Bundesgerichtshof (BGH)

BGH-Urteil vom 24.09.2019 – 1 StR 346/18; Vorsatz und Irrtum bei § 266a Abs. 1 und 2 StGB

I. Inhalt der Entscheidung

Die Entscheidung des 1. Strafsenats[1] zur subjektiven Tatseite von § 266a StGB ist zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGHSt) vorgesehen. Die amtlichen Leitsätze lauten:

  1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs.1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat.
  2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest.

Der Senat hat diese durchaus fundamentale Änderung seiner ständigen Rechtsprechung bereits Anfang 2018 obiter dictu angedeutet.[2] Nun macht der Senat „Nägel mit Köpfen“ und gibt seine bisherige, gegenläufige Rechtsprechung ausdrücklich und tragend auf. Die Entscheidung betrifft unmittelbar den zentralen Tatbestand des Arbeitsstrafrechts (§ 266a StGB). Die rechtlichen Anforderungen an die subjektive Tatseite beim Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, damit zugleich an den Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) einerseits sowie an den Verbotsirrtum (§ 17 StGB) andererseits, werden durch den Senat grundlegend neu justiert. Die Bedeutung dieser Entscheidung ist schon vor diesem Hintergrund kaum zu überschätzen. Und mehr noch: Die Entscheidung besitzt auch darüber hinaus, d.h. auf einer eher übergeordneten Ebene, das Potenzial, den subjektiven Tatbestand (Vorsatz) in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen aus seinem Schattendasein heraus eine angemessene Bedeutung zu verschaffen.

Zunächst: Noch Anfang 2018 hat der Senat seine Bedenken gegen die bisherige Spruchpraxis in erster Linie aus einem Vergleich mit der subjektiven Tatseite bei Steuerhinterziehung (§ 370 AO), namentlich der „Steueranspruchstheorie“, abgeleitet.[3] Vorsatz bei Steuerhinterziehung erfordert danach, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennen (oder zumindest für möglich halten) muss und ihn auch verkürzen will.[4] Nunmehr leitet der Senat sein in den Leitsätzen dokumentiertes – zutreffendes – Ergebnis aus einer konsistenten Anwendung der allgemeinen Vorsatzdogmatik im Fall normativer Tatbestandsmerkmale ab: § 266a StGB setze, so der Senat im Ausgangspunkt, in allen Varianten Vorsatz voraus, wobei jeweils bedingter Vorsatz genüge. Ein bedingt vorsätzliches Verhalten erfordere, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkenne (Wissenselement) sowie, dass er diesen billige oder sich um des erstrebten  Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfinde (Willenselement).[5] Dementsprechend sei für den bedingten Vorsatz mit Blick auf die Arbeitgebereigenschaft in § 266a StGB entscheidend, „ob der Arbeitgeber erkannt und billigend in Kauf genommen hat, dass aufgrund der Umstände des Einzelfalls möglicherweise von einer abhängigen Beschäftigung auszugehen ist und daraus gegebenenfalls für ihn eine Abführungspflicht folgt“.[6] Der Betroffene müsse dementsprechend, so der Senat, „in einer zumindest laienhaften Bewertung erkannt haben, dass er selbst möglicherweise Arbeitgeber ist, dass eine Abführungspflicht existieren und er durch die fehlende Anmeldung oder unvollständige oder unrichtige Angaben die Heranziehung zum Abführen von Sozialabgaben ganz oder zum Teil vermeiden könnte“.[7]

Im Anschluss an diese grundlegenden Ausführungen überträgt der Senat diese Grundsätze auf die subjektive Tatseite von § 266a StGB, was zugleich zur Aufgabe der bisherigen, abweichenden Sichtweise führt (bzw. geradezu führen muss): Nach bisheriger – nunmehr aufgegebener – Rechtsprechung musste sich der Vorsatz (mit Blick auf die Eigenschaft als Arbeitgeber und die hieraus resultierenden sozialversicherungsrechtlichen Pflichten) „nur auf die hierfür maßgeblichen tatsächlichen Umstände beziehen, während es keiner zutreffenden rechtlichen Einordnung und damit auch keines Fürmöglichhaltens und keiner Billigung einer möglichen Verletzung der etwa in eigener Person bestehenden Verpflichtung zur Beitragsabführung bedurfte“.[8] Lag diese Kenntnis der tatsächlichen Umstände vor, „unterlag der Täter, wenn er glaubte, nicht Arbeitgeber zu sein oder für die Abführung der Beiträge nicht Sorge tragen zu müssen, […] keinem Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum, sondern (allenfalls) einem – in der Regel vermeidbaren – Verbotsirrtum“.[9]

Nach neuer – und zutreffender – Sichtweise des Senats ist nunmehr im Rahmen von § 266a StGB „vorsätzliches Handeln nur dann anzunehmen, wenn der Täter über die Kenntnis der insoweit maßgeblichen tatsächlichen Umstände hinaus auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat […]“.[10] Hieraus folge, so der Senat, dass der Täter „seine Stellung als Arbeitgeber und die hieraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen“ hat.[11] Dementsprechend sei, so die Konsequenz, „eine Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft in § 266a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht als Tatbestandsirrtum im Sinne von § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB einzuordnen“.[12]

Eher ergänzend weist der Senat, wie bereits Anfang 2018, weiter darauf hin, dass diese grundlegende Neujustierung zugleich die bisherige und wenig sachgerechte Divergenz der Rechtsprechung zum Vorsatz bei Steuerhinterziehung (Steueranspruchstheorie) und bei § 266a StGB auflöse.[13]

II. Bewertung

Schon die Anfang 2018, allerdings „nur“ im Rahmen eines obiter dictum geäußerte Erwägung des Senats, seine Spruchpraxis zu ändern, wurde im Schrifttum soweit ersichtlich ohne Ausnahme begrüßt.[14] Nunmehr hat der Senat seine rechtliche Neubewertung der subjektiven Tatseite von § 266a StGB umfassend und mit einer stringenten (geradezu zwingenden), erschöpfenden und überzeugenden rechtlichen Argumentation begründet. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Klarzustellen ist nur, dass die Überwindung der Divergenz zwischen den Anforderungen an die subjektive Tatseite bei Steuerhinterziehung (§ 370 AO) einerseits und bei Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) andererseits nicht Grund, sondern Folge der vom Senat vorgenommenen rechtlichen Neujustierung ist. Zwar besteht für eine, in den Worten des Senats, „vorsatz- und irrtumsdogmatische Ungleichbehandlung von Arbeitgeberstellung im Sinne von § 266a StGB und Pflichtenstellung im Sinne des § 370 Abs. 1 Nummer 2 AO […] kein sachlicher Grund“.[15] Andeutungen des 1. Strafsenats in nicht allzu ferner Vergangenheit zu einer möglichen Aufgabe der Steueranspruchstheorie haben allerdings gezeigt, dass eine Beseitigung dieser (nicht sachgerechten) Divergenz unter umgekehrten Vorzeichen, d. h. in einer der heutigen Sichtweise geradezu entgegengesetzter Weise, ebenfalls möglich gewesen wäre.[16] Ausschlaggebend ist vor diesem Hintergrund, dass der Senat seiner Entscheidung eine fundierte rechtliche Bewertung zugrunde legt, die an der allgemeinen Vorsatz-Dogmatik bei normativen Tatbestandsmerkmalen anknüpft und eben zu dem (einheitlichen) Ergebnis führt, wonach es sich in beiden Fällen um normative Tatbestandsmerkmale handelt, „hinsichtlich derer“, so der Senat, „die bloße Kenntnis der ihnen zugrundeliegenden Tatsachen nicht genügt, um vorsätzliches Verhalten zu begründen“.[17] Vielmehr müsse der Täter danach „die für die Unrechtsbegründung wesentliche Bedeutung der maßgeblichen Tatumstände zutreffend erfasst und die rechtliche Wertung nachvollzogen haben […]. Hat er dies nicht, unterliegt er einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum, da ihn der spezifische strafrechtliche Normenappell nicht erreicht“.[18]

Die Lektüre dieser stringenten Entscheidung und ihres klaren (beinahe zwingenden) Ergebnisses machen es umso schwerer, den Senat für die vorherige – nunmehr überwundene – Spruchpraxis nicht zu kritisieren; ebenso für den eher späten Zeitpunkt der Korrektur. Möglicherweise – dies ist allerdings nur Spekulation – sah sich der Senat zuvor vor allem auf Grund kriminalpolitischer Bedenken an der nunmehr vollzogenen Rechtsprechungskorrektur gehindert. Die Sorge, Betroffene könnten sich andernfalls allzu leicht auf einen fehlenden (bedingten) Vorsatz bzw. Tatbestandsirrtum berufen, könnte hier ausschlaggebend gewesen sein. Dies auch deshalb, weil die, vom Senat ebenfalls angesprochene – objektive – Feststellung der Arbeitgebereigenschaft (und der Pflicht Sozialversicherungsbeiträge abzuführen) am Maßstab des Sozialversicherungsrechts im Einzelfall weniger in tatsächlicher, jedoch vor allem in rechtlicher Hinsicht durchaus Probleme bereiten kann. Der Senat spricht insoweit zutreffend von „einer Vielzahl von Kriterien“, die dieser sodann exemplarisch ausführt, von einer „komplexen Wertung“, bei der „die Kriterien im Einzelfall unterschiedliches Gewicht haben können“, sowie von dem Umstand, dass sich das Ergebnis der erforderlichen wertenden Gesamtbetrachtung der relevanten tatsächlichen Gegebenheiten der gelebten Beziehung nicht immer sicher vorhersehen lasse.[19] Dieser Befund erweist sich aus Sicht eines Obergerichts wohl auch deshalb als eher ambivalent, weil er zwar einerseits die Einstufung von Arbeitgebereigenschaft und Sozialversicherungspflicht als normative Tatbestandsmerkmale (mit den vom Senat inzwischen gezogenen Konsequenzen an den subjektiven Tatbestand) geradezu aufdrängt, andererseits jedoch „in der Instanz“ durchaus zu Problemen bei der Vorsatzfeststellung (dem Ausschluss eines Tatbestandsirrtums) führen kann.

Zunächst ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des vergleichbaren Vorsatzmaßstabs im Steuerstrafrecht (Steueranspruchstheorie) nicht zu signifikanten Nachweisproblemen oder gar Strafbarkeitslücken geführt hat. Bereits im Anschluss an das vom Senat geäußerte obiter dictum Anfang 2018 wurde im Schrifttum überdies darauf hingewiesen, dass die mögliche Rechtsprechungsänderung weder eine Art Freibrief bewirke, noch allein die Behauptung eines Tatbestandsirrtums zur Straffreiheit führe.[20] Vor dem Hintergrund einer möglichen Nachweisproblematik sind offenbar die Ausführungen zur Beweiswürdigung zu sehen,[21] mit denen der Senat klarstellt:

  • Die Feststellung vorsätzlichen Verhaltens, d. h. nunmehr, ob ein Arbeitgeber seine entsprechende Stellung und das Bestehen hieraus folgender sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, muss vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall anhand der konkreten Tatumstände geklärt werden.
  • Hierbei könne zunächst von Bedeutung sein, so der Senat, „wie eindeutig die Indizien sind, die – im Rahmen der außerstrafrechtlichen Wertungen – für das Vorliegen einer Arbeitgeberstellung sprechen.“
  • Bedeutung hat ferner, „ob und inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist“.
  • Und weiter, „ob das Thema illegaler Beschäftigung in der jeweiligen Branche im gegebenen zeitlichen Kontext gegebenenfalls vermehrt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war“.
  • Ein gewichtiges Indiz könne sein, „ob das gewählte Geschäftsmodell von vornherein auf Verschleierung oder eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen ausgerichtet ist“.
  • Insbesondere bei Kaufleuten seien „auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen, weil eine Verletzung eine Erkundigungspflichten auf die Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeuten“ könne.

Die Annahme eines Tatbestandsirrtums wird auch nach der Rechtsprechungsänderung zur subjektiven Tatseite von § 266a StGB – auch in Abhängigkeit der Person des Betroffenen – eher (sozialversicherungsrechtlichen) Grenzfällen vorbehalten bleiben. Die Entscheidung ist aber auch deshalb uneingeschränkt zu begrüßen, weil sie eine angemessene Entkriminalisierung von Unternehmen und Unternehmern bewirken wird, die (moderne) Beschäftigungskonzepte wählen, die wiederum in die Grenzbereiche der erforderlichen sozialversicherungsrechtlichen Gesamtabwägung (mit vielfach ungewissem Ausgang) führen.

  • Ausblick

Die Entscheidung des 1. Strafsenats betraf den Pflegesektor, in dem – wie auch vorliegend – pflegebedürftige Menschen auf Pflegekräfte aus dem osteuropäischen Raum zurückgreifen wollten (etwa aus finanziellen Gründen auch zurückgreifen mussten). Da in dieser Konstellation einzelne Pflegekräfte typischerweise nur einzelne Personen (und diese über einen längeren Zeitraum hinweg) betreuen, scheidet eine selbstständige Tätigkeit häufig aus, sodass vorliegend eine Sozialversicherungspflicht bestand.[22] Die Entscheidung des 1. Strafsenats wird allerdings vor allem in denjenigen Bereichen erhebliche Bedeutung erlangen, in denen Unternehmen – wie in der heutigen, modernen Wirtschaft vielfach – mit externen (Fremd-)Dienstleistern zusammenarbeiten. Nicht selten schwierige Abgrenzungsfragen, deren Ergebnis vielfach kaum absehbar ist, ergeben sich hier nicht nur, aber vor allem dann, wenn diese auf dem Firmengelände bzw. „im Betrieb“ des Auftraggebers tätig werden (müssen).[23]

Vergleichbares gilt im Bereich des sog. crowdworkings, d.h. wenn die Vergabe bzw. Auslagerung von bestimmten Arbeiten durch einen Auftraggeber (crowdsourcer) an eine regelmäßig unbestimmte Menge von Menschen (crowd) erfolgt.[24] Die Aufgaben (Aufträge) werden bei dieser Form des Fremdpersonaleinsatzes (außerhalb des Unternehmens) „auf eine Internetplattform gestellt“, d.h. hier veröffentlicht und inhaltlich näher definiert. In einer aktuellen Pressemitteilung des LAG München vom 4.12.2019[25] teilt das Gericht mit, es habe entschieden, dass in einem Fall des crowdworkings jedenfalls zwischen dem dortigen Kläger (crowdworker) und der Beklagten (der Betreiberin der Internetplattform) kein Arbeitsverhältnis bestehe. Die Beklagte, ein Unternehmen, das als Dienstleister für Markenhersteller Kontrollen der Warenpräsentation im Einzelhandel durchführt, hat diese Aufträge über eine „crowd“ vergeben, wobei die Mitglieder der „crowd“ über eine „Basisvereinbarung“ zur Teilnahme berechtigt waren. Nicht entschieden hat das LAG München allerdings die weitergehende Frage, ob durch das Anklicken eines (einzelnen) Auftrages auf der Internetplattform ein (befristetes) Arbeitsverhältnis begründet wurde. Überdies wurde gegen die bereits zweitinstanzliche Entscheidung die Revision zum BAG ausdrücklich zugelassen.

Das letztgenannte Beispiel etwa unterstreicht – mit Blick auf § 266a StGB und seine subjektive Tatseite – die auch vom Senat erwähnte Schwierigkeit und Ungewissheit der Abgrenzung, ob gerade bestimmte Formen des Einsatzes von Fremdpersonal eine Sozialversicherungspflicht begründen (oder nicht). Selbst den zuständigen Fachgerichten fällt die zutreffende rechtliche Einordnung (im Rahmen der Gesamtbewertung in derartigen Fällen häufig schwer). Die Entscheidung des 1. Strafsenats betrifft nun in erster Linie das Wissenselement des bedingten Vorsatzes. Allerdings wird „die Möglichkeit“ einer Sozialversicherungspflicht im Sinne dieses (kognitiven) Vorsatzelements häufig nur der Anlass sein, insoweit eine – fundierte – rechtliche Überprüfung zu veranlassen, die, wie der Senat einräumt, nicht immer zu zwingenden Ergebnissen führen kann oder muss; jedenfalls vielfach nicht zu Ergebnissen, die eine Sozialversicherungspflicht mit letzter Sicherheit ausschließen, so dass ein „Restrisiko“ bzw. eine „Restmöglichkeit“ der Sozialversicherungspflicht verbleibt.

Auch wenn der subjektive Tatbestand von § 266a StGB (wie § 370 AO) keine Absicht im Sinne eines direkt vorsätzlichen Verhaltens erfordert, ist auch dem bedingten Vorsatz ein voluntatives Element immanent. Dies gilt sowohl für die Steueranspruchstheorie als auch für den Vorsatz im Rahmen von § 266a StGB. In derartigen Konstellationen gewinnt das voluntative Vorsatzelement („billigend in Kauf nehmen“ bzw. „auch verkürzen will“) besondere Bedeutung. Entscheidend ist die Frage, ob auch bestimmte Handlungssituationen bzw. die den Entscheidungsprozess im Einzelfall prägenden Umstände (hierzu gehören auch Compliance-Maßnahmen) allein geeignet sind, den (bedingten) Vorsatz auszuschließen, selbst wenn der Unternehmer einen Steuer-bzw. Sozialversicherungsanspruch noch für möglich hält.[26] Der Senat führt etwa aus, dass für die Vorsatzfeststellung im Einzelfall auch relevant sei, ob der Betroffene „Erkundigungspflichten“ verletzt habe, weil dies auf eine „Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeuten“ könne.[27] Mit dieser Formulierung ist jedenfalls nicht allein das Wissenselement, sondern auch – und vielleicht in erster Linie – das Willenselement (bedingten) Vorsatzes angesprochen.

Es ist zu wünschen, dass die Rechtsprechung auch insoweit Richtlinien formuliert, die – vergleichbar anderen Bereichen der Strafrechts, etwa des Kapitalstrafrechts – die Anforderungen an dieses (voluntative) Vorsatzelement auch für Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, etwa für § 266a StGB, näher konturieren. Es erscheint auch in derartigen Fällen jedenfalls nicht durchweg angemessen, Sachverhalte, in denen Unternehmer zwar geeignete Maßnahmen rechtlicher Prüfung ergreifen, ohne aber im Ergebnis etwa das Risiko („die Möglichkeit“) einer Sozialversicherungspflicht endgültig ausschließen zu können, ausschließlich auf Ebene der Schuld (§ 17 StGB) zu behandeln. Hinzu kommt: Die Gefahr einer (im Ergebnis) rechtlich unzutreffenden Subsumtion (oder anders gewendet, die Schwierigkeit das Ergebnis der Gesamtbewertung aller im Einzelfall maßgeblichen hinreichend sicher absehen zu können) begründet in erster Linie die im Sozialrecht verankerte Vorgabe mit generalklauselartiger Weite, die eine umfassende Gesamtabwägung (im Einzelfall unterschiedlich zu gewichtender Kriterien) erforderlich macht.[28] Es ist also mit in den Blick zu nehmen, dass nicht zuletzt die wenig konkreten gesetzlichen Vorgaben, eine hinreichend sichere Abgrenzung vielfach stark erschweren.

Über die vorliegende Entscheidung hinaus besteht weiter Grund zur Zuversicht: In einem kürzlich veröffentlichten Vorlagebeschluss an die übrigen Strafsenate hat der 1. Strafsenat dargelegt, dass er beabsichtigt, die bisherige Rechtsprechung zur Verjährung von Fällen des § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB zu korrigieren.[29] Nach bisher ständiger Rechtsprechung trat in diesen Fällen die Tatbeendigung (und damit der Verjährungsbeginn – § 78a S. 1 StGB) erst ein, wenn die Beitragspflicht erloschen ist. Letzteres erfolge (durch Verjährung) erst 30 Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Ansprüche entstanden sind (§ 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV), was zu einer strafrechtlichen Frist für die Verfolgungsverjährung von 35 bis 36 Jahren führte. Der Senat beabsichtigt nunmehr, den Zeitpunkt der Tatbeendigung (auch in den Tatbestandsvarianten echter Unterlassung – § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB) wie im Fall des § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB (damit für § 266a StGB einheitlich) bereits mit dem „Verstreichenlassen des Fälligkeitszeitpunkts“ anzunehmen,[30] so dass die Verjährungsfrist (5 Jahre – § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) bereits zu diesem Zeitpunkt zu laufen beginnt. Der Senat strebt damit an, in seinen Worten, eine „Unwucht“ im Rahmen von § 266a StGB, namentlich im „Verjährungssystem“ zu beseitigen.[31] Die Fortsetzung einer insgesamt erfreulichen Entwicklung im Arbeitsstrafrecht, speziell der zentralen Vorschrift – § 266a StGB.

[1] BGH, Beschl. v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18 = NJW 2019, 3532 m. Anm. Brand; vgl. auch Ziegelmeier NZS 2020, 38.

[2] BGH, Beschl. v. 24.1.2018 – 1 StR 331/17 = NStZ 2019, 146 m. Anm. von Galen/Dawidowicz = StV 2019, 38 m. Anm. Habetha = wistra 2018, 339 m. Anm. Rode/Hinderer.

[3] BGH NStZ 2019, 146, 147 f. (Tz. 13 bis 15); hierzu Habetha StV 2019, 39, 40.

[4] St. Rspr., vgl. BGH NStZ 2019, 146, 148, Tz. 14 m.w.N.; vgl. auch Klein-AO/Jäger, 13. Aufl. 2016, § 370 Rn. 171; HK-Steuerstrafrecht/Schott, 2016, § 370 Rn. 263.

[5] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 17).

[6] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 18).

[7] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 18).

[8] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 19).

[9] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 19) mit Hinweis auf BGH NStZ 2010, 337 und BGH NStZ 2014, 321; m.w.N zur bisherigen Rspr.

[10] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 20).

[11] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 20).

[12] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 20).

[13] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 21 f.).

[14] Etwa von Galen/Dawidowicz NStZ 2019, 148; Habetha StV 2019, 39, 40 f.; Schneider/Rieks HRRS 2019, 62; Floeth NStZ-RR 2018, 182; Rode/Hinderer, wistra 2018, 341 f.

[15] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 22).

[16] So noch der 1. Strafsenat in BGH NStZ 2012, 160, 161 (Tz. 21).

[17] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 22).

[18] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 22); vgl. zur Vorsatzfrage im Einzelnen etwa Klötzer-Assion in: Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold, Contractor Compliance, 2016, 4. Teil, 4. Kap. Rn. 15 ff.

[19] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 24) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG, namentlich BSG NJW 2018, 2662.

[20] Etwa Habetha StV 2019, 39, 41; Floeth NStZ-RR 2018, 180, 184; Rode/Hinderer, wistra 2018, 341, 342.

[21] Die nachfolgend aufgezählten Kriterien aus BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 25 f.).

[22] Hierzu Brand NJW 2019, 3535, 3536.

[23] Vgl. zur Entscheidung des Senats Pelz, jurisPR-Compl 6/2019 Anm. 3.

[24] Im Einzelnen hierzu (crowdwork als Beispiel von „work on demand in Zeiten des Arbeitens 4.0“ Mahnhold in: Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold, Contractor Compliance, 2016, 7. Teil, Rn. 4 f.

[25] Pressemitteilung des LAG München vom 4.12.2019 zur Entscheidung LAG München, 4.12.2019 – 8 Sa 146/19).

[26] Hierzu Habetha StV 2019, 39, 41.

[27] BGH NJW 2019, 3532, 3533 (Tz. 26 a.E.) mit Hinweis auf BGH NStZ 2012, 160 (Tz. 27).

[28] Hierzu und zu den Konsequenzen einer „Statusverfehlung“ durch den Rechtsanwender Klötzer-Assion in: Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold, Contractor Compliance, 2016, 4. Teil, 4. Kap.

[29] BGH, Beschl. v. 13.11.2019 – 1 StR 58/19, BeckRS 2019, 34412.

[30] BGH, Beschl. v. 13.11.2019 – 1 StR 58/19 (etwa Tz. 8).

[31] Vgl. BGH, Beschl. v. 13.11.2019 – 1 StR 58/19 (Tz. 25).

Autorinnen und Autoren

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