Löwer, Steffen: Die strafrechtliche Aufarbeitung der Wirtschafts- und Finanzkrise – Eine Analyse der Rolle des Strafrechts vor und zu Zeiten der Krise anhand der zentralen Norm des § 266 StGB
Duncker & Humblot, Schriften zum Strafrecht, Band 306, Berlin 2015, 299 S., 71,90 Euro.
I. Ein flammendes Plädoyer für ein freiheitliches Strafrecht: Welche Freude! Die Fahne der Orientierung an der Entfaltung des Individuums hochzuhalten ist gerade in den wieder modern werdenden punitiven Zeiten so wichtig, einerlei ob gegen Tendenzen zur Funktionalisierung des Strafrechts wie in der EU und in Deutschland oder gar zwecks Ausschaltung politisch oder ideologisch Andersdenkender wie in einer viel zu großen Anzahl von Staaten auf der Welt. Löwer, ganz Frankfurter Schule, erklärt, warum von abstrakten Gefährdungsdelikten nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden sollte: Kollektive Rechtsgüter seien notwendig sowohl allgemein als auch im Vorfeld von Verletzungen rechtlich geschützter Substanz angesiedelt und damit vom Individualschutz weit entfernt. Sie verböten grundrechtlich abstrakt (nicht: erlaubtes, sondern) anerkanntes und geschütztes Handeln auch dort, wo keinem Individuum wirklich Gefahr drohe.
Darüber kann man diskutieren – wissenschaftlich oder politisch-populär. Der von Löwer gespannte Bogen von der Rechtsgeschichte, über die allgemeinen Strafrechtstheorien und das Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts bis hin zu den Tiefen der business judgement rule ebenso wie der MaRisk und wieder zurück zur freiheitssichernden Funktion des Strafrechts bleibt über weite Strecken kursorisch, benennt Themen, auch Argumente, vermag aber in seiner Vielfalt Lösungen nicht rechtswissenschaftlich zu begründen. Ob man Löwer folgt oder widerspricht, bleibt daher weitgehend Geschmacksache. Das ist in dem Maße bedauerlich, wie einem die Ergebnisse zusagen. Unstimmigkeiten wie Parteien des Strafverfahrens (S. 105) oder die Verknüpfung von öffentlichem Zweck und Pflichtwidrigkeit (S. 144) trotz Betonung des rein vermögensschützenden Zwecks des § 266 StGB (z.B. S. 96 und 100) wären vermeidbar gewesen.
II. Nach eher allgemeinen Ausführungen zum Strafrecht nähert sich Löwer seinem Thema mit der Frage, ob es ausreichend Präventivpotential aufweist, um Banken und andere Unternehmen vor den Risiken einer Krise zu bewahren. Nach Anführen von Argumenten pro und contra hält er das mittels (bei white-collar-crime: wirksamer) Abschreckung für möglich. Seine Folgefrage lautet, ob eher unbestimmte oder doch vor allem konkrete Strafnormen zu legalem Handeln anleiten würden. Letzteres legte Löwer dem weiteren Fortgang seiner Arbeit zugrunde.
1. Die Zentralnorm des § 266 StGB habe vor dem 23.6.2010 keine ausreichende Bestimmtheit aufgewiesen – und habe damit zum Umfang der Folgen der Krise beigetragen. Seit der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei dies nun jedoch anders, so dass die Führungsetagen jetzt wüßten, was sie dürften und was nicht. Auch das der Präventivwirkung entgegenstehende Verständigungspotential des § 257c StPO stehe diesem Befund nicht entgegen, wohl aber die unzureichende Ausstattung der Justiz.
2. Im Anschluss an diese strukturellen Überlegungen wendet sich Löwer dem zentralen Teil seiner Arbeit zu, der Anwendbarkeit des § 266 StGB auf Gefährdungen, denen Geldinstitute und deren Verantwortliche während der Finanzkrise ausgesetzt waren. Dazu schildert er die wesentlichen Sachverhalte (Sachsen LB, Bayern LB, WestLB, IKB, LBBW und HSH Nordbank, auch HRE). Er spiegelt die Ergebnisse dreier umfangreicher Untersuchungen (von Schünemann, Kasiske und Bermel) und gelangt mit ihnen (bei Abweichungen aller im Detail) für Vorstände, Aufsichts- und Verwaltungsräte zur Anwendbarkeit von § 266 StGB auf die jeweiligen Geschehnisse, natürlich nur vorbehaltlich der jeweiligen konkreten Umstände und Rollen der Verantwortlichen, die sich nicht abstrakt, sondern nur anhand der Akten wirklich beurteilen ließen. Löwers Ausführungen halten sich dabei auf bekanntem Terrain ohne tiefergehende dogmatische Auseinandersetzungen.
III. Auf der Basis der zukunftig ausreichenden Präventivkraft des § 266 StGB prüfte Löwer, ob der Grundsatz, viel helfe viel, auch für das Strafrecht gelte. Das verneint er allgemein unter Darlegung seiner Sympathie für ein freiheitssicherndes Strafrecht. Konkret weist er auf Überlegungen hin, § 283 Abs. 6 StGB, die Strafbarkeitsbedingungen (Zahlungseinstellung, Insolvenzeröffnung oder Abweisung mangels Masse) im Fall der Rettung aus öffentlichen Mitteln für unanwendbar zu erklären. Zudem wendet er sich den neuen Bestimmungen der §§ 54a KWG und 142 VAG zu und lehnt sie als zu unbestimmt bzw. erst von der Exekutive, dem BaFin, kompetenzwidrig bestimmbar und deshalb ab, weil immer zugleich auch § 266 StGB einschlägig wäre. Allerdings gesteht er dem Gesetzgeber zu, auch mittels Strafrechts auf neue freiheitsgefährdende Phänomene reagieren zu dürfen. Es wäre schön gewesen, hätte er die Sinnhaftigkeit der erwogenen Modifikation des § 283 StGB unter seinen Prämissen geprüft.
IV. Löwers Fazit lautet:
Strafrecht ja, aber in Maßen.
Weil § 266 StGB seit dem 23.6.2010 auch Banken und andere Unternehmen domestiziert, bedarf es keines Mehr an Strafrecht.
Darüber lässt sich reden. Löwer hat den Rahmen einer rechtlichen Beurteilung der Wirtschafts- und Finanzkrise skizziert – ihre detaillierte rechtswissenschaftliche Aufarbeitung steht jedoch weiterhin aus.