MMag. Dr. Andreas Pollak

Die neue österreichische Kronzeugenregelung im Wirtschaftsstrafrecht

I. Verlängerung der Kronzeugenregelung um weitere fünf Jahre

Mit Anfang des Jahres 2017 wurde die österreichische wirtschaftsstrafrechtliche Kronzeugenregelung neu gefasst. Wie bereits ihre Vorgängerbestimmung ist die neue Kronzeugenregelung in den § 209a und § 209b[1] der österreichischen Strafprozessordnung[2] („StPO“) geregelt. Die ebenfalls in §§ 209a f StPO enthaltenen Vorgängerbestimmungen („Kronzeugenregelung-Alt“) traten mit 01.01.2011 in Kraft und waren bis 31.12.2016 befristet. Knapp vor deren Auslaufen wurde die Verlängerung der Kronzeugenregelung um weitere fünf Jahre, also bis zum 31.12.2021, beschlossen. Der Entscheidung über die Verlängerung der Kronzeugenregelung war eine wissenschaftliche Debatte über deren Sinnhaftigkeit vorangegangen.[3] Die Kronzeugenregelung ist bis auf wenige Einzelfälle hinaus in der bisherigen Rechtspraxis nicht angewandt worden.[4] Das Bundesministerium für Justiz („BMJ“) setzte daraufhin eine eigene Arbeitsgruppe ein, um die Effektivität der Kronzeugenregelung-Alt zu prüfen, Kritik aus Wissenschaft und Praxis aufzugreifen und in die Neuregelung einfließen zu lassen.[5]

Tragender Gedanke der Kronzeugenregelung ist der Austausch von der Strafverfolgung dienender Informationen gegen Strafnachlass für den Kronzeugen. [6] Anders als viele andere Rechtsordnungen sieht die österreichische Kronzeugenregelung keine gänzliche Straffreiheit des Kronzeugen vor. Nach dem österreichischen Konzept wird das Unrecht der von dem Kronzeugen begangenen Tat durch die Offenlegung einer anderen Straftat soweit ausgewogen, dass die vom Kronzeugen begangene Straftat einer diversionellen Erledigung (§§ 198 ff StPO) zugänglich wird. Bei der Diversion handelt es sich um eine Beendigung des Strafverfahrens ohne Schuldspruch und ohne förmliche Sanktionierung des Beschuldigten.[7] Je nach Inhalt des Diversionsangebotes der Staatsanwaltschaft an den Beschuldigten, hat der Beschuldigte anstelle einer Bestrafung bestimmte Leistungen, nämlich Zahlung eines Geldbetrages, gemeinnützige Leistungen oder Probezeit zu erbringen. Nach Erbringung seiner diversionellen Leistungen verliert der Beschuldigte seinen Beschuldigtenstatus und sagt in der Hauptverhandlung als Zeuge aus.[8]

Wesentlicher Kritikpunkt an der Kronzeugenregelung-Alt war die von zahlreichen Literaturstimmen als zu hoch empfundene Unsicherheit für den potentiellen Kronzeugen. Insbesondere wurde kritisiert, dass den Kronzeugen nahezu eine „Erfolgshaftung[9] für die tatsächliche Verurteilung der Täter traf, selbst wenn der Kronzeuge seine Verpflichtungen voll erfüllt hatte. Ein weiterer essentieller Kritikpunkt war die in der Praxis bestehende Rechtsunsicherheit darüber, ob Ermittlungen gegen den Kronzeugen bereits ein Ausschlusskriterium darstellen.[10] Außerdem schien der Prozess bis zur Erlangung des Kronzeugenstatus in der Praxis als zu langwierig. Berichtspflichten der Staatsanwaltschaften über die Zuerkennung des Kronzeugenstatus verlagerten die Entscheidung auf Ebenen des Bundesministeriums für Justiz[11] weg von den für die Führung des Ermittlungsverfahrens gegen den Kronzeugen zuständigen Staatsanwaltschaften.

Die neue Kronzeugenregelung sollte diese Defizite beseitigen, insbesondere indem die Voraussetzungen für die Erlangung des Kronzeugenstatus klarer gefasst werden und den Kronzeugen über die vollständige Erfüllung ihrer Offenlegungsverpflichtungen hinaus keine „Erfolgshaftung“ mehr für die Verurteilung der Haupttäter treffen soll.[12]

II. Die wesentlichen Voraussetzungen für die Erlangung des Kronzeugenstatus

1. Anwendungsvoraussetzungen

Im Wesentlichen sieht der neu gefasste § 209a StPO folgende Voraussetzungen für die Zuerkennung des Kronzeugenstatus und die endgültige Einstellung des gegen den Kronzeugen geführten Strafverfahrens vor:

  • Vorliegen einer geeigneten Aufklärungstat und einer geeigneten Kronzeugentat
  • Offenlegung des Wissens des Kronzeugen über neue Tatsachen oder Beweismittel
  • Rechtzeitigkeit des Kronzeugenantrages
  • Freiwilliges reumütiges Geständnis
  • Spezialpräventive Erwägungen stehen der Anwendung der Kronzeugenregelung nicht entgegen (Abwägungsklausel)

Im Nachfolgenden werden die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Kronzeugenstatus im Detail dargestellt.

2. Aufklärungstat und Kronzeugentat:

Die Kronzeugenregelung steht nur in Bezug auf Straftaten mit einer gewissen Schwere offen. Diese sind in § 209a Abs 1 StPO angeführt. Im Wesentlichen handelt es sich um alle Straftaten, die in die Zuständigkeit des Landesgerichts als Schöffen- oder Geschworenengericht fallen, der Zuständigkeit der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption („WKStA“) unterliegen oder die im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung oder einer kriminellen Organisation stehen. Das bedeutet insbesondere, dass die Delikte der Untreue und des Betruges erst ab einem Schadensbetrag iHv. EUR 300.000 und Korruptionsdelikte sobald der Wert des Vorteils einen Betrag von EUR 3.000 übersteigt, in den Anwendungsbereich des § 209a StPO fallen.[13]

3. Offenlegung des Wissens des Kronzeugen über neue Tatsachen oder Beweismittel

Der Kronzeuge muss nicht Täter der Tat sein, zu deren Aufklärung er beiträgt („Aufklärungstat“). Die Offenlegung des Kronzeugen muss neue Tatsachen oder Beweismittel beinhalten, deren Kenntnis wesentlich dazu beiträgt, die umfassende Aufklärung der Aufklärungstat über den (allfälligen) eigenen Tatbeitrag des Kronzeugen hinaus zu fördern oder eine Person auszuforschen, die an einer solchen Verabredung führend teilgenommen hat oder in einer solchen Vereinigung oder Organisation führend tätig war (§ 209a Abs 1 Z 3 StPO). Es ist daher weder erforderlich, dass die Aufklärungstat bislang unbekannt war, noch dass der Kronzeuge an der Aufklärungstat nicht beteiligt gewesen wäre.[14] Die Anwendung der Kronzeugenregelung scheidet daher nicht aus, wenn gegen den Kronzeugen wegen der Aufklärungstat oder der vom Kronzeugen begangenen Tat (Kronzeugentat) bereits ermittelt wird.[15] Vielmehr entspricht es den mit der Kronzeugenreglung-Alt gemachten Erfahrungen, dass potentielle Kronzeugen erst an die Staatsanwaltschaft herantreten, wenn ein gewisser Verdachtsmoment gegen sie besteht.[16]

Im Zuge seiner Offenlegung muss der Kronzeuge sowohl die Kronzeugentat als auch die Aufklärungstat voll umfassend darstellen. Der Kronzeuge kann sowohl neue Beweise als auch neue Tatsachen offenbaren. Diese neuen Beweise oder Tatsachen müssen die Aufklärung einer als Aufklärungstat geeigneten Tat mit hinreichender Schwere (§ 209 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO) fördern. Es muss sich um konkret verwertbare Informationen und Beweise handeln, bloße Vermutungen reichen also nicht aus.[17] Nach Ansicht des BMJ ist es nicht ausreichend, wenn der Sachverhalt der Aufklärungstat schon weitgehend aufgeklärt ist und der potentielle Kronzeuge bloß bereits aktenmäßig bekannte Tatsachen wiedergibt oder einen nur mehr ähnlich gelagerten Sachverhalt bekanntgibt.[18]

Wie bereits die alte Kronzeugenregelung zuvor vorsah, können die Kronzeugentat und die Aufklärungstat in einem Konnex zu einander stehen.[19] Dies ist aber nicht erforderlich. Nach zutreffender Auffassung kann der Kronzeuge jegliche andere Tat mit hinreichender Schwere offenlegen, um eine diversionelle Erledigung der Kronzeugentat nach § 209a StPO zu erwirken.[20]

4. Rechtzeitigkeit:

Der neue § 209a StPO enthält keine Beschränkungen, wie vielen Personen der Kronzeugenstatus gleichzeitig zuerkannt werden kann. Daher kann die Rechtswohltat des § 209a StPO von mehreren Personen in Anspruch genommen werden, selbst wenn es weitere Kronzeugen gibt. Es sind auch Konstellationen denkbar, in denen beispielweise mehrere Geschäftsführer[21] und der nach Verbandsverantwortlichkeitsgesetz selbstständig strafrechtlich verfolgte Verband gemeinsam einen Kronzeugenantrag stellen und den Kronzeugenstatus zuerkannt erhalten.[22]Dadurch unterscheidet sich die wirtschaftsstrafrechtliche Kronzeugenregelung ganz entscheidend von der kartellrechtlichen Kronzeugenregelung (§ 11b WettbG[23]), welche ausdrücklich vorsieht, dass nur das erste Unternehmen, welches die von der Bundeswettbewerbsbehörde („BWB“) benötigten Informationen und Beweise vorlegt, Kronzeugenstatus erlangen kann.

Auch wenn es keine Beschränkung der Anzahl an Kronzeugen in einem Verfahren gibt, sollte sich ein potentieller Kronzeuge nicht bis kurz vor Beginn der Hauptverhandlung mit der Stellung eines Kronzeugenantrages Zeit lassen. Vor allem ist zu bedenken, dass ein erfolgreicher Kronzeugenantrag die Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen unterstützen muss, sodass mit zunehmender Dauer der Ermittlungen auch der Wert der Offenlegung durch den Kronzeugen sinken könnte. Ein Beitrag zur Aufklärung erst in der Hauptverhandlung wäre jedenfalls zu spät.[24]

Darüber hinaus ist ein Kronzeugenantrag nicht mehr zulässig, sobald der Kronzeuge wegen der Tat, zu der er Umstände offenlegen möchte, als Beschuldigter vernommen wurde (§§ 48 Abs. 1 Z 2, 164, 165 StPO) oder wegen dieser Taten Zwang[25] gegen ihn ausgeübt wurde (§ 209a Abs 2 StPO). Wurde der Kronzeuge hingegen wegen einer anderen Tat als der Aufklärungstat als Beschuldigter vernommen oder Zwang gegen ihn (lediglich) wegen dieser anderen Tat ausgeübt, kann der Täter weiterhin im Zusammenhang mit der Aufklärungstat neue Tatsachen oder neue Beweise offenlegen und so Kronzeugenstatus für die den Ermittlungsbehörden bereits bekannte Tat des Kronzeugen erlangen.[26]

5. Freiwilligkeit und Reumütigkeit

Der Kronzeuge muss ausweislich des Gesetzeswortlautes freiwillig an die Staatsanwaltschaft herantreten und über die Kronzeugentat ein reumütiges Geständnis ablegen (§ 209a Abs 1 StPO). Nach Ansicht des BMJ handelt es sich bei dem Erfordernis eines reumütigen Geständnisses und der freiwilligen Offenlegung um ein „äußeres Zeichen einer Abkehr vom eigenen kriminellen Verhalten bzw. des Umfeldes“.[27] Das BMJ ist daher der Ansicht, dass den Strafverfolgungsbehörden nicht die Erzeugung von „Deals“ unter Drucksituation ermöglicht wird; vielmehr handelt es sich laut BMJ bei der Kronzeugenregelung um eine Gelegenheit für den potentiellen Kronzeugen aus eigener Initiative hinaus zu handeln.[28]

6. Spezialpräventive Gründe dürfen nicht entgegenstehen (Abwägungsklausel)

Die Staatsanwaltschaft hat vor Zuerkennung des Kronzeugenstatus abzuwägen, ob eine Bestrafung unter Berücksichtigung des Gewichts des Beitrags der Informationen zur Aufklärung oder Ausforschung im Verhältnis zu Art und Ausmaß seines Tatbeitrages geboten ist, um den potentiellen Kronzeugen von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten (§ 209a Abs 3 StPO). Anders als bei sonstigen diversionellen Maßnahmen sind bei der Anwendung der Kronzeugenregelung nach § 209a StPO generalpräventive Erwägungen nicht anzustellen.[29] Je konkreter der Verdacht gegen den potentiellen Kronzeugen bereits bei der Offenlegung ist, umso gewichtiger muss der Beitrag des Kronzeugen bei der Aufklärung ausfallen.[30] Bei der Abwägung zwischen dem Gewicht des Beitrags des Kronzeugen zur Aufklärung und der Art und dem Ausmaß des Tatbeitrags des Kronzeugen handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung.[31]

III. Verfahren zur diversionellen Erledigung des gegen den Kronzeugen geführten Verfahrens

1. Diversonelle Erledigung

Nachdem der Kronzeuge sein Interesse an der Erlangung des Kronzeugenstatus gezeigt hat, im Zuge einer Beschuldigteneinvernahme ein reumütiges Geständnis über die Kronzeugentat abgelegt hat und (neue) Beweise bzw. Tatsachen über die Aufklärungstat offenbart hat, entscheidet die Staatsanwaltschaft über den vorläufigen Rücktritt von der Verfolgung des Kronzeugen (§ 209a Abs 2 StPO). Sind die Voraussetzungen für die Erlangung des Kronzeugenstatus erfüllt, so ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, von der Verfolgung zurückzutreten. Dabei hat die Staatsanwaltschaft die Bestimmungen über die diversionelle Erledigung nach §§ 199 ff StPO anzuwenden. Demnach trägt die Staatsanwaltschaft dem potentiellen Kronzeugen entweder die Zahlung eines Geldbetrages, die Erbringung gemeinnütziger Leistungen oder die Bestimmung einer Probezeit auf (§ 209a Abs 2 StPO). Diesen Auftrag kann der Beschuldigte erfüllen, ist jedoch nicht dazu verpflichtet. Nach Erbringung der diversionellen[32] Leistungen durch den Beschuldigten hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren unter dem Vorbehalt späterer Verfolgung einzustellen (§ 209a Abs 4 StPO).

Dem Beschuldigten kommt nach der nunmehrigen Rechtslage, wie unten näher ausgeführt, ein Recht auf Vorgehen durch die Staatsanwaltschaft nach § 209a StPO zu. Dieses Recht umfasst aber keine Einflussnahme auf den Inhalt der von der Staatanwaltschaft aufgetragenen diversionellen Verpflichtungen.[33] Ist der Beschuldigte daher nicht mit den aufgetragenen Leistungen einverstanden und erfüllt er diese nicht, wird die Staatsanwaltschaft das gegen den potentiellen Kronzeugen geführte Strafverfahren fortführen.

Die Einstellung unter dem Vorbehalt späterer Verfolgung wird daher gerade in komplexen Wirtschaftsstrafverfahren häufig erfolgen, bevor der Kronzeuge seine Verpflichtung zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden vollständig erfüllt hat.[34] Die Staatsanwaltschaft kann daher auch nach Erfüllung der aufgetragenen diversionellen Leistungen bei einer späteren Verletzung der Kooperationsverpflichtungen durch den Kronzeugen die Fortführung des Verfahrens verfügen. Gesetzlich sind zwei Fälle für die Fortführung des Verfahrens gegen den Kronzeugen vorgesehen (§ 209a Abs 5 StPO). Erstens, wenn die eingegangene Verpflichtung zur Zusammenarbeit bei der Aufklärung verletzt wurde (§ 209a Abs 5 Z 1 StPO) oder zweitens, wenn die zur Verfügung gestellten Unterlagen und Informationen falsch waren, keinen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung der Aufklärungstat zu liefern vermochten oder nur zur Verschleierung der eigenen führenden Tätigkeit in einer in Abs. 1 Z 3 genannten Verabredung, Vereinigung oder Organisation gegeben wurden (§ 209a Abs 5 Z 2 StPO). Die Staatsanwaltschaft ist bei Vorliegen der Gründe des § 209a Abs 5 StPO berechtigt, aber nicht verpflichtet, die Fortführung des Verfahrens anzuordnen.

2. Rechtsschutz

Dem Täter, der sämtliche Voraussetzungen erfüllt, kommt nunmehr auch ein Rechtsanspruch auf Zuerkennung des Kronzeugenstatus zu. Nach alter Rechtslage hatte der Beschuldigte kein Recht auf Zuerkennung des Kronzeugenstatus.[35] Wird dem potentiellen Kronzeugen nunmehr rechtswidrig durch die Staatsanwaltschaft der Kronzeugenstatus verweigert, kann sich der Täter mittels Einspruchs (§ 106 Abs 1 Z 1 StPO) an das Landesgericht wenden.[36] Erkennt das Gericht, dass die Voraussetzungen vorliegen und die Staatsanwaltschaft daher rechtswidrig gehandelt hat, ordnet es die Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes durch die Staatsanwaltschaft an. Darüber hinaus kann der potentielle Kronzeuge noch im Hauptverhandlungsstadium die Anwendung der Kronzeugenregelung verlangen,[37] wenn die Voraussetzungen für deren Zuerkennung im Ermittlungsstadium vorgelegen sind.[38]

IV. Kritik an der Neufassung der Kronzeugenregelung nach § 209a Abs 1 StPO

Die Verlängerung der Kronzeugenregelung ist an sich eine begrüßenswerte Entscheidung des Gesetzgebers. Dennoch wurden grundlegende Probleme nicht oder nur teilweise gelöst.

1. Schädlicher Tatbeitrag nicht hinreichend konkret

Auch wenn dem Kronzeugen nunmehr bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 209a StPO ein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Zuerkennung des Kronzeugenstatus zukommt, ist damit dem potentiellen Kronzeugen vor der Offenlegung nur wenig geholfen. Denn die Voraussetzungen des § 209a StPO sind weiterhin unklar und lassen im Einzelfall erheblichen Interpretationsspielraum offen, insbesondere da laut den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage ein „führender oder mitbestimmender Tatbeitrag[39]grundsätzlich zum Ausschluss von der Kronzeugenregelung führen soll. Die Kategorie „führender oder mitbestimmender Tatbeitrag“ ist dem österreichischen Strafrecht jedoch bislang fremd, sodass weiterhin in den in der Praxis wohl überwiegenden potentiellen Anwendungsfällen der Kronzeugenregelung sowohl die Erfüllung der Voraussetzungen als auch der Ausschluss der Kronzeugenregelung argumentierbar sein wird. Es wird daher (weiterhin) der bislang in der Praxis häufig gewählte[40] und risikobehaftete Weg sein, unter Zwischenschaltung eines Verteidigers zunächst auf möglichst anonymer Basis die Kooperationsbereitschaft der Staatsanwaltschaft auszuloten und erst nach Vorliegen einer – freilich nicht bindenden – Zusage der Staatsanwaltschaft die Anonymität des potentiellen Kronzeugen offenzulegen.

2. Langer justizinterner Entscheidungsprozess

Darüber hinaus ist der justizinterne Entscheidungsprozess über die endgültige Zuerkennung des Kronzeugenstatus weiterhin komplex und langwierig. Die Staatsanwaltschaften haben vor der endgültigen Einstellung des Verfahrens an die Oberstaatsanwaltschaft zu berichten (§ 209a Abs 3 StPO iVm § 8 Abs 1a StAG). Weiters ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, die Oberstaatsanwaltschaft im Nachhinein über die vorläufige Zuerkennung des Kronzeugenstatus zu informieren (§ 209a Abs 2 StPO iVm § 8 Abs 3 letzter Satz StAG). Damit wird die Entscheidung über die endgültige Zuerkennung des Kronzeugenstatus auf die Ebene des BMJ verlagert und führt somit weiterhin zu Rechtsunsicherheit für die potentiellen Kronzeugen.

3. Erfolgshaftung für Richtigkeit der Informationen

Durch die Neufassung des § 209a Abs 5 StPO (vormals § 209a Abs 4 StPO aF) sollte die Unsicherheit für den Kronzeugen reduziert werden. Denn anders als der neue § 209a Abs 5 StPO sah dessen Vorgängerbestimmung noch vor, dass der Beitrag des Kronzeugen zur Verurteilung des Täters führen musste. Der neue § 209a Abs 5 StPO wiederum macht den endgültigen Rücktritt von der Verfolgung davon abhängig, ob die Offenlegung des Kronzeugen einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung der Tat darstellt. Vor allem sollen außerhalb der Sphäre des Kronzeugen liegende Umstände sich nicht nachteilig für den Kronzeugen auswirken.[41] Allerdings dürfte dennoch eine gewisse „Erfolgshaftung“ des Kronzeugen verbleiben. Die vom Kronzeugen offenbarten Tatsachen dürfen weiterhin nicht falsch sein; die Gutgläubigkeit des Kronzeugen dürfte nach Auffassung des BMJ nicht ausreichen.[42]

4. Zivilrechtliche Haftung des Kronzeugen und Verfall

Ein weiteres bereits vor der Neufassung des § 209a StPO bekanntes Problem ist die zivilrechtliche Haftung des Kronzeugen und die drohenden Verfallsanordnungen. Dieser Umstand ist gerade für nach dem österreichischen Verbandsverantwortlichkeitsgesetz[43] (VbVG) strafrechtlich verfolgte Verbände für die Entscheidung, einen Kronzeugenantrag zu stellen, von Bedeutung. Erfahrungsgemäß übersteigen die zivilrechtlichen Schadenersatzforderungen in Wirtschaftsstrafverfahren die Verbandsgeldbußen um ein Vielfaches. Wird nun ein Verband Kronzeuge, beraubt er sich damit faktisch der Möglichkeit, einen auf der Straftat beruhenden zivilrechtlichen Anspruch zu bekämpfen ohne zu riskieren, den Kronzeugenstatus zu verlieren. Die übrigen Täter hingegen werden häufig die Begehung einer Straftat leugnen. Im Ergebnis werden sich die Geschädigten daher häufig zunächst bei dem als Kronzeugen qualifizierten Verband schadlos halten.

Ebenso kann der Kronzeuge mit Verfallsanordnungen konfrontiert sein,[44] wobei insbesondere das geltenden Bruttoprinzip[45] wirtschaftlich desaströse Auswirkungen haben kann. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, wenn es für Kronzeugen wirtschaftliche Erleichterungen bei vermögensrechtlichen Anordnungen geben kann.

[1] Bei § 209b StPO regelt den Rücktritt von der Verfolgung wegen Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung. Die Kronzeugenregelung nach § 209b StPO unterscheidet sich grundlegend von § 209aStPO und wird in diesem Beitrag nicht näher dargestellt.

[2] Strafprozessordnung, StF: BGBl. Nr. 631/1975 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 121/2016.

[3] Siehe dazu die kontroversen Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf auf der Website des österreichischen Parlaments, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01300/index.shtml#tab-VorparlamentarischesVerfahren.

[4] Vgl. EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 8.

[5] Vgl. Siehe dazu die Ausführungen [5] EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 8 ff.

[6] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 220.

[7] Vgl. Schroll in Fuchs/Ratz, WK StPO § 209 a (Stand 1.6.2016, rdb.at), Rz 2.

[8] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 230.

[9] EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 14; Ruhri, Kronzeugenregelung im österreichischen Straf- und Prozessrecht, AnwBl 2017, 157 (159).

[10] Vgl. EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 8.

[11] Vgl. Radasztics/Sackmann, Die Kronzeugenregelung neu (§ 209a StPO), ZWF 2017, 2 (2).

[12] Vgl. EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 14; BMJ, Handbuch Kronzeugenregelung, 20.

[13] Zu denken wäre selbst bei geringeren Schadensbeträgen auch an die Zuständigkeit der WKStA unter Anwendung des § 20b Abs 2 StPO, wonach die WKStA Verfahren hinsichtlich Straftaten gegen fremdes Vermögen im Zusammenhang mit unternehmerischer Tätigkeit, die durch ihren Umfang oder die Komplexität oder die Vielzahl der Beteiligten des Verfahrens, die involvierten Wirtschaftskreise oder das besondere öffentliche Interesse an der Aufklärung der zu untersuchenden Sachverhalte gekennzeichnet sind, an sich ziehen kann. Verfahren wegen Korruptionsdelikten kann die WKStA ebenso auch bei Unterschreiten der Wertgrenze von EUR 3.000 an sich ziehen, wenn wegen der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat oder der Person des Tatverdächtigen ein besonderes öffentliches Interesse besteht (§ 20b Abs 2 StPO).

[14] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 5.

[15] Vgl. Radasztics/Sackmann, Die Kronzeugenregelung Neu (§ 209a StPO), ZWF 2017, 2 (3); Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung.

[16] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 7.

[17] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 6.

[18] Siehe BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 6.

[19] Vgl. Schroll in Fuchs/Ratz, WK StPO § 209 a (Stand 1.6.2016, rdb.at), Rz 10 mwN.

[20] So etwa. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 221; aA aA Radasztics/Sackmann, Die Kronzeugenregelung neu (§ 209a StPO), ZWF 2017, 2 (2), welche ausführen, dass die Tat des Kronzeugen in irgendeinem Zusammenhang mit der aufzuklärenden Straftat stehen müsse; unklar EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 11, worin ausgeführt wird, dass es nicht entscheidend sei „Ob der Kronzeuge selbst an dieser Tat beteiligt war oder lediglich ein Zusammenhang mit der Kronzeugentat besteht […)“; zur strittigen Frage der Konnexität schon zur Kronzeugenregelung-Alt siehe die Darstellung des Meinungstandes von Komenda, Grundsätzliche Fragen der großen Kronzeugenregelung (§209a StPO), JSt 2013, 66 (71).

[21] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 9.

[22] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 228.

[23] Wettbewerbsgesetz, StFG: BGBl. I Nr. 62/2002.

[24] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 231; BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 11.

[25] Beispielsweise Durchsuchungen, Sicherstellungen, Auskünfte aus dem Kontenregister, etc. (vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 8).

[26] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 227; in diese Richtung auch EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 13; aA Radasztics/Sackmann, Die Kronzeugenregelung neu (§ 209a StPO), ZWF 2017, 2 (3), welche davon ausgehen, dass die Ausübung von Zwang oder die Einvernahme als Beschuldigter in Zusammenhang mit der Kronzeugentat ebenso die Anwendbarkeit des § 209a StPO ausschließt.

[27] BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 3.

[28] BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 4; ebenso Pilnacek, Zweites Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2016 vom Parlament verabschiedet – Kronzeugenregelung neu, ÖJZ 2017, 1; Radasztics/Sackmann, Die Kronzeugenregelung neu (§ 209a StPO), ZWF 2017, 2 (2).

[29] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 9; Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 227; bereits zur alten Rechtslage, Schroll, in WK-StPO, Vorbemerkungen zum 11. Hauptstück (§§ 198 – 209 b), Rz 16/5 (Stand 1.6.2016, rdb.at).

[30] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 10; Pilnacek, Zweites Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2016 vom Parlament verabschiedet – Kronzeugenregelung neu, ÖJZ 2017, 1.

[31] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 9.

[32] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 230.

[33] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 11.

[34] Vgl. Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 230.

[35]Schroll in Fuchs/Ratz, WK StPO § 209 a (Stand 1.6.2016, rdb.at), Rz 3 mwN; Preuschl/Prochaska, Die novellierte Kronzeugenregelung aus Verteidigersicht, ZWF 2017, 4 (5).

[36] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 11; EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 9; Preuschl/Prochaska, Die novellierte Kronzeugenregelung aus Verteidigersicht, ZWF 2017, 4 (5); Radasztics/Sackmann, Die Kronzeugenregelung neu (§ 209a StPO), ZWF 2017, 2 (3);

[37] Siehe § 199 StPO.

[38] Vgl. EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 9; BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 11; Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 231.

[39] Vgl. EBRV 1300 BlgNR 25. GP, 9.

[40] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 12.

[41] Vgl. BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 20.

[42] Im Ergebnis wohl BMJ, Handbuch zur Kronzeugenregelung, 20.

[43] Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, StF: BGBl. I Nr. 151/2005.

[44] Zur Anwendung des Verfalls im selbständigen Verfahren bei diversioneller Erledigung siehe Schmidthuber, Konfiskation, Verfall und Einziehung, 228; Lewisch, Verteidigung unter Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung, 233.

[45] Ausführlich zum Bruttoprinzip siehe Schmidthuber, Konfiskation, Verfall und Einziehung, 133 ff.

Autorinnen und Autoren

  • MMag. Dr. Andreas Pollak
    MMag. Dr. Andreas Pollak ist österreichischer Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei oehner petsche pollak rechtsanwaelte in Wien. Er vertritt und berät in Wirtschafts- und Finanzstrafsachen. Ein zusätzlicher Schwerpunkt seiner Tätigkeit sind die Bereiche Criminal Compliance und Internal Investigations. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war er Staatsanwalt u.a. bei der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption in Wien.

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    Produkthaftung, Umwelt, Fahrlässigkeit und Zurechnung