LG Hamburg, Beschluss vom 19.06.2018 – 618 Qs 20/18 – Akteneinsichtsrecht des Insolvenzgläubigers
- Der Antragsteller hat das gemäß §§ 406e, 475 StPO erforderliche berechtigte Interesse an der Akteneinsicht schlüssig und substantiiert darzulegen. Der lediglich pauschale Verweis darauf, etwaige Schadensersatzforderungen aus der verschleppten Insolvenz gegen die Angeklagten prüfen zu wollen, ist zur Substantiierung nicht hinreichend.[1]
- Altgläubiger, deren Ansprüche bereits vor der Insolvenzreife entstanden sind, können grundsätzlich nur den Quotenschaden aufgrund der letzten Verschleppungsperiode ersetzt verlangen. Der Quotenschaden nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO bzw. § 283 StGB ist gemäß § 92 InsO durch den Insolvenzverwalter geltend zu machen. Ein eigenständiges berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht besteht für den Insolvenzgläubiger insoweit nicht.
I. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer beantragte mit Schreiben vom 09.05.2018 die Gewährung von Akteneinsicht und bat um Übersendung der Akte. Zur Begründung führte er an, Forderungen gegen die A. GmbH zu verfolgen, die zwar bereits tituliert seien, jedoch nicht beigetrieben werden könnten. Er beabsichtige nunmehr, Schadensersatz gegen einige der Angeschuldigten geltend zu machen im Rahmen eines Adhäsionsverfahrens. Die Akteneinsicht sei für die Prüfung der Erfolgsaussichten seines Vorgehens erforderlich.
Das Amtsgericht Hamburg lehnte den Antrag auf Akteneinsicht nach Anhörung der Staatsanwaltschaft sowie der Angeschuldigten mit Beschluss vom 04.06.2018 ab, da ein berechtigtes Interesse nicht ersichtlich sei.
Hiergegen erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 11.06.2018 Beschwerde, die er im Wesentlichen damit begründet, nunmehr bestrebt zu sein, etwaige sich aus einer möglicherweise verschleppten Insolvenz ergebende Schadensersatzforderungen gegen die Angeschuldigten geltend machen zu wollen. Es sei anerkannt, dass die Prüfung insolvenzrechtlicher Schadensersatzansprüche ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 475 StPO darstelle.
Der Beschwerde wurde durch das Amtsgericht nicht abgeholfen.
II. Entscheidungsgründe[2]
1.) Die statthafte Beschwerde wurde form- und fristgerecht eingelegt. Die Entscheidung über die Akteneinsicht ist (für den Verletzten) nach § 406e Abs. 1 S. 1, Abs. 4 StPO bzw. (für einen Dritten) nach §§ 475, 478 Abs. 3, jeweils i.V.m. § 304 StPO anfechtbar.
2.) Die Beschwerde war jedoch als unbegründet zu verwerfen. Dem Beschwerdeführer steht ein Recht auf Akteneinsicht weder nach § 406e StPO noch nach § 475 StPO zu. Dabei kann dahinstehen, ob der Beschwerdeführer als Verletzter im Sinne von § 406e Abs. 1 StPO anzusehen ist, denn unter keinem Gesichtspunkt kann ein berechtigtes Interesse an der Einsichtnahme in Akten und Beweismittel festgestellt werden.
Die Erteilung von Akteneinsicht sowohl an den Verletzten nach § 406e StPO als auch an Dritte gem. § 475 StPO erfordert zunächst, dass der Antragsteller die Tatsachen schlüssig und substantiiert vortragen muss, aus denen sich ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht ergibt; ein Fall des § 406e Abs. 1 S. 2 StPO liegt erkennbar nicht vor. Zu beachten ist dabei jedoch, dass an die Pflicht zur Substantiierung keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen, da eine konkretisierende Darstellung dem Antragsteller regelmäßig ohne die Kenntnisse aus den Akten, in die er Einsicht begehrt, gerade nicht möglich ist.[3] Bei einem Einsichtsbegehren zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche darf die Akteneinsicht hingegen nicht auf eine Ausforschung hinauslaufen oder einer nach dem Zivilrecht „unzulässigen Beweisgewinnung“ dienen.[4]
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes hat der Beschwerdeführer weder Tatsachen schlüssig und substantiiert vorgetragen, aus denen sich ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht ergibt, noch ist ein solches Interesse aus der Akte ersichtlich.
Zwar ist anerkannt, dass die Prüfung der Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche, insbesondere insolvenzrechtlicher Ansprüche gegen einen Beschuldigten, ein berechtigtes Interesse für die Gewährung von Akteneinsicht in Ermittlungsakten darstellt, soweit es nach dem Vorbringen des Gesuchstellers und dem dem Gericht vorliegenden Akteninhalt möglich erscheint, das Bestehen zivilrechtlicher Ansprüche anhand der Akten verifizieren zu können.[5]
Der Beschwerdeführer hat jedoch hierzu nicht substantiiert vorgetragen. Der pauschale Verweis darauf, dass etwaige Schadensersatzforderungen aus der verschleppten Insolvenz „gegenüber den Angeklagten, insbesondere gegenüber den Angeklagten zu 1. und zu 4.“ geprüft werden sollen, ist nicht hinreichend. Die nur pauschalen Ausführungen ermöglichen es dem Gericht nicht, eine erforderliche Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Auskunftserteilung vorliegen, auf welche Art und Weise gegebenenfalls das insoweit eingeräumte Ermessen auszuüben ist und ob die schutzwürdigen Interessen der Angeschuldigten gegebenenfalls das Auskunftsinteresse überwiegen, durchzuführen. Weitere Ausführungen, etwa dazu weshalb die erbetene Akteneinsicht für den Beschwerdeführer im Rahmen eines etwaigen Zivilverfahrens zur Rechtsverteidigung erforderlich sei, fehlten.
3.) Auch aus der Akte selbst ergeben sich keine Anhaltspunkte für ein berechtigtes Interesse des Beschwerdeführers. Zwar erklärt der Antragsteller hierzu, es solle geprüft werden, ob Schadensersatzforderungen gegen einige Angeklagte, insbesondere gegenüber den Angeklagten zu 1. und zu 4., erfolgreich geltend gemacht werden können. Jedoch sind aus der Akte derartige zivilrechtliche Ansprüche im Zusammenhang mit den in dem vorliegenden Verfahren gegenständlichen (möglichen) Straftaten nicht ohne weiteres ersichtlich.
a.) Insbesondere sind keine Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO ersichtlich, da die Forderung des Beschwerdeführers gegen die A. GmbH bereits über eineinhalb Jahre vor dem Zeitraum der vorgeworfenen Taten rechtskräftig festgestellt wurde. § 15a InsO (als Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB) bezweckt die rechtzeitige Einleitung von Insolvenzverfahren, damit materiell insolvente Gesellschaften ohne persönlich haftende Gesellschafter nicht ohne insolvenzrechtlichen Schutz zu Lasten gegenwärtiger und zukünftiger Gläubiger fortgeführt werden. Altgläubiger, deren Ansprüche bereits vor der Insolvenzreife entstanden sind, können grundsätzlich nur den Quotenschaden aufgrund der letzten Verschleppungsperiode ersetzt verlangen. Der Quotenschaden jedoch ist durch den Insolvenzverwalter geltend zu machen.[6] Der mögliche Schadensersatzanspruch des Beschwerdeführers als Altgläubiger in diesem Sinne wäre in Bezug auf § 15a InsO mithin auf den eingetretenen Quotenschaden beschränkt, welchen jedoch nicht er sondern (nur) der Insolvenzverwalter geltend machen darf.
b.) Ebenso ist ein Anspruch des Beschwerdeführers aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 283 StGB nicht ersichtlich. Letzterer normiert den Grundfall der Insolvenzdelikte. Abs. 1 verlangt, dass der Schuldner in einer bestimmten Liquiditätslage, der sogenannten Krise, die Überschuldung, drohende und eingetretene Zahlungsunfähigkeit umfasst, eine in den Nrn. 1-8 aufgeführte Handlung vornimmt. Tatbestandsmäßiges Verhalten besteht aus dem Eintritt der Krise und der Begehung der inkriminierten Handlung durch den Schuldner.[7] Die Strafnorm des Bankrotts zählt zu den in § 823 Abs. 2 BGB angesprochenen Schutzgesetzen.[8] Der Schutzzweck von § 283 StGB besteht jedoch darin, die Masse im Interesse der gesamten Gläubigerschaft zu sichern.[9] Auf § 823 Abs. 2 i.V.m. § 283 InsO gestützte Schadensersatzansprüche sind mithin grundsätzlich solche, die ihre Ursache in einer Masseschmälerung haben und deshalb allen Gläubigern zustehen. Daher ist auch insoweit nach § 92 InsO ausschließlich der Insolvenzverwalter und nicht der Beschwerdeführer berechtigt, etwaige Ansprüche geltend zu machen. Hierdurch wird die von § 92 InsO bezweckte Gleichbehandlung der Insolvenzgläubiger gefördert, welche sonst versucht wären, nach dem Prioritätsprinzip ihre Ansprüche gegen dritte Schuldner durchzusetzen.[10]
c.) Schließlich ist auch nicht ersichtlich oder vorgetragen, dass der Beschwerdeführer etwa über die Zahlungsunfähigkeit der GmbH getäuscht und ihm ein Schaden dadurch entstanden ist, dass er durch die Täuschung von einer früheren Einleitung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen abgehalten worden ist, wodurch sich gegebenenfalls ein Anspruch nach § 826 BGB oder vertragliche Ansprüche ergeben könnten. Vielmehr trägt der Antragsteller vor, er verfolge die titulierte Forderung – diverse Zwangsvollstreckungsmaßnahmen seien jedoch ergebnislos verlaufen.
d.) Somit erschöpft sich – unabhängig von der Frage der hier nicht mehr zu prüfenden entgegenstehenden schutzwürdigen Interessen der Betroffenen – das Interesse des Beschwerdeführers darin, mögliche Vollstreckungsmöglichkeiten auszuforschen und eine nach dem Zivilrecht „unzulässige Beweisgewinnung“ zu erreichen. Ein Zusammenhang mit den den Angeschuldigten vorgeworfenen Straftaten wurde weder substantiiert vorgetragen noch ist ein solcher ersichtlich.
III. Anmerkung
1.) In insolvenzstrafrechtlichen Verfahren haben sich Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung regelmäßig mit Akteneinsichtsgesuchen des Insolvenzverwalters zu befassen. Während es streitig ist, ob der Insolvenzverwalter rechtlich als Dritter im Sinne des § 475 StPO[11] oder als Verletzter im Sinne des § 406e StPO[12] zu qualifizieren ist, wird aber jedenfalls allgemein anerkannt, dass die intendierte Prüfung und Durchsetzung insolvenzrechtlicher Ansprüche ein berechtigtes Interesse des Insolvenzverwalters an der Akteneinsicht darstellen kann[13], soweit das Verfahren, in dessen Akten Einsicht begehrt wird, Straftaten zum Nachteil des von ihm vertretenen Unternehmens zum Gegenstand hat.[14]
Praktisch seltener ist die der vorliegenden Entscheidung des Landgerichts Hamburg zugrunde liegende Konstellation, in der nicht der Insolvenzverwalter, sondern ein Insolvenzgläubiger unter Berufung auf insolvenzrechtliche Ansprüche Akteneinsicht begehrt.
Ein aus insolvenzrechtlichen Ansprüchen abgeleitetes berechtigtes Interesse im Sinne der §§ 406e, 475 StPO kann spiegelbildlich nur derjenige geltend machen, der zivilrechtlich zur Anspruchsverfolgung befugt ist. Die zur Prüfung erforderliche Abgrenzung der Anspruchsberechtigten insolvenzrechtlicher Forderungen wird durch die vorliegende Entscheidung illustriert.
2.) Das Landgericht Hamburg arbeitet zunächst im Einklang mit der herrschenden Meinung heraus, dass der Antragsteller ein berechtigtes Interesse schlüssig und substantiiert darzulegen habe und konstatiert sodann für den vorliegenden Fall, dass jedenfalls der lediglich pauschale Verweis darauf, etwaige Schadensersatzforderungen aus der verschleppten Insolvenz gegen die Angeklagten prüfen zu wollen, zur Substantiierung nicht hinreichend sei. In Anbetracht der mit der Einsichtsgewährung verbundenen Intensität des Eingriffs in verfassungsrechtlich geschützte Rechte der Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie des Verbots unzulässigen Beweisgewinnung ist diese restriktive Auslegung zu begrüßen.
3.) Gleichwohl beleuchtet die Kammer dann anhand des Akteninhalts die zwar von dem Antragsteller nicht vorgetragenen, aber jedenfalls rechtlich denkbaren insolvenzrechtlichen Anspruchsgrundlagen, aus denen ein berechtigtes Interesse abgeleitet werden könnte. Diese sollen aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung nachfolgend näher betrachtet werden:
a.) Zunächst kann sich ein insolvenzrechtlicher Schadensersatzanspruch nach Maßgabe der § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO[15] unmittelbar aus der verspäteten Insolvenzantragstellung ergeben. Auch mit Blick auf die Akteneinsichtsrechte nach §§ 406e, 475 StPO ist dabei zu unterscheiden zwischen Altgläubigern, deren Ansprüche vor, und Neugläubigern, deren Ansprüche nach Eintritt der Insolvenzantragspflicht entstanden sind.[16]
In Bezug auf Altgläubiger soll durch die Insolvenzantragspflicht des § 15a InsO gewährleistet werden, dass das der Gläubigergesamtheit haftende Schuldnervermögen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung nicht weiter verringert wird. Da das Schuldnervermögen im Insolvenzfall in aller Regel nicht zur vollständigen Befriedigung aller Forderungen ausreicht, erhalten die Insolvenzgläubiger zumeist nur eine quotale Befriedigung. Durch einen rechtzeitigen und richtigen Eröffnungsantrag sollen eine bessere Erhaltung der Haftungsmasse und damit eine größere Befriedigung aller Gläubiger gewährleistet werden.[17] Soweit in der Zeit zwischen Eintritt der Insolvenzantragspflicht und verspäteter Antragstellung das Schuldnervermögen weiter aufgezehrt wird, verringert sich auch die auf die Insolvenzgläubiger entfallende Quote. Die Differenz zwischen einer fiktiven Quote bei rechtzeitiger Antragstellung und der tatsächlich erhaltenen Quote nach verspäteter Antragstellung stellt den sog. „Quotenschaden“ dar, der nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO geltend zu machen ist. Hierbei handelt es sich um einen Anspruch der Gesamtschadensliquidation, für dessen Geltendmachung nach § 92 InsO für die Dauer des Insolvenzverfahrens nur der Insolvenzverwalter aktivlegitimiert ist.[18]
Soweit hingegen Neugläubiger betroffen sind, deren Ansprüche erst nach Eintritt der Insolvenzantragspflicht entstanden sind, beinhaltet der Schutzzweck der Norm des § 15a InsO, den Ausschluss von Gesellschaften mit nur beschränkt haftendem Vermögen vom Geschäftsverkehr sicherzustellen, um eine Schädigung und Gefährdung des Vermögens künftiger Gläubiger zu begrenzen.[19] Der Schaden eines Neugläubigers beruht gerade darauf, dass er in Unkenntnis der Insolvenz Leistungen erbracht hat und mit der dafür geschuldeten Gegenleistung ausfällt. Die Neugläubiger haben bei einem schuldhaften Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO nicht nur einen Anspruch auf Ersatz des Quotenschadens, sondern einen individuellen Nichterfüllungsanspruch auf Ausgleich des Schadens, der ihnen dadurch entsteht, dass sie in Rechtsbeziehungen zu einer überschuldeten oder zahlungsunfähigen Gesellschaft getreten sind.[20] Da es sich um Individualschäden handelt, ist der Insolvenzverwalter zur Geltendmachung des Nichterfüllungsanspruchs nicht befugt.[21]
Für die Akteneinsichtsrechte der §§ 406e, 475 StPO bedeutet dies, dass einem Neugläubiger bei insolvenzrechtlichen Ansprüchen ein eigenes berechtigtes Interesse zustehen kann, während ein solches bei Ansprüchen von Altgläubigern allein beim Insolvenzverwalter anzusiedeln sein dürfte.
b.) Des Weiteren können insolvenzrechtliche Schadensersatzansprüche zudem aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 283 StGB folgen und grundsätzlich ein berechtigtes Interesses im Sinne des strafprozessualen Akteneinsichtsrechts darstellen. Das Insolvenzstrafrecht und insbesondere der Bankrotttatbestand § 283 StGB dienen dem Schutz der Vermögensinteressen der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger an einer gemeinschaftlichen Befriedigung ihrer geldwerten Ansprüche gegen den Schuldner.[22] Soweit also durch die Bankrotthandlung nicht ausnahmsweise ein Individualschaden eines Gläubigers herbeigeführt[23], sondern der Gemeinschaft der Insolvenzgläubiger durch Verkürzung der Masse ein Gesamtschaden zugefügt wurde, ist auch hier der Anwendungsbereich des § 92 InsO mit der Folge eröffnet, dass nur der Insolvenzverwalter zur Anspruchsgeltendmachung befugt ist.
Ein berechtigtes Interesse im Sinne der §§ 406e, 475 StPO wird demzufolge bei Bankrottstraftaten in aller Regel nur der Insolvenzverwalter erfolgreich darlegen können.
c.) Individuelle Anspruchsgrundlagen des Insolvenzgläubigers können sich – wie von der Kammer ausgeführt – unter anderem aus einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB ergeben. Hierbei handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der insbesondere auch Vermögensschäden umfasst. Soweit die Kammer aber ausdrücklich mögliche „Täuschungen“ anspricht, sollen aufgrund der praktischen Bedeutung korrespondierende denkbare Ansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB ergänzend beleuchtet werden.
Der Betrug ist ein Vermögensschädigungsdelikt, dem individualschützender Charakter zukommt und der daher ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB darstellt.[24] Wenn eine Vertragspartei bei Vertragsschluss bereits insolvent ist bzw. bei der zeitlich nachgelagerten Vertragserfüllung insolvent wird, führt dies im Laufe der Vertragsabwicklung in der Regel zu Vermögensverlusten der anderen Vertragspartei. Daher stellt § 263 StGB Handlungsweisen unter Strafe, die durch die Vorspiegelung der eigenen Solvenz zu gutgläubigen Gegenleistungen des Vertragspartners führen sollen.[25] Es können damit sowohl Handlungsweisen vom Tatbestand des § 263 StGB erfasst sein, die erst nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit liegen, aber auch solche im Vorfeld einer Insolvenz, soweit deren künftiger Eintritt zum Zeitpunkt der Vertragserfüllung bereits abzusehen war.
Zur Bestimmung der Anspruchsberechtigung und damit auch zur Eruierung eines möglichen berechtigten Interesses im Sinne der §§ 406e, 475 StPO ist zu differenzieren:
Wird ein Gläubiger bei Vertragsschluss über die fehlende Solvenz getäuscht, tritt er aufgrund des erregten Irrtums in Vorleistung und erleidet er durch die Insolvenz einen individuellen Vermögensschaden, ist auch nur er und nicht der Insolvenzverwalter zur Geltendmachung der Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB gegen das vertretungsberechtigte Organ befugt.[26] Nur der Insolvenzgläubiger wird in diesen Konstellationen ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 406e StPO geltend machen können.
Soweit die Täuschungshandlungen innerhalb eines betrügerischen Systems jedoch darauf abzielen, die Altgläubiger insgesamt davon abzuhalten, rechtzeitig Vollstreckungsmaßnahmen einzuleiten, sodass durch den dadurch bewirkten Zeitablauf die Insolvenzmasse weiter verkürzt wird, kann dies grundsätzlich zu einem Quotenschaden führen.[27] Für dessen Geltendmachung ist auf Grundlage der § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB der Insolvenzverwalter nach § 92 InsO zur Geltendmachung befugt.[28] Daher wird sich in derartigen Konstellationen auch nur der Insolvenzverwalter auf ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 475 StPO berufen können.
4) Das im Rahmen des Akteneinsichtsverfahrens zu prüfende und darzulegende berechtigte Interesse zeigt dessen enge Verzahnung zum Zivilrecht bzw. Insolvenzrecht. Es ist sowohl für den Insolvenzverwalter, den Insolvenzgläubiger als auch für den Verteidiger unabdingbar, sich mit den jeweilig in Betracht kommenden insolvenzrechtlichen Anspruchsgrundlagen auseinander zu setzen und herauszuarbeiten, wer zur Anspruchsverfolgung befugt ist. Nur so kann für den Antragsteller ein berechtigtes Interesse substantiiert dargelegt bzw. durch die Verteidigung erfolgreich widerlegt werden.
[1] Volltext: BeckRS 2018, 32606.
[2] Die Entscheidungsgründe wurden durch den Verfasser gekürzt und neu nummeriert.
[3] OLG Köln, Beschluss vom 16.10.2014, 2 Ws 396/14.
[4] Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., Rz. 7 zu § 406e.
[5] OLG Köln, Beschluss vom 16. Oktober 2014, Abs. 2I-2 Ws 396/14 m.w.N.
[6] vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 06.01.2015, 4 U 598/14; vgl. auch BGH, Urteil vom 22.10.2013, Abs. 2 ZR 394/12.
[7] Radtke/Petermann, in MüKo StGB, 2. Aufl. 2014, Rz.1 zu § 283.
[8] BGH, Urteil vom 25.09.2014, IX ZR 156/12.
[9] BGH, Urteil vom 04.04.1979, 3 StR 488/78; Heine/Schuster, in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, Rz. 2 zu Vor §§ 283 ff.
[10] vgl. zum Zweck des § 92 InsO Hirte, in Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 14. Aufl. 2015, Rz.1 f. zu § 92.
[11] so jüngst OLG Köln NZI 2014, 1059; LG Frankfurt a.M. StV 2003, 495.
[12] LG Hildesheim NJW 2009, 3799 (3801).
[13] Meyer-Goßner/Schmitt StPO § 475 Rn. 2; OLG Köln NZI 2014, 1059; LG Hildesheim NJW 2008, 531.
[14] OLG Köln NZI 2014, 1059.
[15] st. Rspr., § 64 GmbHG: BGH NJW 1979 1823; BGH NJW 1994, 2220; § 15a InsO: Wagner in: MüKo BGB, § 823 Rn. 395
[16] Grundlegend zu dieser Differenzierung: BGH Urteil vom 06.06.1994, BGHZ 126, 181 ff.
[17] Hohmann in: MüKo StGB, § 15a InsO Rn. 2.
[18] BGHZ 126, 181 ff..
[19] Hohmann in: MüKo StGB, § 15a InsO Rn. 2.
[20] BGH ZIP 2014, 23.
[21] BGH NJW 1998, 2667 ff.
[22] Petermann in: MüKo StGB, Vor § 283 Rn. 11; BGH NStZ 2008, 401
[23] z.B. bei einer nach § 283 I Nr. 3 StGB den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Veräußerung eines unter Vorbehaltseigentum stehenden Gegenstandes, der dem Aussonderungsrecht (§ 47 InsO) des Gläubigers unterliegt.
[24] vgl. nur Palandt BGB, § 823 Rn. 69 m.w.N.
[25] Smok in: Dannecker/Knierim, Insolvenzstrafrecht, 3. Aufl. 2018, Rn. 727.
[26] Soweit der Insolvenzschuldner eine natürliche Person ist, nehmen festgestellte Forderungen aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung gem. § 302 Nr. 1 InsO nicht an der Restschuldbefreiung teil und können nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens und Ablauf der Wohlverhaltensperiode weiter geltend gemacht werden.
[27] Denkbar ist diese Konstellation bei Insolvenzen mit betrügerischem Hintergrund, vgl. OLG Karlsruhe („FlowTex“), BeckRS 2007, 16879.
[28] Kroth in: Braun, Insolvenzordnung 7. Auflage 2017 Rn. 4.