Dr. Marlen Vesper-Gräske, LL.M. (NYU)

Tobias Günther: Die Bedeutung von Criminal-Compliance-Maßnahmen für die strafrechtliche und ordnungswidrigkeitenrechtliche Ahndung

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Duncker&Humblot, Berlin 2019, 241 Seiten, 79,90 €

Die Publikation wurde im Februar 2017 von der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem Stand Januar 2018.

I. Einleitung

Die Dissertation greift ein in der Strafrechtswissenschaft und in der Strafrechtspraxis besonders aktuelles Thema auf. Sie bietet daher nicht nur interessanten Lesestoff für die Wissenschaft, sondern auch für Praktiker.

Die Bedeutung von (Criminal-)Compliance-Maßnahmen für die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Ahndung hat für Unternehmen (und Individualpersonen) im letzten Jahrzehnt stetig an Relevanz gewonnen. Im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen sind in Deutschland jedoch viele Fragen noch ungeklärt. Hieran wird nach aktuellem Stand wohl auch das geplante Gesetz zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität nicht viel ändern. Konkrete Vorgaben zu Compliance-Maßnahmen – ausgenommen einige existierende Regelwerke für regulierte Industrien – werden den Wirtschaftsakteuren derzeit nicht an die Hand gegeben.

Für Aufsehen hat in dieser Hinsicht die Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2017 gesorgt (BGH, Urteil vom 9.5.2017 – 1 StR 265/16), welche (zumindest) eine Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen bei der Bußgeldbemessung bestätigte. Die vorliegende Publikation geht über diese eine (mögliche) Auswirkung von Compliance-Maßnahmen – auf der Rechtsfolgenseite – deutlich hinaus.

II. Inhalt

Die Dissertation ist in fünf Teile gegliedert: Einleitung und Problemaufriss (A.), Überblick über Sanktionen gegen Unternehmen bzw. Unternehmensträger de lege lata und de lege ferenda (B.), Compliance im Allgemeinen (C.), Die Bedeutung von Criminal-Compliance für die strafrechtliche und ordnungswidrigkeitenrechtlicheAhndung (D.), Ergebnisse der Arbeit (E.).

Die ersten drei Teile befassen sich überwiegend mit der Darstellung des aktuellen Meinungsstandes in der Strafrechtswissenschaft, wobei auch eigene Lösungsansätze aufgezeigt werden. So widmet sich der Autor im zweiten Teil dem aktuell heftig diskutierten Bereich der Sanktionierung von Unternehmen. Hier bietet der Autor eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Theorien zu Sanktionsmöglichkeiten von Verbänden. Auch wenn die Überlegungen des Autors zur Ausgestaltung von Unternehmenssanktionen in Deutschland durch den kürzlich durchgedrungenen Referentenentwurf zum Gesetz zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität eingeholt wurden, so sind die verschiedenen Begründungsmodelle und Kritikpunkte dennoch lesenswert. Der Autor spricht sich gegen eine Sanktionierung über ein sog. Identifikationsmodell aus. Er begründet dies mit der Benachteiligung unschuldiger Dritter, wie Arbeitnehmer und Anteilseigner, die mit einer Verbandssanktion einhergehen würde. Kritisiert wird also, dass bei dieser Variante der Sanktionierung Personengruppen „mitbestraft“ werden, die – im Gegensatz zur Leitungsebene des Unternehmens – keine sog. Vermeidemacht innehaben. Insofern plädiert der Verfasser für das Modell des Organisationsverschuldens bzw. der Ahndung von Organisationsdefiziten im Unternehmen. Vorzugswürdig sei hieran, so der Autor, dass unabhängig von Hierarchieebenen Zuwiderhandlungen aller Mitarbeiter erfasst werden können, wenn diese Ausdruck eines zentralen, organisatorischen Mangels waren. Zudem fordert der Autor im Rahmen eines solchen Modells die Berücksichtigung der Vermeidemacht von Arbeitnehmern und Anteilseignern bzgl. einer unternehmensinternen Desorganisation. Für diese Personengruppen seien somit entsprechende Informations- und Implementationsrechte bzgl. der Sicherstellung von organisatorischen Vorkehrungen im Unternehmen einzuführen. Nur in diesem Fall habe sich eine „rechtliche und wirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft“ gebildet, deren Sanktionierung als Ganzes gerechtfertigt erscheint.

Im dritten Teil der Publikation bietet der Autor zunächst eine Begriffsbestimmung für Criminal Compliance, bevor er auf die Frage einer etwaigen Compliance-Verpflichtung sowie empirische Erkenntnisse zur Verbreitung von Criminal-Compliance-Maßnahmen eingeht. Criminal Compliance präzisiert der Verfasser als eine Form der „regulierten Selbstregulierung“ zur Sicherstellung rechtmäßigen Verhaltens im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, einschließlich der Einhaltung aller Nebenstrafgesetze. Es sei im Bereich der Criminal Compliance allerdings nicht ausreichend, die Compliance-Bemühungen auf die Abwendung von Schäden für das eigene Unternehmen zu begrenzen. Notwendigerweise sei das Unternehmen selbst als „Gefahrenquelle“ zu sehen, welches Schäden bei Dritten herbeiführen könne. Um den aktuellen Haftungsrisiken aus den §§ 130, 30 OWiG entsprechend entgegenzutreten, müsse eine Criminal-Compliance-Organisation letztlich einen umfassenden Rechtsgüterschutz im Auge behalten.

Eine generelle, positiv-rechtliche Verpflichtung nach deutschem Recht zur Einführung von bestimmten Compliance-Systemen sieht der Verfasser im Einklang mit der herrschenden Meinung nicht. Dieser Aussage lässt er aktuelle Empirik folgen, welche verdeutlichen soll, dass in deutschen Großunternehmen bereits überwiegend ein „Compliance-Bewusstsein“ bzw. eine Selbstverpflichtung zu Compliance-Maßnahmen – insbesondere im Anti-Korruptionsbereich – vorherrschend ist.

Nachdem die Grundlagen dargelegt wurden, bildet der vierte Teil den Hauptteil der Arbeit (Die Bedeutung von Criminal-Compliance für die strafrechtliche und ordnungswidrigkeitenrechtlicheAhndung). Hier stellt der Verfasser zunächst die präventiven Auswirkungen von Criminal-Compliance-Maßnahmen zusammen. Diese seien im Idealfall vornehmlich darin zu sehen, dass Vorsatztaten frühestmöglich entdeckt und somit verhindert werden können sowie, dass potentielle Täter ein – auf Grund von etablierten Compliance-Systemen – erhöhtes Entdeckungsrisiko befürchten und scheuen würden. Aber auch Fahrlässigkeitstaten sollen durch regelmäßige Schulungs- und Kontrollmechanismen einer gut funktionierenden Compliance-Organisation zu verhindern sein, indem das Bewusstsein für die im Verkehr erforderliche Sorgfalt geschärft und zur Einhaltung dieser angehalten wird.

Sodann wendet sich der Autor den Auswirkungen von Criminal Compliance auf der Ebene des materiellen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts zu. In einem ersten Schritt stellt er fest, dass auf Tatbestandsebene Criminal-Compliance-Maßnahmen im Grundsatz keine „Vorwurfsbeschränkung“ bei Vorsatztaten durch aktives Tun bewirken können. Konkret greift der Verfasser die Straftatbestände der Untreue (§ 266 StGB), Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr (§ 299 StGB) sowie den Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§ 17 UWG a.F.) heraus und untersucht den Einfluss von Criminal Compliance auf diese Straftaten. Im Ergebnis werden sowohl strafbarkeitsbegründende als auch -ausschließende Wirkungen herausgearbeitet. So wird z.B. für beide Varianten der Untreue eine mögliche strafbarkeitsbegründende Wirkung von Criminal-Compliance-Maßnahmen gesehen, indem solche Maßnahmen das erlaubte Risiko bzw. die Grenzen für untreuetaugliche Pflichtverletzungen abstecken können. Für den Bereich der Bestechungsdelikte wird attestiert, dass Criminal-Compliance-Maßnahmen sowohl strafbarkeitsbegründend als auch -ausschließend wirken können. Strafbarkeitsbegründung wird beispielsweise solchen Maßnahmen beigemessen, die Pflichten i.S.d. § 299 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 StGB statuieren, auf welche sich die in der Unrechtsvereinbarung erwartete Pflichtverletzung bezieht. Dies könne z.B. Compliance-Vorgaben in Unternehmen umfassen, mithilfe derer die eigenen Geschäftspartner ausgewählt und überprüft werden; mithin eine der wohl gängigsten internen Compliance-Regularien. Andererseits können konkrete Compliance-Vorgaben im Rahmen von § 299 StGB auch tatbestandsausschließende Einverständnisse des Geschäftsherrn darstellen und so zu einem Strafbarkeitsausschluss führen. Dies etwa – so der Autor – im Falle von Vorgaben des Geschäftsherrn, bis zu einem bestimmten Wert mit Vorteilsannahmen/-gewährungen und deren Verknüpfung mit einem pflichtwidrigen Verhalten der Mitarbeiter in einzelnen Fällen einverstanden zu sein.

Intensiv bespricht der Verfasser im Hauptteil die Wirkung von Criminal-Compliance-Maßnahmen auf den Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG. Die (tlw.) durch die Rechtsprechung formulierten Aufsichtspflichten des § 130 OWiG in Form von „Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungspflichten“ werden vom Verfasser eingehend beleuchtet. Er arbeitet heraus, dass durch die deutsche Rechtsprechung insbesondere die Instruktions- und Schulungspflichten präzisiert wurden und insofern eine Eingrenzung des unternehmerischen Ermessens bei der Auswahl geeigneter Maßnahmen erfolgte. Ein reines „Abladen“ von Schulungsmaterialien, ohne eine Überprüfung der tatsächlichen Kenntnisnahme durch die Mitarbeiter soll laut Rechtsprechung beispielsweise nicht ausreichend sein. Insgesamt konstatiert der Verfasser allerdings, dass eine weitere Präzisierung der notwendigen Compliance-Maßnahmen erforderlich ist – sei es durch die Rechtsprechung oder durch den Gesetzgeber – wobei gleichzeitig vor einer Überregulierung gewarnt wird. Aus empirischer Sicht seien es v.a. börsennotierte Großunternehmen selbst, die die Compliance-Entwicklung in Deutschland vorantreiben, da sie zumeist strengeren Vorgaben ausländischer Jurisdiktionen unterliegen und dementsprechend ihre Organisation an dortige Vorgaben anpassen. Durch eine „Weitergabe“ von Compliance-Verpflichtungen an ihre Geschäftspartner komme es sodann auch zu einem sukzessiven, stetigen Ansteigen der Verbreitung von Compliance-Strukturen im deutschen Wirtschaftsleben.

Im Rahmen der Untersuchung zu Auswirkungen von Criminal-Compliance-Maßnahmen auf der Rechtsfolgenseite unterstreicht der Autor die Zweischneidigkeit von Compliance-Systemen. Abgesehen von der mittlerweile durch die Rechtsprechung bestätigten Berücksichtigung von Compliance-Systemen bei der Zumessung des Ahndungsteils der Verbandsgeldbuße als Milderungsfaktor betont der Verfasser auch eine potentielle „straf“-schärfende Wirkung. Als Beispiel werden Täuschungsversuche über Compliance-Systeme in Form von Schein-Maßnahmen benannt, welche allein dazu dienen mögen, Compliance-Vorfälle zu vertuschen. Generell wird festgehalten, dass im Fall wiederholter, vorsätzlicher Normverstöße über längere Zeiträume hinweg Indizien für ein Compliance-System in Form eines sog. „window-dressing“ vorliegen mögen, was zumindest den Ausschluss der (positiven) Berücksichtigung des Compliance-Systems auf Rechtsfolgenseite rechtfertigen könne. In diesem Kontext nimmt der Verfasser auch die Möglichkeit der Zertifizierung von Compliance-Systemen in den Blick, wie etwa durch den Prüfungsstandard „IDW PS 980“.  In strafrechtlicher Hinsicht sollen derartige Zertifizierungen per se keinerlei Auswirkungen zeitigen. Es komme stets auf die konkrete Effektivität und Umsetzung des Compliance-Systems an, was durch die Attestierung eines Wirtschaftsprüfers zur Ausgestaltung eines solchen Systems nicht ersetzt werden könne.

Zum Ende der Arbeit stellt der Verfasser seinen Untersuchungsergebnissen zur Auswirkung von Criminal-Compliance-Maßnahmen auf das deutsche Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht noch die ausdifferenzierte Berücksichtigung von unternehmensinternen Anti-Korruptions-Maßnahmen in Großbritannien und den USA gegenüber. Hiermit wird verdeutlicht, welchen Anforderungen deutsche Großunternehmen bei globaler Wirtschaftstätigkeit unterliegen und dass den stärksten Treiber der Compliance-Entwicklungen in Deutschland letztlich ausländische Regelwerke darstellen, welche die Compliance-Organisation von Großunternehmen entscheidend (mit-)bestimmen.

III. Zusammenfassung

Die Dissertation ist insgesamt für Vertreter der Wissenschaft und Praxis lesenswert und kann durch einen stringenten Aufbau sowie eine konzise Darstellung überzeugen.

Die Darstellung der möglichen Auswirkungen von Criminal-Compliance-Maßnahmen auf der Tatbestandsebene über die Rechtfertigungs- und Schuldebene bis auf die Rechtsfolgenseite gewährt einen sehr guten Gesamtüberblick. Interessante Aspekte finden sich insbesondere bei der Herausarbeitung unerwünschter Auswirkungen von Criminal-Compliance-Bemühungen, indem diese auch strafbarkeitsbegründend wirken können. Ein Umstand, welcher durchaus nicht im Fokus der aktuellen Compliance-Diskussionen steht und der umso mehr die Beachtung höchster Sorgfalt bei der Ausarbeitung unternehmensinterner Criminal-Compliance-Maßnahmen verdient.

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Autorinnen und Autoren

  • Dr. Marlen Vesper-Gräske, LL.M. (NYU)
    Dr. Marlen Vesper-Gräske, LL.M. (NYU) ist Rechtsanwältin bei Freshfields Bruckhaus Deringer LLP; Tätigkeitsbereiche: (Criminal) Compliance/Internal Investigations/Wirtschaftsstrafrecht

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  • Dr. Ricarda Schelzke

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    Individual- und Unternehmenssanktionen

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    Produkthaftung, Umwelt, Fahrlässigkeit und Zurechnung