwarten gehabt hätten.

2. Zum Vorwurf der unrichtigen Darstellung gemäß § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG

Ferner hält auch der Freispruch zweier angeklagter Vorstandsmitglieder vom Vorwurf der unrichtigen Darstellung gemäß § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Dem Verhältnis der fehlerhaft dargestellten Ertragslage von insgesamt rund EUR 112 Millionen (Gewinn in Höhe von EUR 81 Millionen statt Verlust in Höhe von EUR 31 Millionen) zur Bilanzsumme und zum Gesamtgeschäftsvolumen könne im vorliegenden Fall keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Dieser Bezugsrahmen sei für Banken wenig geeignet, da diese aufgrund ihres Geschäftszwecks regelmäßig über besonders hohe Finanzsummen verfügen, mithin sich die Relation in den meisten Fällen als geringfügig darstellen werde.

Das Landgericht hätte vielmehr eine Gesamtbetrachtung vornehmen und dabei etwa einstellen müssen, dass die Ertragslage der H. für die Kapitalmarktöffentlichkeit unter dem Eindruck der Subprime-Krise und des durch sie hervorgerufenen allgemeinen Misstrauens gegenüber Finanzinstituten von großer Bedeutung war.

3. Hinweise des 5. Strafsenats für die neue Hauptverhandlung

Schließlich erteilte der 5. Strafsenat weitergehende Hinweise für die neue Hauptverhandlung. Insbesondere werde das neue Tatgericht auch den „Kapitalmarkterfolg“ als möglichen Gegenwert des Vermögensverlusts in Betracht zu ziehen haben. Die Urteilsbegründung spreche bezogen auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Transaktion für das Bestehen nicht geringer Chancen, dass das Geschäft aufsichtsrechtlich nicht beanstandet worden wäre, weshalb das verfolgte Ziel, die RWA-Entlastung gegenüber der Kapitalmarktöffentlichkeit geltend zu machen, hätte erreicht werden können und Nachteile für die H. am Kapitalmarkt vermieden worden wären.

III. Analyse

Nach der Rechtsprechung des 5. Strafsenats qualifiziert ein Verstoß gegen die zivilrechtliche Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG, der zugleich eine Hauptpflichtverletzung darstellt, automatisch als Untreuehandlung im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB. Angesichts des durch § 93 Abs. 1 AktG eingeräumten weiten unternehmerischen Entscheidungsspielraums sei für eine gesonderte Prüfung der Pflichtverletzung als „gravierend“ bzw. „evident“ kein Raum.[11]

Diese Rechtsprechung überzeugt nicht, denn sie begibt sich in Widerspruch zu den Wertungen des Aktienrechts (hierzu nachfolgend unter Ziff. 1.), entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers (hierzu unter Ziff. 2.) und verstößt gegen den Ultima-Ratio-Grundsatz (hierzu unter Ziff. 3.).

1. Widerspruch zu den Wertungen des Aktienrechts

Während der BGH[12] annimmt, dass jeder Verstoß gegen die zivilrechtliche Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG stets eine „gravierende“ bzw. „evidente“ Pflichtverletzung begründet, die im Falle einer Hauptpflichtverletzung den Tatbestand der Untreue gemäß § 266 StGB erfüllt, unterstellt das Aktiengesetz, dass in einfacher und in grober bzw. gröblicher Weise gegen die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG verstoßen werden kann. Danach ist nicht jeder Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG per se ein gravierender Verstoß.

Wie Seibt/Schwarz[13] zutreffend feststellen, zeigt sich an den Bestimmungen betreffend den Schutz von Aktionärsminderheiten (§§ 142 Abs. 2 S. 1, 148 Abs. 1, S. 1, 2 Nr. 3 AktG) sowie an den Vorschriften des § 93 Abs. 5 S. 1, 2 AktG und des § 84 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AktG, dass das Aktiengesetz nach dem Grad der Pflichtverletzung differenziert und für Verletzungen des gesetzlichen Pflichtenprogramms aus § 93 Abs. 1 S. 1 (i.V.m. § 116 S. 1) AktG ein abgestuftes Sanktionssystem vorsieht.

Namentlich werden der Aktionärsminderheit Kontrollrechte nur bei groben Gesetzesverletzungen gewährt. Gemäß § 142 Abs. 2 S. 1 AktG hat das Gericht auf Antrag einer Aktionärsminderheit bei fehlendem Hauptversammlungsbeschluss Sonderprüfer zu bestellen, wenn Tatsachen vorliegen, die den Verdacht rechtfertigen, dass bei dem Vorgang „Unredlichkeiten oder grobe Verletzungen des Gesetzes oder der Satzungvorgekommen sind”. Ebenso räumt § 148 Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 3 AktG der Aktionärsminderheit das Recht ein, Ersatzansprüche der Gesellschaft (§ 147 Abs. 1 S. 1 AktG) im eigenen Namen klageweise durchzusetzen (actio pro socio), wenn Tatsachen vorliegen, die den Verdacht rechtfertigen, dass der Gesellschaft „durch Unredlichkeit oder grobe Verletzung des Gesetzes oder der Satzung“ ein Schaden entstanden ist.

Unter den Begriff Gesetzesverletzungen im Sinne der §§ 142 Abs. 2 S. 1, 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG fallen insbesondere Verstöße gegen die in § 93 Abs. 1 S. 1 (i.V.m. § 116 S. 1) AktG normierte Sorgfaltspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat.[14] Als weitere Voraussetzung muss die Gesetzesverletzung grob sein, wofür im Einzelfall in einer Gesamtschau unter anderem darauf abzustellen ist, wie erheblich der Handelnde von seinen Pflichten abgewichen ist; auch das Maß des Verschuldens, die Höhe des Schadens, die Dauer und Intensität des Verstoßes können die Pflichtverletzung zu einer groben qualifizieren.[15]

Während für einen Verstoß gegen die in § 93 Abs. 1 S. 1 (i.V.m. § 116 S. 1) AktG normierte Sorgfaltspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat sowie den hierauf basierenden Schadensersatzanspruch gemäß § 93 Abs. 2 S. 1 AktG bereits eine „einfache“ Pflichtverletzung genügt, die auch fahrlässig[16] begangen werden kann, erfordert die Möglichkeit einer vorgelagerten Sachverhaltsaufklärung mittels Sonderprüfung durch die Aktionärsminderheit bzw. einer anschließenden Anspruchsverfolgung darüber hinaus also einen groben Verstoß.[17]

Ferner bestimmt § 93 Abs. 5 S. 1, 2 AktG, dass der Ersatzanspruch der Gesellschaft von Gläubigern der Gesellschaft außer in den Fällen des § 93 Abs. 3 AktG nur geltend gemacht werden kann, wenn Vorstandsmitglieder die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters „gröblich verletzt“ haben. Zudem sieht § 84 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AktG vor, dass die Bestellung zum Vorstandsmitglied und die Ernennung zum Vorsitzenden nur widerrufen werden kann, wenn ein wichtiger Grund u.a. in Form einer „grobenPflichtverletzung” vorliegt.

Folglich differenziert das Aktienrecht nach einfachen und groben bzw. gröblichen Verstößen gegen die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG und sieht hierfür unterschiedliche Rechtsfolgen vor. Zu dieser Wertung begibt sich der BGH in Widerspruch, indem er in jeglichem Verstoß gegen § 93 Abs. 1 S. 1 AktG zugleich eine „gravierende“ bzw. „evidente“ Pflichtverletzung im Sinne der Rechtsprechung zu § 266 StGB sieht.

In der Praxis führen diese Wertungswidersprüche, wie es Seibt/Schwarz[18] konstatieren, zu dem nicht zu rechtfertigenden Ergebnis, dass etwa die Aktionäre als Eigentümer der geschädigten Gesellschaft den durch das pflichtwidrige Vorstandshandeln verursachten Schaden im Falle einfacher Übertretungen der Business Judgement Rule nur eingeschränkt liquidieren könnten, während der Staatsanwalt in Bezug auf dasselbe Verhalten uneingeschränkt in der Lage wäre, sogar eine strafrechtliche Sanktionierung zu initiieren.

2. Entgegenstehender Wille des Gesetzgebers

Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen nur grobe Verstöße gegen die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG eine strafbewehrte Untreuehandlung darstellen.

Tatsächlich grenzt der Gesetzgeber ausweislich der Begründung zum Regierungsentwurf des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)[19], mit dem die actio pro socio einer Aktionärsminderheit in § 148 Abs. 1 AktG eingeführt wurde, grobe Verstöße von einfachen Verstößen ab, indem er das Kriterium des strafbewehrten Verhaltens bemüht. Wörtlich heißt es dort:

„Die Beschränkung des Verfolgungsrechts auf Fälle von Unredlichkeiten sowie grober Verletzungen des Gesetzes oder der Satzung entspricht der bisherigen Regelung in § 147 Abs. 3 Satz 1 und in § 142 Abs. 2 Satz 1 AktG. […] Im Fall von Unredlichkeiten, welche stets ins Kriminelle reichende Treupflichtverstöße sind, wird eine solche Einschränkung freilich nicht gemacht. Mit der Norm sollen also vor allem solche Fälle einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden, in denen wegen der besonderen Schwere der Verstöße, die nicht im Bereich unternehmerischer Fehlentscheidungen liegen, sondern regelmäßig im Bereich der Treupflichtverletzung, eine Nichtverfolgung unerträglich wäre und das Vertrauen in die gute Führung und Kontrolle der deutschen Unternehmen und damit in den deutschen Finanzplatz erschüttern würde.“

[Unterstreichungen hinzugefügt]

Mithin geht der Gesetzgeber offensichtlich davon aus, dass erst oberhalb der Schwelle einer groben Gesetzesverletzung zugleich ein strafbewehrtes Verhalten vorliegt. Eine einfache Gesetzesverletzung soll nach dem Willen des Gesetzgebers demgegenüber keine strafbewehrte Untreuehandlung darstellen.[20]

3. Verstoß gegen den Ultima-Ratio-Grundsatz

Schließlich verstößt es gegen den Ultima-Ratio-Grundsatz, ein Verhalten als Untreuehandlung im Sinne des § 266 StGB zu bewerten und strafrechtlich zu sanktionieren, das sich unterhalb der Schwelle einer groben Pflichtverletzung bewegt.[21]

Wie das BVerfG[22] wiederholt hervorgehoben hat, wird das Strafrecht als „ultima ratio” des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist. Wegen des in der Androhung, Verhängung und Vollziehung von Strafe zum Ausdruck kommenden sozialethischen Unwerturteils komme dem Übermaßverbot als Maßstab für die Überprüfung einer Strafnorm besondere Bedeutung zu.

Mit diesem Grundsatz ist es nicht vereinbar, ein Verhalten zu pönalisieren, das nicht dazu ausreicht, sämtliche Sanktionen nach dem Aktienrecht auszulösen. Die Sanktionen nach dem Strafrecht dürfen keine geringeren Anforderungen haben als die Sanktionen nach dem Aktienrecht.

[1] NJW 2017, 578 = NZG 2017, 116.

[2] NJW 2010, 3209, 3215 Rn. 110f.

[3] NStZ 2013, 715 m.w.N.

[4] BGH, Urteil vom 12.10.2016 – 5 StR 134/15, S. 16 Rn. 27.

[5] Müller-Michaels, Anm. zu BGH, Urteil vom 12.10.2016 – 5 StR 134/15, BB 2017, 79, 82.

[6] Vgl. Müller-Michaels, a.a.O.

[7] Nach der Rechtsprechung des BGH kommt dem Vorstand und dem Aufsichtsrat grundsätzlich eine Vermögensbetreuungspflicht zu, wie sie der Tatbestand des § 266 StGB überdies voraussetzt, vgl. BGH NJW 1988, 2483, 2485 (Vorstand) und BGH NJW 2002, 1585, 1588 (Aufsichtsrat).

[8] Urteil vom 9. Juli 2014 – 608 KLs 12/11 (5550 Js 4/09), S. 2 ff. Rn. 8 ff.

[9] Urteil vom 9. Juli 2014 – 608 KLs 12/11 (5550 Js 4/09).

[10] Die neue Hauptverhandlung soll voraussichtlich vor der Großen Strafkammer 18 des Landgerichts Hamburg unter Vorsitz von Herrn VRiLG Dr. Sommer stattfinden.

[11] Urteil vom 12.10.2016 – 5 StR 134/15, S. 16 Rn. 27.

[12] Urteil vom 12.10.2016 – 5 StR 134/15, S. 15 Rn. 25.

[13] AG 2010, 301, 312f.

[14] Spindler, in: Schmidt, K./Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 142 Rn. 54 m.w.N.; Mock, in: Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 Rn. 77 m.w.N.

[15] Spindler, in: Schmidt, K./Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 142 Rn. 54 m.w.N.

[16] Im Falle eines bloß fahrlässigen Verstoßes entfiele freilich mangels des hierfür erforderlichen Vorsatzes eine Strafbarkeit wegen Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB.

[17] Vgl. Seibt/Schwarz, AG 2010, 301, 312.

[18] AG 2010, 301, 313.

[19] Begründung zum RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092 vom 14.03.2005, S. 22.

[20] Ebenso Seibt/Schwarz, AG 2010, 301, 313.

[21] Vgl. auch Brand, Anm. zu BGH, Urteil vom 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NJW 2017, 578, 582, der konstatiert, dass die zentrale These des Urteils, wonach jede aktienrechtliche Pflichtverletzung im Sinne des § 93 Abs. 1 AktG zugleich den Anforderungen an eine Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB genügt, mit Blick auf den Ultima-Ratio-Grundsatz nicht überzeuge.

[22] NJW 2008, 1137, 1138 m.w.N.

Autorinnen und Autoren

  • Dr. Sabine Ottow
    Dr. Sabine Ottow ist Salary Partner in der Kanzlei Langrock Voß & Soyka. Sie berät und verteidigt Unternehmen und Einzelpersonen auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts.

WiJ

  • Dr. Elias Schönborn , Jan Uwe Thiel

    Gesetzliche Regelungen zur Handy-Sicherstellung sind verfassungswidrig (Österreich)

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Tino Haupt

    Der Zugriff auf Fahrzeugdaten aus strafprozessualer Perspektive

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Florian Neuber

    Verteidigung ohne Grenzen?

    Internationales Strafrecht