Yannick Hübner

Tagungsbericht zur WisteV-wistra-Neujahrstagung 2018 am 19./20.1.2018 in Frankfurt am Main

Am 19. und 20. Januar 2018 fanden sich 180 Vertreterinnen und Vertreter[1] aus Wissenschaft und Praxis zur neunten Neujahrstagung der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung e.V. (WisteV) und der Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (wistra) in Frankfurt am Main zusammen. Unter dem Thema „Wissenschaft Wirtschaftsstrafrecht? oder: ‚Dazu habe ich keinen Fall‘“ referierten neun Redner zur Bedeutung der Theorie für die Praxis des Wirtschaftsstrafrechts sowie zum Zusammenhang zwischen Gesetz und Entscheidung im materiellen Strafrecht und im Verfahrensrecht. Im Rahmen der Podiumsdiskussion am ersten Veranstaltungsabend wurde den Teilnehmern zudem ein Einblick in die Streitkultur im deutschen Strafprozess gewährt.

Themenblock 1: Die Bedeutung der Theorie für die Praxis des Wirtschaftsstrafrechts unter Moderation von Rechtsanwalt Dr. Hanno Durth

Mit Rechtsanwalt Prof. Dr. Franz Salditt richtete zunächst ein Vertreter der wistra begrüßende Worte an die Teilnehmer und leitete die Tagung ein. Er stellte Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy als neues Mitglied der wistra-Redaktion und OStAin Dr. Martina Müller-Ehlen als neue Mitherausgeberin vor und hob zum Veranstaltungsthema auf die Rolle juristischer Personen ab, welche als „good corporate citizens“ grundsätzlich in Konflikt mit dem Prinzip der Berechenbarkeit des Rechts stünden. Sodann übernahm Rechtsanwalt Dr. Thomas Nuzinger die Einführung ins Thema. Im ersten Themenblock – „Die Bedeutung der Theorie für die Praxis des Wirtschaftsstrafrechts“ – solle eine allgemeine Grundlage geschaffen werden, welche anschließend in den Blöcken 2 – Vom Gesetz zur Entscheidung I – Materielles Strafrecht – und 3 – Vom Gesetz zur Entscheidung II – Verfahrensrecht – überprüft werden könne. Insgesamt handele es sich um eine Veranstaltung, die zur Rückbesinnung auf den Wert fundierter wissenschaftlicher Arbeit im beruflichen Alltag anregen solle und damit von hoher praktischer Relevanz ebenso wie von fortwährender Aktualität geprägt sei.

Rechtsanwalt Dr. Hanno Durth übernahm im Anschluss die Moderation des ersten Themenblocks.

Den ersten Vortrag hielt Prof. Dr. Peter Windel, Bochum, mit der Fragestellung „Ist das rechtsdogmatische Zeitalter vorbei?“. Dabei widmete er sich zu Beginn einer Beschreibung von Dogmatik und grenzte diese vom (pejorativen) Dogmatismus ab. Deutsche Rechtsdogmatik sei geprägt von praktischen Ansätzen und Bedürfnissen, welche der Referent historisch auf das Nichtvorhandensein eines Nationalstaats und eines Höchstgerichts bis zur Reichsgründung 1871 zurückführte. Unter Zusammenwirkung von Rechtswissenschaft und -praxis sei die Rechtsdogmatik als Instrument in dieses Vakuum gestoßen und habe seine Bedeutung als überprüfbare Basis zur Weiterentwicklung des Rechts, dem die Dogmatik verpflichtet sei, bis heute nicht verloren. Rechtsdogmatik verheiße Rechtsentfaltung, Systementwicklung, Entlastung, Erleichterung und Selbstreflexion. Der Referent setzte sich schließlich mit geäußerter Kritik gegenüber Rechtsdogmatik auseinander und warf selbst einen kritischen Blick auf ihre gegenwärtigen Entwicklungen. Hierbei wies er insbesondere auf internationale Anforderungen und die Aufspaltung in Teilrechtsdogmatiken hin. Um das rechtsdogmatische Zeitalter zu retten, stellte Windel resümierend heraus, müsse von weiteren Ausdifferenzierungen abgesehen werden und stattdessen eine Rückführung durch Dogmatik stattfinden. In der anschließenden Diskussion richtete Durth die Aufmerksamkeit nochmals auf die historische Entwicklung der deutschen Rechtsdogmatik und erarbeitete gemeinsam mit Windel (als ausgewiesenem Zivilrechtler) die unterschiedlichen Einflüsse des Strafrechts und des Zivilrechts. Nuzinger sensibilisierte zudem für Besonderheiten des Steuer- und des Sozialrechts als Primärrechtsordnungen für das Strafrecht.

Sodann referierte Prof. Dr. Nina Nestler, Bayreuth, zum Thema „Der Wille des ‚historischen Gesetzgebers‘: Bedeutung der historischen Auslegung in der Rechtsprechung“. Sie gab einen Überblick über die Auslegungsmethoden und zeigte exemplarisch auf, inwiefern die Rechtsprechung sich dieser bediene.[2] Zur Erörterung der historischen Auslegung nahm Nestler dann Rekurs auf das Bank- und Kapitalmarktstrafrecht. Sie entwickelte die These, dass die Notwendigkeit historischer Auslegung umso größer sei, je unübersichtlicher, unsauberer oder „falscher“ die Konstruktion eines Gesetzes ausfalle. Leiden derartige Gesetze zudem an einer schlechten bis nicht vorhandenen Begründung, so stellten sich beim Rückgriff auf den Willen des historischen Gesetzgebers zusätzliche Probleme. Bei der Auswertung von Gesetzesmaterialien bestehe ein Bedürfnis nach Methodik, wobei Nestler eine Übertragung der hergebrachten Dogmatik in den Raum stellte. Ministerialdirigent Dr. Matthias Korte wies in seiner Anmerkung darauf hin, dass der „Wille des Gesetzgebers“ nicht mit dem Inhalt von Bundestagsdrucksachen gleichgesetzt werden könne. In der weiteren Diskussion wurde auf den Streit zwischen subjektiv- und objektiv-teleologischer Auslegungsmethode – für die sich Nestler ausgesprochen hatte – sowie auf Kollisionsregeln bei der Gesetzesauslegung eingegangen.

Prof. Dr. Burkhard Schäfer, Edinburgh, gewährte den Teilnehmern im letzten Vortrag des Tages – „‘Leading cases‘ und Auslegung und Analyse von Rechtsprechung“ – interessante Einblicke in das von der Europäischen Kommission finanzierte Projekt FF POIROT (Financial Fraud: Prevention Oriented Information Resources using Ontology Technology), das sich mit der Verwendung von Computertechnologien zur Verfolgung von Finanzbetrug innerhalb der EU beschäftigt. Zentraler Bestandteil des Projekts sei die Entwicklung von Ontologien, welche einerseits die computertechnische Erfassung betrugsrelevanter Sachverhalte und andererseits eine einheitliche rechtliche Bewertung innerhalb der EU ermöglichen sollten. Dabei komme es darauf an, Wirklichkeiten präzise zu beschreiben, die sodann Rückschlüsse auf eine rechtliche Beurteilung erlauben, was jedoch verschiedene Probleme mit sich bringe. So stelle sich etwa die theoretische Frage, ob sich juristische Kernfragen und -antworten aus unterschiedlichen Rechtssystemen wie dem Common und dem Civil Law überhaupt als gleiche Objekte erfassen lassen; zudem bestehe bei abstrakten Beschreibungen – gerade im Wirtschaftsstrafrecht – stets die Gefahr juristischer Prädeterminiertheit; auch ließen sich rechtliche Fiktionen, etwa eine ex-tunc Wirkung, kaum auf Ontologien übertragen. Praktisch sei ferner zu bedenken, dass fortan anstelle von Juristen die Programmierer einen ersten entscheidenden Einfluss auf die Fallbearbeitung nehmen könnten. Nach Ausführungen zum algorithmusbasierten „Machine Learning“ schloss Schäfer seinen Vortrag mit dem Appell, dass der Einfluss juristischer dogmatischer Ideen gesichert werden müsse. Auf Nachfrage von Nuzinger sagte Schäfer, dass er nicht glaube, Gerichte könnten perspektivisch durch die technologische Entwicklung entbehrlich werden. Auch Rechtsanwalt Dr. André Szesny tat seine Bedenken mit Blick auf den „Faktor Mensch“ bei der juristischen Aufarbeitung mithilfe von Algorithmen kund.

Nach dem Abendessen fanden sich die Teilnehmer zur Podiumsdiskussion zusammen, die in diesem Jahr die Streitkultur im deutschen Strafprozess zum Gegenstand hatte. Salditt, der die Moderation übernahm, OStA a.D. Dr. Hans Richter und der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds  Jens Gnisa führten einen von Offenheit und gegenseitigem Interesse geprägten Trialog, in dem sie zunächst auf die Haltung der Prozessbeteiligten bei Beweisanträgen eingingen. Während Richter dabei unterstrich, dass gerade in Wirtschaftsstrafverfahren der Respekt von Staatsanwaltschaft und Verteidigung vor der jeweils anderen Aufgabe die Streitkultur präge, beschrieb Gnisa die Beweisanträge zu verfahrensfremden Zwecken als Problem. Die Diskussion führte dann zur generalistischen Ausrichtung der deutschen Justiz, die notwendige Wechsel, selbst zwischen den Rechtsgebieten, zur Beförderung voraussetze. Salditt kritisierte insofern die persönliche und räumliche Nähe zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht, Gnisa und Richter machten im Vergleich zur Anwaltschaft auf die verbesserungswürdige Spezialisierung der Justiz aufmerksam. Über die neu eingeführte Möglichkeit eines „Opening Statements“ der Verteidigung (§ 243 Abs. 5 S. 2, 3 StPO) kamen die Diskutanten anschließend auf die Rolle der Schöffen und der beisitzenden Richter zu sprechen. Schließlich fand die Diskussion in § 257b StPO und der von Salditt kritisierten Gefahr einer „Sanktionsschere“, welcher Richter ein individuelles Problem mangelnder Professionalität entgegenhielt, ihren streitigen Schlusspunkt.

Themenblock 2: Vom Gesetz zur Entscheidung I – materielles Strafrecht unter Moderation von Rechtsanwalt Dr. Markus Rübenstahl

Der zweite Themenblock am Samstagvormittag stand unter dem Thema „Vom Gesetz zur Entscheidung I – materielles Strafrecht“ und wurde von Rechtsanwalt Dr. Markus Rübenstahl moderiert.

Die Leiterin der Abteilung Rechtspflege im BMJV Ministerialdirektorin Marie Luise Graf-Schlicker bereitete mit ihrem Referat zu „Schwierigkeiten des Gesetzgebers bei der Fassung neuer Normen, Schwierigkeiten des Praktikers bei der Anwendung neuer Gesetze (anhand praktischer Beispiele)“ den allgemein gehaltenen Einstieg. Nach einem Überblick über den Ablauf eines Gesetzgebungsverfahrens berichtete sie den Teilnehmern von der täglichen Arbeit nationaler Gesetzgebung und den damit verbundenen Problemen. Sie erläuterte verschiedene Anlässe für gesetzgeberisches Tätigwerden, die insbesondere im Strafrecht zuweilen in medienwirksamen tatsächlichen Ereignissen lägen, wie aber das Beispiel der Vorratsdatenspeicherung zeige, auch von BVerfG und EGMR beeinflusst sein könnten. Ferner berichtete die Referentin vom kaum beachteten Einfluss des Normenkontrollrats und der Sprachprüfung im Rahmen der Facharbeit. Kritische Auseinandersetzungen innerhalb der Länderkammern des Bundesrats und der Vermittlungsausschüsse – die auch bei Einspruchsgesetzen heftig ausfallen könnten – waren weitere Gegenstände ihres Vortrags. Auf Nachfrage von Rübenstahl ging Graf-Schlicker sodann am Beispiel der Prozesskostenhilfe im Strafverfahren auf Besonderheiten bei heteronomen Gesetzgebungsprozessen ein, wobei sie die frühzeitigen Einflussmöglichkeiten der Nationalstaaten betonte. Mögliche Konkurrenzprobleme wurden im Weiteren von Ministerialrat a.D. Dr. Manfred Möhrenschlager, Rübenstahl und Prof. Dr. Robert Esser, Passau, aufgeworfen.

Es folgte der Vortrag von Prof. Dr. Frank Peter Schuster, Würzburg, „Zur Anknüpfung des Strafrechts an außerstrafrechtliche Normen. Praktische Fragestellungen am Beispiel des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts“. Zu Beginn wies der Referent auf § 262 Abs. 1 StPO hin, der grundsätzlich die Unabhängigkeit des Strafgerichts von anderen Fachgerichten und deren Rechtsansichten statuiere. Knüpften Straftatbestände jedoch an außerstrafrechtliche Normen an, so ergäben sich vier Hauptproblemfelder: Erstens könne das Gesetzlichkeitsprinzip gem. Art. 103 Abs. 2 GG unterlaufen werden; zweitens sei fraglich, inwiefern § 2 Abs. 3, 4 StGB bei tätergünstigen Änderungen der außerstrafrechtlichen Bezugsnormen zur Anwendung komme; drittens gestalte sich die Abgrenzung des Tatbestands- vom Verbotsirrtum (§ 17 StGB) als problematisch; und viertens stelle sich die Frage, ob Verweisungen auf supranationale, ausländische und privat gesetzte Normen zulässig sein könnten. Zur Lösung all dieser Fragestellungen stellte Schuster entscheidend auf die Differenzierung zwischen Blankettverweisungen und rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen ab. Eine Sonderproblematik allerdings liege im Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO). Dessen pauschale Bezeichnung als „Blankettstrafrecht“ durch die Rspr. sei irreführend, da der verkürzte Steueranspruch als solcher und die steuerliche Erheblichkeit rechtsnormative Tatbestandsmerkmale darstellten und lediglich die Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO Blankettcharakter aufweisen könne. Mit dieser Binnenunterscheidung sei im Rahmen der Irrtumsproblematik der Steueranspruchstheorie zu folgen, mit der Konsequenz, dass ohne Hinterziehungsvorsatz handele, wer über das Bestehen des in § 370 AO vorausgesetzten Steueranspruchs oder die Berechtigung zum (Vor-)Steuerabzug irre.

Der Vortrag von OStA Kai Sackreuther knüpfte inhaltlich an die von Schuster aufgeworfenen Fragen an. Unter dem Titel „Vorsatzbegriff und Vorsatzfeststellung im Wirtschaftsstrafrecht: Was muss ein Unternehmer wissen? Was muss ein Unternehmer wollen?“ beschäftigte sich der Referent zunächst mit der Frage, ob im Wirtschaftsstrafrecht bei der Feststellung des bedingten Vorsatzes auf das voluntative Element verzichtet werden könnte. So fänden sich gerade im Steuerstrafrecht Entscheidungen, bei welchen dieses bei der Vorsatzfeststellung zurücktrete.[3] Er entwickelte daran anknüpfend die These, dass das voluntative Element entbehrlich sei, wenn der tatbestandliche Erfolg einer Wahrscheinlichkeitsabwägung nicht zugänglich sei, der Erfolgseintritt also notwendige Folge der Tathandlung darstelle. Sodann befasste sich Sackreuther mit der von Schuster angesprochenen Irrtumsproblematik bei § 370 AO und sprach sich dafür aus, insofern von einer Unterscheidung zwischen Blankettnormen und normativen Tatbestandsmerkmalen abzusehen und stattdessen auf den konkreten Normbefehl, der sowohl in der eigentlichen Strafvorschrift als auch in der außerstrafrechtlichen Norm zum Ausdruck kommen könne, abzustellen. Die entwickelten Grundsätze ließen sich zudem auf weitere Tatbestände übertragen, beispielsweise § 266a Abs. 2 StGB oder § 15a InsO. Dem Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an, in der Rechtsanwalt Franz-Josef Schillo einwandte, dass nach der These von Sackreuther kaum mehr Raum für fahrlässige Steuerhinterziehung bliebe. Auch Schuster brach eine Lanze für das voluntative Element, da ein Wertungswiderspruch entstünde, wenn sich vorsichtige, nachdenkliche Menschen eher strafbar machen könnten als jene, die spontan und bedenkenlos handelten, wohingegen Sackreuther auf die Möglichkeit vollständiger Erklärung des Vorsichtigen hinwies. Esser zeigte sich jedenfalls zu einer Übertragung der steuerstrafrechtlichen Besonderheiten skeptisch, da die Leitlinien von § 15 StGB nicht umgangen werden dürften.

Themenblock 3 : Vom Gesetz zur Entscheidung II – Verfahrensrecht unter Moderation von Rechtsanwalt Björn Krug

Der letzte Block der Veranstaltung hatte am Samstagnachmittag unter der Moderation von Rechtsanwalt Björn Krug das Verfahrensrecht zum Gegenstand.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke hielt das erste Referat mit dem Titel „Sinn und praktische Bedeutung von Prozessgrundsätzen am Beispiel des Legalitätsprinzips und der Inquisitionsmaxime“. Nach einem Überblick über die Prozessgrundsätze und deren Bedeutung in Theorie und Praxis widmete er sich zuerst dem Legalitätsprinzip. Entgegen dem Wortlaut von § 152 Abs. 2 StPO („soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt“) käme dem Opportunitätsprinzip in der Praxis keineswegs ein Ausnahmecharakter zu, was der Referent auch statistisch belegte. Indessen werde besonders in OWi-Verfahren, in welchen § 152 Abs. 2 StPO von vornherein nicht zur Anklage zwinge, deutlich, dass dies einem fairen Ergebnis nicht grundsätzlich entgegenstehe, wie sich praktisch auch im „Fall Siemens“ gezeigt habe. Ohne das Opportunitätsprinzip bestehe in Großverfahren gar die Gefahr, dass sie aus dem Ruder laufen. Beim Aufklärungsgrundsatz, den Beulke im zweiten Vortragsteil ansprach, und dessen Durchbrechungen verhalte es sich ähnlich. In Hauptverhandlungen etwa sei eine Reduktion von Komplexität unverzichtbar, weshalb Beulke die Praxis der Verständigungen auch als zu Unrecht in Verruf gekommen sah. Die Rechtsfindung im Strafprozessrecht sei geprägt von Abwägung, wobei den Prinzipien die Funktion eines Kompasses zukomme, im praktischen Einzelfall allerdings der Weg nicht stets gerade verlaufe. RiLG Dr. Mirja Feldmann und Rübenstahl vertieften im Anschluss die Überlegungen zur Rolle des inquirierenden Richters im Verhältnis zu den Schöffen einer- und der Staatsanwaltschaft andererseits. Nuzinger wies zudem auf ein Bedürfnis nach Leitlinien im Rahmen der Abwägungen hin.

Rechtsanwalt Dr. Ali Norouzi setzte den Nachmittag mit seinem Vortrag „Die Auslegung von Verfahrensbegriffen – eine Frage der Macht?“ fort, wobei sich die Fragestellung im Titel am Ende in eine Aussage wandeln sollte. Das Strafprozessrecht weise einerseits, wie Lüderssen/Jahn[4] herausgearbeitet hätten, funktionelle Parallelen zum materiellen Strafrecht auf, bedinge andererseits jedoch auch Rückkoppelungseffekte zum GG und zur EMRK. Mit der Dominanz der Topik, welche Flexibilität und Unsicherheit gleichermaßen mit sich bringe, und einer ausgeprägten Kontextualisierung verfüge das Verfahrensrecht zudem über weitere Besonderheiten. Bei der Auslegung von Verfahrensbegriffen sei schließlich signifikant, dass es vor dem Hintergrund der Folgen stets um die Realisierung hoheitlicher Macht gehe. Dies zeige sich etwa am Begriff der Gesetzesverletzung in § 337 Abs. 2 StPO, der an sich eine eindeutige Bestimmung bedinge, für den aber gleichwohl ein Beurteilungsspielraum des Tatrichters anerkannt sei. Mit der in § 273 Abs. 3 begründeten Tatsachenherrschaft des Tatgerichts und der Verfahrensherrschaft des Revisionsgerichts über die Beschlussmöglichkeit in § 349 Abs. 2 StPO führte Norouzi weitere Beispiele an. Krug brachte sodann die wesentliche Unterschiedlichkeit von Verfahrens- und Sachrügen zur Sprache, welche im StPO-Reformvorschlag des Strafkammertags zur formalen Begründungspflicht einer Sachrüge unterlaufen würde.

Das letzte Referat der Tagung hielt LOStA Prof. Dr. Georg-Friedrich Güntge, Schleswig, zum Thema „In ´letzter Instanz´: Das Strafrecht vor dem BVerfG, EuGH und EGMR“. Hierbei beschäftigte er sich mit den unterschiedlichen Beschwerde- und Klagemöglichkeiten vor den jeweiligen Gerichten und deren praktischer Relevanz für das Strafrecht. Er berichtete von einem anhängigen Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) der BRD, in dem es um die formale Beurteilung ausländischer Haftbedingungen gehe und mithin das gesamte europäische Auslieferungssystem betroffen sein könnte. Weiter hob der Referent hervor, dass für die Verteidigung in Menschrechtsbeschwerden beim EGMR wegen der zentralen Bedeutung des Art. 6 EMRK ein großes Potenzial liege. Die größte praktische Bedeutung im Strafrecht komme nichtsdestotrotz den Verfahren beim BVerfG zu, das sich gleichermaßen mit dem materiellen wie mit dem formellen Recht beschäftige. Da die strafrechtlichen Verfahren auch insgesamt den größten Teil beim BVerfG abbildeten, sei schließlich zu wünschen, dass die Anzahl der strafrechtlichen Experten unter den Verfassungsrichtern entsprechend erhöht werde. Esser merkte in seiner Wortmeldung an, dass beim EGMR entgegen der abschreckenden Langwierigkeit der Verfahren auch vorläufige Rechtsschutzmöglichkeiten sowie die Option beständen, dass der Gerichtshof bestimmte Verfahren wegen ihrer hohen Bedeutung vorziehe.

Am Ende richtete sich Nuzinger mit einem Schlusswort an die Teilnehmer. Er warf Schlaglichter auf die einzelnen Vorträge und resümierte, dass die diesjährige Neujahrstagung wohl als die „Tagung der Grundlagenfragen“ in Erinnerung bleiben werde, die Teilnehmer darüber hinaus jedoch vielleicht auch neue Eingebungen für ihren praktischen Alltag mitnehmen konnten.

[1] Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden auf die Nennung beider Geschlechtsformen, die stets gemeint sind, verzichtet.

[2] BGH NJW 2009, 1091 führte sie etwa als Beispiel einer gründlichen Anwendung der Auslegungsmethoden an.

[3] Vgl. BGH, Urt. v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11; KG, Beschl. v. 14.12.2016 – 121 Ss 175/16 mwN.

[4] Vgl. Lüderssen/Jahn, LR-StPO, 27. Aufl. 2016, Einl. M, Rn. 8 ff.

Autorinnen und Autoren

  • Yannick Hübner
    Dr. Yannic Hübner ist Rechtsanwalt bei kempf schilling + partner in Frankfurt am Main. Er verteidigt Beschuldigte in Individualmandaten mit einem Schwerpunkt im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht. Zudem berät und vertritt er Unternehmen, sowohl präventiv (Compliance) als auch im Rahmen von Ermittlungsverfahren.

WiJ

  • Jakob Lehners

    Digitale Akteneinsicht in der Untersuchungshaft

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Sigrid Mehring-Zier

    Wirtschaftsvölkerstrafrecht in der europäischen Praxis – und Deutschland?

    Internationales Strafrecht, EU, Rechtshilfe, Auslandsbezüge

  • Dr. Mayeul Hièramente

    Svenja Jutta Luise Karl, Die Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen. Kritik und Verbesserungsvorschläge unter besonderer Berücksichtigung des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens.

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)