Folker Bittmann

„Organisationsherrschaft und Wirtschaftsstrafrecht“ – Tagung der WisteV-Regionalgruppe Süden am 22.2.2017 in München

Die WisteV-Regionalgruppe Süden hatte in Kooperation mit dem Gesprächskreis Wissenschaft im Dialog (wid) für den Abend des 22.2.2017 nach München zu einer Veranstaltung mit dem Thema „Organisationsherrschaft und Wirtschaftsstrafrecht“ eingeladen. Nach kurzer Begrüßung seitens Rechtsanwalts Prof. Dr. Lorenz Schulz begab sich der „Meister“, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, zum Podium, ergriff mit seinen fast 86 Jahren in ungebrochener geistiger Frische das Wort und erklärte mit einer Klarheit und Präzision, die ihresgleichen sucht, was er in seiner Antrittsvorlesung vor über 50 Jahren entwickelt hatte: die Rechtsfigur der Organisationsherrschaft als mittelbare Täterschaft hinter einem weiteren und ebenfalls strafrechtlich voll verantwortlichen unmittelbaren Täter.

Roxin stellte eindeutig klar, dass er diese Rechtsfigur zwar als allgemeine, nicht aber für jede beliebige Gruppen- oder Organisationsform entwickelt habe. Den Anstoß hätte die seinerzeit sehr zögerliche strafrechtliche Aufarbeitung des Unrechts der Nationalsozialisten gegeben. Als Täter sah die Rechtsprechung damals nur denjenigen an, der die Rechtsgutsverletzung selbst herbeigeführt hatte. Die Personen, die das Unrecht organisiert hatten, konnten danach nur Anstifter oder Helfer sein. Die Gerichte forderten zudem den Nachweis einer Verbindung zwischen politischem Handeln und konkreter Tat. Mit diesem rechtlichen Instrumentarium war es nicht nur unmöglich, einen Hintermann als Täter zu verurteilen, sondern es blieb selbst die Verurteilung als Teilnehmer eine eher seltene Ausnahme. Roxin ging es mit seinen Überlegungen um die Suche nach einer dogmatischen Grundlage, in der sich die tatsächlichen Machtverhältnisse rechtssicher als angemessene strafrechtliche Verantwortlichkeit spiegeln und erfassen lassen würden.

Im Ergebnis schuf er für Ausnahmefälle eine neue Kategorie, von drei Voraussetzungen abhängend: Die erste bestehe in (nahezu ungehinderter) Ausübung von Macht innerhalb einer größeren Gruppe von Menschen. Dazu gehöre der Durchgriff von oben nach unten, vom Wort des einen zur Tat des anderen. Die Assoziation vom eigenen Willen als Gesetz ist dabei unvermeidlich. Daran knüpft das zweite Kriterium an: die Rechtsgelöstheit des Handelns. Damit sei gemeint, dass sich einerseits der die Macht Ausübende über das Gesetz stelle und andererseits seine Anhänger bei Ausführung seines Willens keine Strafe zu fürchten, sondern eher dann Nachteile zu gewärtigen hätten, wenn sie sich diesem Willen verweigerten (oder sich ihm gar widersetzten). Als dritter Aspekt trete die Fungibilität hinzu. Gemeint sei damit, dass es für den Mächtigen unwichtig sei, wer die Tat unmittelbar verübe, die Aufgabe den Ausführenden mehr oder weniger zufällig treffe und die Weigerung eines Angewiesenen dem Opfer nichts nutze, weil es genügend andere gäbe, welche stattdessen die Tat gemäß dem Willen des Mächtigen auszuführen bereit seien.

Roxin betonte, dass er die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft nicht allein zur Verfolgung nationalsozialistischer Täter geschaffen habe, sondern sie überall dort Anwendung finden könne, wo die drei genanten Voraussetzungen erfüllt seien. Das könnten staatliche oder staatsnahe Organisationen ebenso sein wie mafiöse oder rein kriminell agierende Einheiten, aber auch Guerillagruppen. Demgemäß sei es stimmig, dass seine Lehre u.a. der Verurteilung des früheren Staatspräsidenten Perus, Fujimori, ausdrücklich zugrundeliege.

Ein besonderer Genuss war es, wie Roxin souverän auf die Einwände der zahlreichen inländischen Gegner der von ihm entwickelten Rechtsfigur einging. Die von ihm Aufgeführten erinnerten an ein who is who der deutschen Strafrechtswissenschaft der letzten ca. 60 Jahre. Jedem Erwähnten zollte Roxin dadurch Respekt, dass er zunächst all jene Aspekte darlegte, die er akzeptiert. In unnachahmlicher Weise arbeitete er aber in jeder Gegenposition zumindest ein Begründungselement heraus, das ihn nicht überzeugt und das er ebenso kunstvoll wie präzis zugespitzt besonders herausstellte, um es anschließend und damit den jeweiligen Einwand insgesamt unter Rückgriff auf seinen schier unerschöpflichen Argumentationsschatz filigran zu widerlegen.

Nach dieser in ihren Voraussetzungen so klarsichtigen Vorlage hatte es der zweite Referent, Rechtsanwalt Prof. Dr. Christoph Knauer nicht schwer, dem Zuhörerkreis im Hinblick auf jedes der 3 Elemente die mannigfachen Unterschiede zu den wirtschaftsstrafrechtlichen Konstellationen vor Augen zu führen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Lehre Roxins von der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft ist nicht auf aus der Wirtschaft stammende Fälle übertragbar. Umstritten war dabei lediglich, ob sich eine Ausnahme für Fälle von „Kriminalität als Gewerbe“ (Joecks) rechtfertigen ließe. Roxin selbst verneinte strikt die Anwendbarkeit seiner Rechtsfigur auf solches Handeln (ebenso seine Ehefrau, Rechtsanwältin Dr. Imme Roxin, Ausgesuchte Problemfelder im Bereich der Organisationsherrschaft und Geschäftsherrenhaftung, Tagungsband der 3. Jahresarbeitstagung Strafrecht des deutschen Anwaltsinstituts e.V. in Zusammenarbeit mit der Schleswig-Holsteinischen Rechtsanwaltskammer in Hamburg am 24. und 25.6.2016, S. 425 ff.), während sich Knauer einer Fortentwicklung nicht von vorn herein verschließen wollte.

Prof. Dr. Frank Saliger kam die Aufgabe zu, die wesentlichen Strukturelemente beider Referate gegenüberzustellen. Da diese Aufgabe angesichts der beiden aus sich heraus so verständlichen Vorträge bereits weitgehend gelöst war, konnte er sich darauf konzentrieren, das Gesamtbild für die Zuhörer mit ergänzenden Informationen abzurunden. So problematisierte er einen Hinweis Roxins auf die Geburtsstunde der Idee, die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft auch auf Fälle der Wirtschaftskriminalität anzuwenden: Sie sei im Kreise der Richter des BGH erstmals im Zusammenhang mit der Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder des früheren Politbüros der SED bzw. des ehemaligen Staatsrats der DDR für die Todesschüsse auf West-Flüchtlinge während eines Pausengesprächs diskutiert worden. Bereits kurz darauf habe sie in die höchstrichterliche Rechtsprechung Eingang gefunden, ohne dass eine breite Diskussion unter Einschluss der Wissenschaft stattgefunden hätte. Saliger ging zudem auf die für und gegen die Übertragbarkeit der von Roxin entwickelten Rechtsfigur auf das Wirtschaftsstrafrecht im Schrifttum vorgebrachten einzelnen Argumente bzw. auf die Überzeugungskraft der Versuche einer ausdehnenden Fortentwicklung dieser Lehre ein. In den Revisionsentscheidungen selbst vermisst er eine vertiefte, über die eher pauschale (wie verfälschende) Rezeption der Ursprungsidee Roxins hinausgehende Begründung. Er war sich mit Knauer und verschiedenen Wortmeldungen einig, dass die Tatgerichte die strafrechtliche Haftung der Unternehmensleitung keinesfalls schlicht auf deren rechtliche Verantwortung für das Unternehmen als Ganzes, als quasi-Erfolgshaftung, stützen dürften. Selbst auf Basis der Rechtsprechung des BGH sei zumindest die Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen unumgänglich.

Einige bereits von Knauer angeführte Beispiele aufgreifend und vertiefend schilderte Saliger typische wirtschaftsstrafrechtliche Situationen, in denen Parallelen zu einzelnen der 3 Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft bestehen. In keiner dieser Konstellationen liegen jedoch kumulativ alle 3 Erfordernisse vor: Die Macht des Durchgriffs von der Spitze bis zum Ausführenden mag früher bei Patriarchen vorhanden gewesen, heute vielleicht bei dem ein oder anderen von Ehrgeiz zerfressenen dynamischen Manager festzustellen sein. Selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, die es erlauben würden, auch die Fungibilität zu bejahen, fehlte es aber am Merkmal der Rechtsgelöstheit. Es ist nicht schon bei einzelnen Rechtsverstößen zu bejahen, sondern erfordert ein Gebaren, welches dem Absolutismus zumindest nahekommt.

An der Einsicht, dass die von Roxin entwickelte Lehre von der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft nicht auf Fälle der Wirtschaftskriminalität 1:1 übertragen werden kann, hätte es nichts geändert, wäre jemand zur Verteidigung dieser Erweiterung zugegen gewesen. Sie kann schon deshalb als gesichert angesehen werden, weil sich ihr „Erfinder“ selbst unmissverständlich gegen einen derartigen Transfer ausgesprochen hat.

Allerdings fängt damit die Aufgabe für die heutige Praxis erst an: Es steht die Frage im Raum, wie diejenigen rechtssicher ihrem tatsächlichen Einfluss gemäß als Täter strafrechtlich belangt werden können, die im Hintergrund die Fäden ziehen, die eigentliche „Schmutzarbeit“ aber von anderen erledigen lassen. Zu prüfen ist z.B., ob es möglich ist, Elemente der Lehre Roxins aufzugreifen und sie innovativ oder als Fortentwicklung der Ursprungsidee so mit anderen Aspekten zu kombinieren, dass auf diese Weise eine eigene Rechtsfigur entsteht, die sachangemessen und rechtssicher konturiert spezifisch auf aktuelle Wirtschaftsphänomene angewendet werden kann. Selbst wenn dies gelingen sollte, wäre allerdings mehr als fraglich, ob man sich dafür auf den Vater der Lehre von der Organisationsherrschaft berufen könnte und dürfte. Viel wahrscheinlicher ist es, dass dieser sich dann wider Willen zum spiritus rector erkoren sähe. Das spricht jedoch weder gegen das Bedürfnis, auch über die Lehre Roxins hinausgehend die Hinterleute täterschaftlich zur Verantwortung ziehen zu wollen, noch wäre eine solche neu entwickelte Dogmatik vorrangig an seiner Lehre zu messen. Maßgeblich wäre vielmehr die Übereinstimmung mit dem Gesetz.

Darüber, ob es nicht sogar schon eine Rechtsfigur gibt, welche dem dargelegten Bedarf Rechnung zu tragen geeignet ist, waren sich Saliger und Knauer nicht einig: Während Ersterer ausdrücklich die Notwendigkeit ergänzender dogmatischer Anstrengungen bejahte, sah Knauer das Problem mit der Lehre von der Geschäftsherrenhaftung als gelöst an. Sind sich allerdings bereits zwei herausragende Kenner der Materie dieserhalb uneins, so lässt sich zumindest kühl konstatieren, dass selbst dann, wenn man Knauer folgt und die Geschäftsherrenhaftung als tragfähig ansieht, zumindest ein Konsens darüber noch lange nicht hergestellt ist: Demnach sind Praxis und Wissenschaft jedenfalls aufgerufen, sich am Herstellen eines derartigen Konsenses, seinem Kern wie seinen abgrenzenden Ausgestaltungen, zu beteiligen.

Dieser Appell reicht über den anregenden und rundum gelungenen Abend, der mit dem Schlusswort von Rechtsanwalt Prof. Dr. Schulz noch lange nicht endete, sondern sich in zahlreichen Diskussionen in kleinen Kreisen fortsetzte, weit hinaus: Wir dürfen den Referenten dafür dankbar sein, dass sie im Rahmen einer von WisteV mitgetragenen Veranstaltung einen Impuls gesetzt haben, der von Gerichten, Verteidigern und Wissenschaft aufgenommen und weitergeführt werden wird.

Autorinnen und Autoren

  • Folker Bittmann
    Nach dem ersten Staatsexamen 1980 in Heidelberg und dem zweiten 1985 in Stuttgart war LOStA a.d. Rechtsanwalt Folker Bittmann zunächst kurze Zeit Rechtsanwalt in Heidelberg. 1986 wechselte er zur Staatsanwaltschaft Darmstadt, 1987 zur Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und übernahm dort nach gut einem halben Jahr ein insolvenzrechtliches Dezernat und 1992 zusätzlich die Koordination der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, bevor ihm 1993 die Leitung der Wirtschafts- und Korruptionsabteilungen der Staatsanwaltschaft Halle übertragen wurde. Seit 2005 leitete er die Staatsanwaltschaft Dessau, seit 2007 Dessau-Roßlau. Seit Sommer 2018 ist er Rechtsanwalt bei verte|rechtsanwälte.

WiJ

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