Dr. Fabian Meinecke

Gercke/Julius/Temming/Zöller (Hrsg.), Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019

C.F. Müller, Heidelberg u.a. 2019, 2510 Seiten, 199 EUR.

I. Einleitung

Die Aufgabe des Rezensenten ist eine der dankbarsten schriftlichen juristischen Tätigkeiten. Vorrangig steht der Rezensent im Dienste von Berufskollegen aus Anwaltschaft und Justiz, die sich über den Gegenstand der Rezension – hier den 2019 in der bereits 6. Auflage erschienenen Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung – informieren möchten, bevor sie ihn erwerben. Für den Rezensenten ist dieser Dienst verantwortungs- und anspruchsvoll, da zum einen objektive Kriterien zu finden sind, um die Güte eines in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen anerkannten Kommentars im fairen Verhältnis zu anderen am Markt erhältlichen Werken zu bewerten. Zum anderen ist es eine notgedrungen unerschöpfliche Aufgabe, in angemessener Zeit das 2510 Seiten und Kommentierungen von 17 Autoren umfassende Werk zu durchdringen und sich eine abschließende Meinung zu bilden. Der beste Dienst, der dabei zu leisten ist, besteht (wohl) darin, das eigene Vorgehen zu explizieren und damit transparent zu machen, wo die Schwerpunkte bei der Arbeit mit dem Heidelberger Kommentar in Vorbereitung dieser Rezension lagen.

II. Vorgehen

Dies schließt unmittelbar an die Vorzüge der Rezensententätigkeit an. Diese gibt – bei der Besprechung eines Kommentars, der mit der Strafprozessordnung den Schwerpunkt der beruflichen Tätigkeit des Rezensenten abbildet – willkommenen Anlass, aus der sich im Tagesgeschäft unweigerlich einschleifenden Routine auszubrechen. Da typischerweise die Zeit für Recherchen knapp ist, sei es am Schreibtisch oder in der Pause der Hauptverhandlung, besitzen die meisten Berufspraktiker einen Lieblingskommentar, der in Layout, den gewählten Abkürzungen, in der Ausführlichkeit und dem Sprachduktus an den entscheidenden Stellen vertraut ist und daher einen Effizienzgewinn beschert. Die Rezension des Heidelberger Kommentars gab dabei Gelegenheit, mit dieser Routine zu brechen und den Lieblingskommentar für die Zeit der Vorbereitung der Rezension gegen das hier besprochene Werk zu tauschen.

Bei diesem Vorgehen liegt das Augenmerk auf den Besonderheiten und den Unterschieden zu anderen verfügbaren Kommentaren, denn durch den Wechsel fällt der Blick eher auf ungewohnte Aspekte und die Frage, ob der Heidelberger Kommentar einen Mehrwert gegenüber anderen Praxiskommentaren bietet, scheint leichter zu beantworten.

III. Vom Allgemeinen zum Besonderen

Im Vorwort führen die Autoren unter Bezugnahme auf die vor 20 Jahren erschienene Erstauflage Folgendes aus: „Mit zwanzig Jahren ist ein Mensch noch jung und so gerade erwachsen. Ein ordentlicher Wein sollte langsam auf seine Trinktauglichkeit geprüft werden, ein sehr guter Wein kann, aber muss (noch) nicht getrunken werden. Und ein Kommentar beginnt, so langsam zum ‚Klassiker’ zu werden“. Dass der „HK“ wie er gerne abgekürzt wird, zum Klassiker der StPO-Kommentare zählt, darf mit Fug und Recht behauptet werden. Besonders erfreulich ist dabei, dass der „Wein“ seit Erscheinen der (5.) Vorauflage des Heidelberger Kommentars sechs Jahre reifen durfte und dabei – als hätte man darauf gewartet – u.A. die für die wirtschaftsstrafrechtliche Praxis prägende Reform der Vermögensabschöpfung (StrVermAbRefG v. 13.04.2017, BGBl I 2017, 872) als auch die „Jones Day“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 27.06.2018 – 2 BvR 1405/17; 2 BvR 1780/17; 2 BvR 1562/17; 2 BvR 1287/17; 2 BvR 1583/17, StV 2018, 554) Berücksichtigung gefunden haben. Dadurch, dass u.A. sogar die erst am 01.01.2020 in Kraft tretende durch das Gesetz zu effektivern und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens (BGBl. I 2017, 3202) eingeführte Regelung des § 136 Abs. 4 StPO in der Kommentierung durch Ahlbrecht erschöpfende Berücksichtigung gefunden hat, wird die Aktualität auch in Ansehung der weiteren gesetzgeberischen „Modernisierungsbestrebungen“ des Gesetzgebers längere Zeit erhalten.

Der Heidelberger Kommentar darf sich damit zugleich an den Brennpunkten der aktuellen wirtschaftsstrafrechtlichen Praxis messen lassen. Was den Heidelberger Kommentar dabei auszeichnet, ist, um es auf einen Begriff zu bringen: Ausgewogenheit. Der „HK“ ist umfangreich genug, um etwa auf Bezüge zur EMRK und zu den RiStBV einzugehen. Zugleich ist er kompakt genug, um den schnellen Zugriff auf Einzelfragen zu ermöglichen, die in der gebotenen Geschwindigkeit und mit pragmatischen Ergebnissen recherchiert werden wollen. Hiermit ist zugleich der Mehrwert des Heidelberger Kommentars gegenüber anderen verfügbaren Kommentaren angesprochen, der im Folgenden unter ausgewählten wirtschaftsstrafrechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet werden soll.

IV. Ausgewählte Sachgebiete

In Vorbereitung dieser Rezension wurde ausführlich insbesondere in den Rechtsgebieten der Vermögensabschöpfung, der Kostenentscheidung (§§ 464ff. StPO) und in diversen Verfahrensfragen (§§ 153a,  201ff., 244, 257c, 260f. StPO) mit dem „HK“ gearbeitet, auf die sich die Rezension daher vor allem konzentriert. Es wäre aus Sicht des Rezensenten unredlich, nicht wirklich durchdrungene und vollumfänglich durchgelesene Kommentierungen zu besprechen. Die Besprechung des Gesamteindrucks erfolgt (unter diesem Vorbehalt) unter Ziff. III.4.

1. Reform der Vermögensabschöpfung

Wegen der praktischen Bedeutung der Reform der Vermögensabschöpfung für die berufliche Tätigkeit in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen unterlag die Kommentierung der §§ 108-111q StPO durch Gercke dem ersten Zugriff. Die Kommentierung insbesondere der §§ 111b ff. StPO, die Beschlagnahme zur Sicherung der Einziehung und Vermögensarrest regeln, sticht dabei im besten Sinne durch Reduktion aufs Wesentliche hervor. Der Einstieg dürfte auch Praktikern, die weniger regelmäßig Fragen der Vermögensabschöpfung zu bearbeiten haben, dadurch leichtfallen, dass die Vorschriften in ausgewogenem Verhältnis zwischen Überblick und Detail dargestellt und kommentiert werden. Dies bedarf deshalb der gesonderten Erwähnung, weil die judikative Prägung der tiefgreifend neukonzipierten Regelungen der Vermögensabschöpfung naturgemäß erst noch ansteht.

Aus Sicht des Rezensenten zeichnet die anwaltliche Kommentierung der Vorschriften zudem aus, von der Geltung des neuen Rechts heraus konzipiert zu sein, anstatt Änderungen gegenüber dem alten Recht verhaftet zu sein. Es wird sich wie selbstverständlich auf das neue Recht konzentriert und nicht der Unterschied zum alten Recht gesucht. Wer etwa den Begriff der Rückgewinnungshilfe sucht wird ihn nicht einmal mehr im Stichwortverzeichnis finden. Die Konzeption einer „Stunde Null“ erleichtert den praktischen Zugriff ebenso wie die Ausführlichkeit an den Stellen, wo das richtige juristische Argument besonders über den Ausgang eines Falles entscheidet.

Erhebliche Unsicherheit bereitet etwa in der Praxis die Bestimmung des Sicherungsgrundes gem. § 111e Abs. 1 StPO („Zur Sicherung der Vollstreckung“). Gegen die „Indizwirkung konnexer Straftaten“, d.h. im Wesentlichen das Heranziehen der Straftat selbst als Arrestgrund, werden etwa überzeugende Argumente benannt und damit Orientierung für die Praxis geboten (§ 111e Rn. 12). Gerade weil das neue Recht erst nach und nach durch die Rechtsprechung geprägt wird war der Bezug der Rechtsprechung und Literatur zum alten Recht auf die neuen Bestimmungen geboten (etwa §§ 111e Rn. 11f.; 111f. Rn. 2, 6; 111k Rn. 12). Nur vereinzelt sind in dem dynamischen Regelungsbereich Neuerungen unberücksichtigt geblieben, so etwa die Berichtigung des Gesetzgebers (BGBl I 2018, 1094), mit der die Frage eines redaktionellen Versehens bei § 111n Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 StPO (Rn. 10) erledigt ist.

In der Kommentierung der vollstreckungsrechtlichen Seite durch Pollähne (§§459g ff.) wäre zudem aus Sicht des steuerstrafrechtlichen Praktikers wünschenswert, den Verfahrensablauf in Arrest- bzw. Einziehungskonstellationen noch genauer zu fassen. Da in zahlreichen Konstellationen (noch) erhebliche Unsicherheit bei den Behörden über die Handhabung der neuen Regelungen besteht, etwa wenn streitige Steueransprüche durch Auskehr von arrestierten Beträgen durch die Justizkasse befriedigt werden sollen und Steuerforderungen im einzelnen noch streitig sind. Hier hätte eine in die praktischen Abläufe vordringende Kommentierung der jungen Praxis auf Seiten von Justiz und Anwaltschaft einen noch größeren Dienst erweisen können.

Für den Rezensenten hat sich der HK in Fragen der Vermögensabschöpfung bewährt und ist zum geschätzten Recherchewerkzeug geworden. Dies hängt u.A. auch damit zusammen, dass die Kommentierung im Meyer-Goßner/Schmitt durch den federführend an dem Gesetzentwurf zur strafrechtlichen Vermögensabschöpfung beteiligten jetzigen Richter am 5. Strafsenat des Bundesgerichtshof Marcus Köhler verantwortet wird und es ein Gebot der Klugheit ist, sich neben dem Kommentar des „Schöpfers“ – nicht aus falscher Skepsis, sondern zur Vertiefung des Verständnisses – eine Zweitmeinung einzuholen.

2. Kostenrecht

Für den schwerpunktmäßig im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht tätigen Praktiker besteht nicht häufig das Erfordernis der rechtlichen Prüfung von Kostenentscheidungen. Wenn das Erfordernis indes entsteht, sind die zu treffenden Entscheidungen und damit verbundenen Rechtsfragen umso exakter zu prüfen, da die Konsequenz einer Kostentragungspflicht, etwa bei einer Einstellungsentscheidung, ohne Weiteres den wirtschaftlichen Ruin auch in Ansehung eines (vermeintlich) guten Verfahrensabschlusses bedeuten kann.

In einer umfangreichen Prüfung hat dem Rezensenten die Kommentierung der §§ 464ff. StPO im „HK“ durch Temming/Schmidt gute Dienste geleistet. Ausgewogen ist insbesondere das Maß von Grundsätzen zu Detail. Dies führt dazu, dass sowohl der Praktiker, der nur einen Überblick bekommen möchte, fündig wird, als auch derjenige, der eine komplexe Rechtsfrage zu erarbeiten hat. Die Vorbemerkungen zu den §§ 464ff. StPO mögen auf nicht einmal zwei Druckseiten knapp erscheinen, sind indes von einer Prägnanz, die den Zweck ideal erfüllt: in kürzester Zeit die maßgeblichen Strukturen des Kostenrechts zu rekapitulieren. Durch Bezüge zu Kostenvorschriften außerhalb der StPO und rechtspolitischen Erwägungen (Vorb. zu §§464ff. Rn. 6) geht dies nicht auf Kosten des Grundverständnisses und der Einordnung in die gesetzliche Systematik. Das Kostenrecht ist in einzelnen Rechtsfragen insbesondere wegen der Durchbrechung des bestimmenden Veranlassungsprinzip durch Verschuldens- und Billigkeitserwägungen nicht ohne Anspruch.

Im Einzelfall können dadurch, etwa bei Einstellungen wegen eines Verfahrenshindernisses (§ 467 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 StPO), erhebliche Unsicherheiten in der Praxis bestehen, welche Umstände durch das Gericht in welcher Weise abgewogen und gewichtet werden müssen. Hierbei gibt die Kommentierung des „HK“ schnellen Zugriff auf verlässliche Kriterien (Rn. 10ff.). Die Arbeit wird durch auffallend zahlreiche Querverweise erleichtert (§ 464 StPO Rn. 7, 11, 19, 26; § 464a StPO Rn. 5, § 464d StPO Rn. 2, § 466 Rn. 2 usw.), die zügig dabei helfen, den eigenen Fall einzuordnen und alle maßgeblichen Vorschriften auch außerhalb der StPO zu erfassen. Nur vereinzelt sind die Verweise nicht mit den Bearbeitungen anderer Vorschriften synchronisiert (§ 467 Rn. 5 StPO zu § 153a Rn. 40 statt 42), was indes bei einer Bearbeitung dieses Umfangs in Substanz und Summe verzeihlich ist.

Es mag trivial erscheinen, sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass die Qualität der zitierten Literatur besonders hoch ist. Statt zahlreichen Verweisen findet der mit dem „HK“ arbeitende Jurist nicht viele, dafür aber gute Fundstellen, in denen die jeweiligen Rechtsprobleme nicht nur Randnotizen sind (so etwa bei § 464 StPO Rn. 6, 467 StPO Rn. 3). Dies ist besonders erfreulich, weil es einem erspart, aus etwa zehn Verweisen – wie man es aus zahlreichen juristischen Werken kennt – erst einmal die brauchbaren und für den bearbeiten Fall maßgeblichen Fundstellen recherchieren zu müssen.

3. Sonstige ausgewählte Verfahrensfragen

Weitere Rechtsfragen, in denen der HK verlässlich konsultiert wurde, betrafen die Vorschriften der §§ 153a, 201ff., 244, 257c, 260f. StPO, mithin „klassische“ Verfahrensvorschriften, mit denen der Strafrechtspraktiker vertraut ist und die nur in Sonderkonstellationen recherchiert werden. Die bei § 153a StPO angesichts der praktischen Bedeutung der Vorschrift sehr knappe der Kommentierung vorangestellte Übersicht täuscht, da die Kommentierung umfangreich ist. Das Eingehen auf Ablauf- und Verfahrensfragen (etwa § 153a: Rn. 32, 33, 40, 42) wird Zweifelsfragen in Sonderkonstellationen gerecht und dürfte auch den nicht im Strafprozessrecht „beheimateten“ Praktikern gerecht werden. Der Steuer- und Wirtschaftsstrafrechtler findet auf Spezialfragen Antworten, etwa wie sich die Opportunitätsvorschrift des § 153a StPO zu den abgabenrechtlichen Einstellungsmöglichkeiten verhält. Der Bearbeiter wird hierzu in zufriedenstellender Weise fündig (§ 153a StPO Rn. 10, 34). Auch bei der Kommentierung des § 153a StPO ist die gute Literaturauswahl auffällig, die den gesamten „HK“ prägt und geradezu eine Wohltat ist. Wenn das Auge mitten im Satz regelmäßig mehrere Zeilen Fundstellen überspringen muss – wie es bei Kommentierungen nicht unüblich ist –, schadet dies dem Lesefluss. Im „HK“ sind indes durchgängig angemessen wenige und dafür gute Verweise zu finden (zu § 153a StPO bspw. Rn. 13, 33). Auch in Recherchen bzw. Bearbeitungen zu den weiteren genannten Vorschriften überzeugte den Rezensenten die Griffigkeit und die maßvolle Reduktion aufs Wesentliche.

V. Zusammenfassung

Den „HK“ prägt die Ausgewogenheit zwischen akademischer Breite und Tiefe einerseits und dem praktischen Bedürfnis nach zügiger Recherche von belastbaren Antworten für die Praxis andererseits. Der Heidelberger Kommentar ist dabei aus Sicht des Rezensenten knapperen Praxiskommentaren überlegen, da er diesen Spagat meistert. Durch die konzise Literaturauswahl ist es uneingeschränkt möglich, zu Spezialproblemen nach dem „Schneeballprinzip“ die gesamte Breite eines Problems abzurufen. Das Voranstellen von Grundsätzen und Prägnanz in der Sprache erleichtern es zudem, schnell auch auf außerordentliche Fragestellungen Zugriff zu bekommen. Schließlich ist besonders erfreulich, dass der „HK“ in der 6. Auflage aktueller kaum sein könnte und daher in der Auswahl der Kommentare aus diesem zusätzlichen Grund unverzichtbar ist.

Autorinnen und Autoren

  • Dr. Fabian Meinecke
    Rechtsanwalt Dr. Fabian Meinecke, M.A., Berlin.

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