Dr. Fabian Meinecke

Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht

C.F. Müller 2016, 1087 Seiten, ISBN 978-3-8114-4103-3, 129,99 Euro.

I. Einleitung

Auf strafrechtlichen Veranstaltungen ist in letzter Zeit zum festen Bestandteil des Gesprächs über neue Kommentarliteratur die rhetorische Frage geworden, ob es „noch einen Kommentar zum Steuerstrafrecht?“ braucht. Die Leitlinie bei der Besprechung des von Dr. Silke Hüls und Dr. Tilman Reichling herausgegebenen und 2016 in der ersten Auflage erschienenen Kommentars der §§ 369-412 AO war daher für den Rezensenten die Frage: Kann er das, was er können muss und hat er etwas, was die Anderen nicht haben?

Nicht unironisch nehmen die Herausgeber, die gemeinsam die §§ 371, 398a AO kommentieren, die Antwort in ihrem Vorwort vorweg: „Ein neuer Kommentar zum Steuerstrafrecht? Besteht dafür überhaupt Bedarf? Wir meinen ja!“. Diese nicht überraschende Antwort der Herausgeber ist – dies darf vorweggenommen werden – uneingeschränkt anschlussfähig. Der Heidelberger Kommentar zum Steuerstrafrecht hat sich für den Rezensenten in unterschiedlicher Weise seit Erscheinen in der praktischen anwaltlichen Arbeit – am Schreibtisch und vor Gericht – bewährt und ist in einzelnen Fragen in kurzer Zeit zum geschätzten Zugriffspunkt in dogmatischen Fragen geworden.

II. Was muss ein Kommentar zum Steuerstrafrecht können?

Besondere Bedeutung hat bei einer Kommentierung zum Steuerstrafrecht aus Sicht des Rezensenten die Differenzierungsleistung, Bezüge zum materiellen Steuerrecht sowie zu Strafgesetzbuch (StGB) und Strafprozessordnung (StPO) anschaulich und prägnant darzustellen und in der anwaltlichen Arbeit verwertbare Lösungen zu präsentieren. Beidem wird der Heidelberger Kommentar ohne Verzicht auf Meinungsvielfalt gerecht.

Aus anwaltlicher Sicht gibt es einige wenige wiederkehrende Konstellationen, die darüber entscheiden, zu welchem Kommentar man als erstes greift. Eine davon ist die Prüfung der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung. Den Lackmustest, den Verjährungsbeginn für verschiedene Steuerarten bei unterschiedlichen Begehungsformen im Detail – etwa auf Grundlage eines ertragssteuerlichen Festellungsbescheides erlassene Folgebescheide bei Personenmehrheit und abweichenden Bekanntgabezeitpunkten – griffig zur Verfügung zu stellen, hat der Heidelberger Kommentar in der durch Prof. Dr. Martin Asholt verantworteten Kommentierung zu § 376 AO (Rn. 35ff.) in sich wohltuender Weise von manch anderer Kommentierung abhebend bestanden. Besonderer Erwähnung bedarf dies, weil der Kommentar mit seinen 1087 Seiten in jeder Aktentasche Platz findet und dank seiner Übersichtlichkeit auch zügig in der Hauptverhandlung konsultiert werden kann. Selten wird der Steuerstrafverteidiger zwar in Verhandlungen mit unvorbereiteten Rechtsfragen konfrontiert. Konkret konnten in einer Verfahrenssituation indes zügig wertvolle Hinweise zu Tateinheit und Tatmehrheit bei Beteiligung in der Kommentierung des § 370 AO (Rn. 437) durch Stefanie Schott gefunden und genutzt werden.

Die den jeweiligen Kommentierungen vorangestellten gut strukturierten Übersichten sind dabei noch hilfreicher als das genügsame Stichwortregister. Die Differenziertheit ist im Übrigen gelungen durch die kompakte Geschlossenheit der einzelnen Absätze, in denen weit überwiegend jeweils ein dogmatischer Ansatz diskutiert und auch beendet wird. Es ist damit in vielen Fällen entbehrlich nach einem Absatz, der den recherchierten Kernpunkt behandelt, noch zahlreiche folgende Randnummern nach weiteren maßgeblichen Aspekten zu durchforsten, wie es in weniger gut strukturierten Werken geboten ist. In manchem Standardwerk geht Differenzierung zu Lasten klarer, überzeugender und griffiger Standpunkte. Letzere lassen sich im Heidelberger Kommentar durchgängig finden. Zur effektiven Recherche trägt die klare Sprache wohltuend bei.

III. Praxistauglichkeit ohne Verzicht auf Wissenschaftlichkeit

Der Heidelberger Kommentar ist – wie es der Umfang und die Prägnanz des Werkes gebieten – verlässlich beim Identifizieren praxistauglicher Lösungen.

Um ein Beispiel zu nennen: Die Frage, ob bei Verschleierung von Barlohnzahlungen prozessuale Tateinheit zwischen einer Lohnsteuerhinterziehung und dem Vorenthalten von Arbeitnehmeranteilen bestehen kann, wird in der Kommentierung des § 370 AO durch Schott (Rn. 449) mit dem für die Anwendungspraxis maßgeblichen Beschluss des BGH aus dem Jahre 1987 beantwortet[1] und somit eine belastbare Lösung zur Verfügung gestellt. Ausführlichere Erwägungen kann man zu dieser Frage etwa bei Prof. Dr. Jens Bülte (nach Erscheinen des besprochenen Kommentars!) finden, der die Anwendungspraxis kürzlich mit überzeugenden Argumenten hinterfragt hat.[2] Mit dem Verzicht auf dogmatische Experimente zeichnet sich der Hüls/Reichling an dieser Stelle als unbedingt praxistauglich aus. Kompaktheit und Belastbarkeit stehen hier allem voran.

Der Hüls/Reichling kann sich daher auch für nur gelegentlich im Steuerstrafrecht tätige Rechtsanwälte eignen, die vor der Entscheidung für in den dogmatischen Tiefen und Untiefen des Steuerstrafrechts leicht zu findenden nicht etablierten Lösungen bewahrt werden. In den Vorbemerkungen zu § 369 AO findet sich auf 16 Seiten der Kommentierung von Dr. Sascha Ziemann eine Einführung in das Systematik und Methodik des Steuerstrafrechts, die einen guten Einstieg in die systematischen Besonderheiten des Prinzipienverschnitts aus Steuer- und Strafrecht liefert. In der Kommentierung der §§ 399-403 AO durch Björn Krug werden Rechte und Pflichten der Finanzbehörde im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren umfänglich dargestellt und liefern eine konzise Übersicht über Reichweite und Grenzen von strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen mit den gebotenen, in der Praxis spürbar wichtiger werdenen internationalen Bezügen („Ermittlungen im Ausland“; Rn. 235ff.). Die Differenzierung bei den Besonderheiten der Rechtshilfe zwischen Deutschland und den Schengen-Staaten, der Schweiz, Österreich, Luxemburg, Liechtenstein und den USA liefert einen guten Ausgangspunkt für die Recherche bei entsprechenden zunehmend Raum greifenden Sachverhalten.

Auch wer die Grenze der Geringwertigkeit i.S.v. § 398 AO recherchiert, wird in der Kommentierung von Hüls schnell mit einer übersichtlichen Einordnung in das Gefüge der strafprozessualen Opportunitätsvorschriften und konkreten Zahlen fündig. Für den „Dauerbrenner“ der Verhandlungsführung über das Ob und Wie einer Einstellung nach § 153a StPO können hier wertvolle Argumente gefunden werden. Solche Bezüge zu § 153a StPO finden sich des Weiteren in der Kommentierung der Herausgeber zu § 398a AO. Dass angesichts der besonderen Eignung für die anwaltliche Praxis akademische Zweideutigkeit und Meinungsvielfalt nicht vernachlässigt wird, zeichnet den Heidelberger Kommentar besonders aus.

Zum Einen sind die verfassungsrechtlichen Bezüge zu nennen, die – etwa in der Kommentierung des § 393 Abs. 2 Satz 2 AO durch Prof. Dr. Michael Lindemann (Rn. 73) und zu § 371 AO durch die Herausgeber (Rn. 43) – fruchtbar gemacht werden. Gerade zur Selbstanzeige ist unter dem Aspekt der Risikovermeidung hervorzuheben, dass unterschiedliche Meinungen zu den (seit 1.1.2015 verschärften) Voraussetzungen des § 371 AO weit überwiegend zur Wahl des sicheren Weges führen müssen, etwa bei der Bestimmung des Mindestberichtigungszeitraumes. Der sinnvolle Rat zur risikoarmen Vorgehensweise bei Selbstanzeigen schließt im Hüls/Reichling indes Kritik der Kommentatoren an den gesetzgeberischen Vorgaben und deren Auslegung nicht aus, etwa zu der Frage, ob der Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a AO (Bekanntgabe der Prüfungsanordnung) in seinem aktuellen Wortlaut der gesetzgeberischen Intention einer interpersonellen Sperrwirkung gerecht wird. Die Herausgeber verneinen dies mit überzeugenden Argumenten (Rn. 65ff).

IV. Bezüge zum Ordnungswidrigkeitenrecht

Des Weiteren sind die Bezüge zum Ordnungswidrigkeitenrecht hervorzuheben, die neben der Abgabenordnung und der Strafprozessordnung als Teile des Steuerstrafrechts eine dritte Verfahrensordnung betreffen und daher eine Spezialmaterie in der Spezialmaterie sind. Die Kommentierung von Dr. Bernd Groß zu den §§ 377f. AO führt die wesentlichen Schnittstellen zum Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) aus und liefert insbesondere Verteidigungsansätze gegen kritische behördliche Anwendungspraktiken. Der generellen Zulässigkeit einer Verfallsanordnung nach wirksamer Selbstanzeige setzt Groß etwa überzeugend entgegen, dass die hierfür als (einziges) Argument vorbrachte Vergleichbarkeit von Strafaufhebungsgründe (§§ 371 bzw. 378 Abs. 3 AO) und Rücktritt gem. § 24 StGB hinke (Rn. 74). Denn da bei einem Rücktritt die Tat notwendig im Versuchsstadium stecken bliebe seien die in Betracht kommenden Verfallskonstellationen ohnehin begrenzt. Ein Verfall komme nur für „für die Tat“ nicht für „aus der Tat“ erlangte Vorteile in Betracht. Auch liege der Selbstanzeige ein vollendetes Steuerdelikt zugrunde, weshalb es sich im Lichte allgemeiner strafrechtlicher Strukturen nicht um einen Fall des Rücktritts sondern der tätigen Reue handle.

Auch die überwiegend für zulässig gehaltene Anwendbarkeit der Aufsichtspflichtverletzung des Betriebsleiters gem. § 130 OWiG auf Steuerordnungswidrigkeiten wird von Groß mit überzeugenden Argumenten verneint (Rn. 84). Im Kern geht es um Wertungswidersprüche zwischen dem Steuerrecht und dem Ordnungswidrigkeitenrecht, die dann entstünden, wenn über § 130 OWiG die überwiegend nur leichtfertig begehbaren Steuerordnungswidrigkeiten bereits „einfach fahrlässig“ begangen sanktioniert werden können. Einzig bei der zunehmenden Bedeutung von § 130 OWiG im Lichte von Compliance-Maßnahmen wäre der Vollständigkeit halber ein Hinweis auf den Anwendungserlass des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) zu § 153 AO wünschenswert gewesen (Rn. 83).

V. Zusammenfassung

Zusammenfassend hat der Hüls/Reichling sich in den praktisch relevanten, wiederkehrenden Fragestellungen bewährt. Antworten zur Verfolgungsverjährung, zur Risikovermeidung bei Selbstanzeigen, zu Bezügen zum Ordnungswidrigkeitenrecht und zu den Opportunitätsvorschriften der StPO sind schnell und griffig recherchiert. Charakteristisch ist aus Sicht des Rezensenten, dass im Hüls/Reichling von der Rechtsprechung abweichende eröffnete Auslegungsfragen überzeugend wieder geschlossen werden, so dass der Kommentar die Meinungsbildung und die Risikobewertung eingeschlagener Lösungswege erleichtert.

[1] BGH, wistra 1987, 349.

[2] Bülte, NZWiSt 2017, 49.

Autorinnen und Autoren

  • Dr. Fabian Meinecke
    Rechtsanwalt Dr. Fabian Meinecke, M.A., Berlin.

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