Dr. Christian Wagemann

Überlegungen zum bedingten Vorsatz im Lichte von Risikopsychologie und Entscheidungsregeln

Wir wollen uns heute* einem bekannten, aber eventuell in der wirtschaftsstrafrechtlichen Praxis unterschätzten Thema – dem bedingten Vorsatz im Strafrecht – unter einem alternativen Vorzeichen widmen. Es sollen Erkenntnisse aus der Risikopsychologie und aus Verhaltensgrundsätzen anderer Berufsfelder in den Dienst der Rechtserkenntnis gestellt werden, aber auch umgekehrt wollen wir versuchen, die Risikopsychologie und andere Berufsfelder mit Strukturen des Strafrechts vertraut zu machen, soweit dieses – hier in Gestalt des Vorsatzbegriffs – menschliches Entscheidungsverhalten bewertet – und damit auch zu leiten beabsichtigt. Möglicherweise ergeben sich aus diesem Gegensatz normativer und empirischer Ansätze wertvolle Ergänzungen und Zusätze, möglicherweise aber werden auch Konflikte sichtbar. Worum könnte es sich dabei handeln? Nach einem Zitat von Gigerenzer, einem der gegenwärtig bekanntesten Vertreter der Risikoforschung in Deutschland, kann „auch Halbwissen zum Erfolg führen“ (Berliner Zeitung v. 27.9.2005). Dies klingt ermutigend in einer Welt, die gewohnt ist, auf Expertenwissen zu vertrauen. Der Strafrechtler dagegen wird zögern und skeptisch fragen, wie das Halbwissen zu beurteilen ist, wenn es nicht zum Erfolg führt. Ist es z. B. als Übernahmeverschulden, als fahrlässig, leichtfertig oder bereits als bedingt vorsätzlich zu bewerten, oder würde es bei einem Vorstand einer Aktiengesellschaft zum Überschreiten des Geschäftsleitungsermessens (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG; „Business Judgement Rule“) führen? Aus Sicht der Risikopsychologie ist diese Skepsis aber möglicherweise eine Voreingenommenheit des Strafrechts, gewissermaßen eine berufsmäßige Risikoaversion, die womöglich daher rührt, dass das Strafrecht im Bereich der eigenen Zuständigkeit überproportional vielen gescheiterten Entscheidungen begegnet.

Eventuell haben wir es aber auch lediglich mit einer Ambivalenz zu tun, die sich immer zeigt, wenn wir auf Risiko und Entscheidungen schauen:

„Wer wagt, gewinnt.“

„Wer die Wahl hat, hat die Qual.“

„Nachher ist man immer klüger.“

Aber auch umgekehrt heißt es:

„Übermut tut selten gut.“

„Vorsicht ist besser als Nachsicht.“

Diese gängigen Redensarten belegen, dass ein Handlungsspielraum auch vom Volksmund keineswegs einheitlich bewertet wird: Mal will er uns zu einem Gewinn ermutigen, mal uns mit einer Last versöhnen, mal uns das Dilemma vor Augen führen, wenn auf ungewisser Tatsachengrundlage zu entscheiden ist. Bemerkenswert ist, dass die ersten drei Redensarten im Ausgangspunkt eine grundsätzliche Risikotoleranz erkennen lassen. Diese Risikotoleranz ist eventuell auch tiefer kulturell verankert, wobei diese Frage hier nur gestreift werden kann. Man denke nur an die Überlieferung, wonach Sokrates einem jungen Mann, der fragte, ob er heiraten solle, antwortete: „Was Du auch tust, Du wirst es bereuen“. Enthält diese Wahrnehmung der Situation als ein Dilemma nicht die stillschweigende Aufforderung, sich mit bestimmten Nachteilen abzufinden oder sich ihnen gegenüber gleichgültig zu verhalten? Wäre der sokratisch gesinnte Täter, der trotz der ihm bekannten Unberechenbarkeit Fortunas in das Geschehen eintritt, im deutschen Strafrecht wegen seiner Mischung aus Skepsis und Tatkraft eventuell benachteiligt, weil die Tatkraft als „typische Gefährdungshandlung“ missverstanden wird? Man vergleiche dies mit einem anderen Kulturelement, nämlich dem biblischen Gleichnis vom anvertrauten Zentner, das eine Aufforderung enthält, in das Gelingen zu vertrauen, auch und gerade weil sich darin ein Vertrauen in den Segen Gottes spiegelt (Mt. 25, 14-30). Der, der sein Pfund vergräbt, weil es nicht verlieren möchte, wird als „böser und fauler Knecht“ angesehen und „hinausgeworfen in die Finsternis“, wo „wird sein Heulen und Zähneklappern“ (Mt. 25, 30). Wird hierin sichtbar, dass es eine sanktionsbewehrte Pflicht zum Vertrauen in das Gelingen gibt? Wird ein Mangel an einem solchen Vertrauen nicht auch im Bereich des bedingten Vorsatzes sanktioniert, wo das sog. voluntative Element der Billigung und des Sich-Abfindens vorzuliegen hat? Das Vertrauen darf aber offenbar auch nicht überstrapaziert werden. An anderer Stelle heißt es nämlich, „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ (Mt. 4, 7). Es ist die Warnung vor Übermut und Leichtsinn, die ihren dichterischen Niederschlag gefunden hat in Schillers bekannter Ballade „Der Ring des Polykrates“, wo der Gast auf Samos die Flucht ergreift, weil er überzeugt ist, dass dem, der sich glücklich schätzt, also sich frei von Risiken wähnt, Unglück widerfährt. Hierzu passt, dass auch bei uns bis heute Leichtigkeit nicht selten ein negatives Konnotat hat: Leichtlebigkeit, Leichtsinnigkeit, Leichtfertigkeit – und eine Anstrengung zum Guten Anerkennung findet wie z. B. im Strafrecht beim ernstlichen Bemühen und der tätigen Reue. Berühmt ist der Satz aus dem „Lied von der Glocke“: „Von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß, soll das Werk den Meister loben, aber der Segen kommt von oben.“ Wo nun, wird man sich fragen, verläuft theoretisch und praktisch die Grenze zwischen gebotener Risikotoleranz und angemessener Risikovermeidung? Wie kann man vertrauen, ohne leichtsinnig zu sein? Es ist die Frage nach dem richtigen Entscheiden.

Für viele Berufsträger – Ärzte, Juristen, Soldaten, Feuerwehrleute, Piloten, nicht zuletzt aber auch Kaufleute – ist das Entscheiden eine tägliche Anforderung. Sosehr, dass es inzwischen eine Vielzahl von Techniken, Handlungsleitfäden und Ratgebern gibt, die sich mit dem Entscheiden befassen. Für Ärzte stellt sich die Entscheidung sinnfällig in Gestalt der Diagnose, dem griechischen Wort für Unterscheidung und Entscheidung. Nach einer gängigen Definition ist die Entscheidung das Urteil über mindestens zwei Lösungswege, wobei im Moment der Entscheidung unklar bleibt, ob das Urteil richtig oder falsch ist. Viele Berufsgruppen haben versucht, rationale Entscheidungsregeln zu schaffen, z. B. die Differentialdiagnose in der Medizin oder das bei Piloten und Soldaten verbreitete Entscheidungsprogramm DODAR – Diagnosis, Options, Decision, Actions, Review. Ihnen ist zu eigen, dass es sich um technische Regeln handelt – oder auch: Klugheitsregeln -, die ein bestimmtes Handlungsprogramm vorgeben und von einem idealen (rationalen) Nutzer ausgehen. Sie sollen Entscheidungsmängeln vorbeugen, die beispielsweise zusammengefasst wurden als die überhastete Entscheidung, die vorgefasste Entscheidung, die einseitig erfahrungsgestützte Entscheidung, die aufgeschobene Entscheidung oder die allzu homogene Entscheidung. Insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle der genannten Berufsgruppen in ihrer Arbeit von den Geboten des Strafrechts unmittelbar betroffen sind, fragt sich, inwieweit die Beachtung solcher außerstrafrechtlichen Regeln innerhalb des Strafrechts entlastet, also eine Akzessorietät gegeben ist, die etwa den Verdacht des bedingt vorsätzlichen Handelns beseitigt. Eventuell aber auch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass der strafrechtliche Begriff des bedingten Vorsatzes selbst ein Entscheidungsprogramm vorgibt, mag auch der Begriff selten als (vorgelagertes) Verhaltensgebot wahrgenommen werden, sondern als Voraussetzung einer (nachgelagerten) staatlichen Sanktionsermächtigung. Auch diesem Punkt werden sich die heutigen Referate widmen.

Womit sich rationale Entscheidungsregeln in aller Regel nicht befassen – und auch nicht befassen können -, ist der „Faktor Mensch“, der in der Person des Entscheiders wirksam wird. Die wenigsten Entscheider erweisen sich durchweg als rational. Sie sind eingebettet in soziale Zusammenhänge, in Hierarchien, sie folgen persönlichen Bedürfnissen, sie zeigen Schwächen und mitunter spielt ihnen ihre Psyche „einen Streich“. Diesen Besonderheiten widmet sich unter anderem die Risikopsychologie. Gerade Gruppen und Hierarchien sind es, die rationale Risikoentscheidungen unterschwellig beeinflussen können. Es kann beobachtet werden, dass ein Prinzipal-Agent-Verhältnis den Beauftragten zu defensivem Entscheiden verleitet – so wie im Gleichnis vom anvertrauten Zentner. Gruppenzugehörigkeit kann zu Konformismus oder übertriebenem Optimismus führen, das sog. Gruppendenken (Groupthink), bei dem Alternativen und Zweifel ausgeblendet oder unterdrückt werden. Darüber hinaus begegnet man der empirischen Erkenntnis, dass ein Mehr an Informationen nicht immer zu besseren Entscheidungen führt – das eingangs erwähnte „Halbwissen“ als Entscheidungsgrundlage. Einigermaßen bekannt ist auch das Milgram-Experiment, das die Menschen mit den Worten „Bitte fahren Sie fort“ zum Überschreiten stärkster innerer Hemmungen verleitete. Wie nun der „Faktor Mensch“ in Entscheidungssituationen sich auswirkt, werden wir heute einleitend im folgenden Referat hören.

* Der Beitrag entspricht weitgehend dem Vortrag, den der Verfasser am 24.2.2017 auf der WIE-WisteV-Tagung an der Universität des Saarlandes gehalten hat. Die Vortragsform wurde beibehalten.

Autorinnen und Autoren

  • Dr. Christian Wagemann
    Dr. Christian Wagemann, LL.M. (Illinois) ist Rechtsanwalt in Frankfurt. Er ist Sprecher des Arbeitskreises Compliance, Fraud und Investigations der WisteV und ständiger Mitarbeiter des WiJ.

WiJ

  • Dr. Elias Schönborn , Jan Uwe Thiel

    Gesetzliche Regelungen zur Handy-Sicherstellung sind verfassungswidrig (Österreich)

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Tino Haupt

    Der Zugriff auf Fahrzeugdaten aus strafprozessualer Perspektive

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Florian Neuber

    Verteidigung ohne Grenzen?

    Internationales Strafrecht