Rübenstahl/Hahn/Voet van Vormizeele (Hrsg.), Kartell Compliance
I. Einleitung
Das Kartellrecht bietet eine Blaupause für die derzeit in vielen Rechtsbereichen zu beobachtende Entwicklung der staatlichen Sanktionspraxis bei Rechtsverstößen durch Unternehmen bzw. ihre Führungskräfte. Die aus kartellrechtlichen Verfahren bekannte (und bewährte?) Heranziehung des Unternehmensumsatzes im Rahmen der Bußgeldberechnung gewinnt auch im Wirtschaftsstrafrecht (vgl. VerSanG-E) und Datenschutzrecht (vgl. Art. 83 DSGVO) an Bedeutung. Das in der Bonusregelung des Bundeskartellamts niedergelegte Prinzip der Bußgeldreduktion bei umfassender Kooperation bei der Sachaufklärung ist auch den modernen Wirtschaftsstrafverfahren keinesfalls mehr fremd und soll in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Schließlich dürfen zivilrechtliche oder aufsichtsrechtliche Folgewirkungen auch im Strafverfahren keinesfalls ausgeblendet werden, auch wenn die Strafprozessordnung trotz des geltenden Legalitätsprinzips in der Praxis noch immer viel Raum für pragmatische Lösungen lässt. In gewisser Weise nähern sich die verschiedenen Rechtsbereiche, die man dem Oberbegriff des Wirtschaftssanktionenrechts unterordnen könnte, aneinander an.Dies darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen im Kartellrecht und im Wirtschaftsstrafrecht in vielerlei Hinsicht signifikant unterscheiden, kulturell gewachsene Unterschiede in der alltäglichen Herangehensweise der beteiligten Praktiker (sowohl auf anwaltlicher als auch auf behördlicher und gerichtlicher Seite) bestehen und die Interessen der Betroffenen (Unternehmen und Individualpersonen) nicht selten auseinander laufen. All dies wäre irrelevant, könnte man in der kartellrechtlichen Beratungspraxis eine saubere Abgrenzung hin zum Wirtschaftsstrafrecht vollziehen. Dies wird indes jedenfalls im Kartellordnungswidrigkeitenrecht aufgrund der Komplexität der unternehmerischen Lebensrealitäten regelmäßig unmöglich sein. So ist nicht nur das maßgebliche Verfahrensrecht eng mit den Regelungen der StPO verknüpft (z.B. bei Themen wie Durchsuchung und Beschlagnahme oder den von der Staatsanwaltschaft geführten Verfahren vor deutschen Oberlandesgerichten). Die Erfahrung lehrt, dass die Verwirklichung eines Kartellordnungswidrigkeitentatbestands nicht selten mit der Begehung von Straftaten (z.B. §§ 264, 298, 299 StGB, § 23 GeschGehG) einhergeht, was zu parallelen Ermittlungen von Kartellbehörden und Staatsanwaltschaften führt.
II. Inhalt
Es ist ein besonderer Verdienst der Herausgeber des Handbuches „Kartell Compliance – Prävention – Investigation – Corporate Defense – Remediation“, die komplexen Wechselwirkungen der beiden Rechtsbereiche – Kartellrecht und Wirtschaftsstrafrecht – erkannt und zahlreiche ausgewiesene Experten aus beiden Fachrichtungen für diesen neuen „Klassiker“ gewonnen zu haben. Dieses Handbuch vereint eine fundierte Darstellung der relevanten Normen des materiellen Kartell- und Wirtschaftsstrafrechts und präsentiert gekonnt sowohl die Probleme der als auch Lösungsansätze für die rechtliche Beratung in kartell (straf) rechtlichen Sachverhalten. Hierbei hält der Titel „Kartell Compliance“ mehr als er verspricht. So begnügen sich die Herausgeber nicht mit der Darstellung der präventiven Compliance-Beratung, sondern zeigen dem Leser detailliert auf, welche Risiken in kartellrechtlichen Problemlagen schlummern und wie diese durch effektive Compliance-Systeme umschifft werden können und eine Verteidigung im Krisenfall organisiert werden kann. Damit eignet sich das Handbuch hervorragend sowohl für Compliance Officer bzw. Inhouse-Juristen als auch für kartellrechtlich und wirtschaftsstrafrechtlich beratende Rechtsanwälte. Daneben bietet es für interessierte Wissenschaftler, Kartellbehörden und Staatsanwaltschaften einen spannenden Blick hinter die Kulissen der anwaltlichen Krisenberatung. Das Handbuch ist von Praktikern für Praktiker verfasst und zeichnet sich, wie sich bereits anhand der Herausgeberschaft erahnen lässt, dadurch aus, dass die verschiedenen Perspektiven – Kartellrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Compliance – gleichberechtigt nebeneinander stehen und dadurch die Tiefe erhalten, die angesichts der Komplexität der Materie erforderlich ist. Dabei wirft das Handbuch auch einen Blick über die Landesgrenzen, was angesichts der umfangreichen und in Teilen divergierenden Handlungsanforderungen für international aufgestellte Unternehmen von zentraler Bedeutung für eine angemessene Risikoeinschätzung ist.Das Handbuch gliedert sich in fünf Teile: Der erste Teil erläutert die besonderen materiell-rechtlichen Risikofelder der Kartell-Compliance. Hier werden in einem ersten umfangreichen Kapitel das Kartellverbot sowie das Verbot horizontaler Wettbewerbsbeschränkungen erläutert. Im folgenden 2. Kapitel werden im Detail vertikale Vereinbarungen und die Bedeutung der Vertikal-GVO für das deutsche und europäische Kartellrecht erläutert. Das 3. Kapitel befasst sich im Schwerpunkt mit dem Missbrauch von Marktmacht und Sanktionsrisiken bei einseitigen Verhaltensweisen. Das 4. Kapitel ist schwerpunktmäßig der Fusionskontrolle gewidmet. Hierbei werden sowohl für die europäische als auch für die deutsche Fusionskontrolle sowohl die maßgeblichen materiellen Anforderungen als auch die relevanten Verfahren dargestellt. Diese Ausführungen sind insbesondere für den Leser mit strafrechtlichem Fokus aufschlussreich, da dieser sein Augenmerk in der Beratungspraxis häufig auf das klassische Kartell legen dürfte. Das 5. und 6. Kapitel runden den ersten Teil des Handbuchs ab und widmen sich dem materiellen Strafrecht. Hierbei wird zunächst (5. Kapitel) das Kernkartellstrafrecht in den Blick genommen und detailliert auf die strafrechtlichen Risiken von Submissionsabsprachen eingegangen. Daneben werden die in der forensischen Praxis bedeutenden Strafbarkeitsrisiken des (Submissions-)Betrugs dargestellt. Das 6. Kapitel gibt einen Überblick über typische Begleit- und Anschlussdelikte in kartellrechtlichen Sachverhalten, die gerade dem strafrechtlich nicht geschulten Berater nicht stets präsent sein dürften. Dabei werden neben der Untreue (§ 266 StGB) auch Korruptionsdelikte sowie die – bei einem Informationsaustausch nicht selten mitverwirklichte – Verletzung von Geschäftsgeheimnissen (§ 23 GeschGehG) erläutert. Zudem wird auf Bestrebungen, die Regelungen zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte anzuwenden, eingegangen.Der 2. Teil widmet sich den zentralen Verfahren und Rechtsfolgen. Auch hier wird zunächst mit großer Detailtiefe die Verteidigung in Bußgeldverfahren bei Kartellverstößen in Deutschland (7. Kapitel) dargestellt, wobei sowohl das materielle Recht als auch der Verfahrensgang genau geschildert werden. Dem schließen sich im 8. Kapitel Ausführungen zur Verteidigung in Bußgeldverfahren der Europäischen Kommission an. Auch hier wird der Verfahrensgang genau geschildert, sodass sich sowohl Fachleute als auch Inhouse-Juristen und Strafrechtler ein genaues Bild der dortigen Ermittlungen machen können. Das 9. Kapitel widmet sich dann dem Kartellstrafverfahren in Deutschland. Dabei begnügen sich die Autoren nicht nur mit der Darstellung der Verfahrensabläufe in einem Individualstrafverfahren, sondern schildern auch die Besonderheiten paralleler Ermittlungen von Kartellbehörde und Staatsanwaltschaft. Zudem widmen sie einen gesamten Abschnitt der Verteidigung bei drohenden Unternehmensgeldbußen für nicht-kartellrechtliche Delikte. Während in der Vergangenheit regelmäßig das Verhältnis von kartellrechtlicher Unternehmensverteidigung und strafrechtlicher Individualverteidigung im Vordergrund stand, dürfte diese Thematik mit den angekündigten Veränderungen im Unternehmensstrafrecht und der 2017er Reform der Vermögensabschöpfung zunehmend an Bedeutung gewinnen und die Komplexität der Verteidigung im Kartellrecht noch einmal erhöhen. Das. 10. Kapitel vollzieht einen Perspektivenwechsel und betrachtet das Verfahren nicht aus der Perspektive des anwaltlichen Beraters, sondern beleuchtet Kartellstraf- und Kartellbußgeldverfahren aus der Sicht der Staatsanwaltschaft. Hier werden in der Praxis zentrale Probleme, wie z.B. der Aktenführung und des Informationsaustauschs weiter beleuchtet. Das 11. Kapitel widmet sich dann den für das Kartellverfahren typischen konsensualen Herangehensweisen in deutschen und europäischen Kartellverfahren. Dabei wird das Kronzeugenprogramm in Deutschland und in der EU ebenso dargestellt wie die Möglichkeit von Settlement-Verfahren. Im 12. und 13. Kapitel werden Aspekte der internationalen Zusammenarbeit beleuchtet. Im 12. Kapitel wird die Amtshilfe innerhalb der EU und mit Drittstaaten in kartellrechtlichen Verfahren erläutert. Dem schließen sich Ausführungen zur Rechtshilfe in Strafsachen an. Das 14. Kapitel befasst sich ausführlich mit Fragen der Bußgeldbemessung in Deutschland und Europa, einer für die Beratungspraxis zentralen Fragestellung, die sowohl die Präventivberatung als auch die Strategie im Krisenfall maßgeblich beeinflusst. Dies gilt ebenso für drohende Schadensersatzklagen, die im 15. Kapitel analysiert werden. Die Risiken einer Inanspruchnahme durch Kartellgeschädigte sind ebenfalls von zentraler strategischer Bedeutung, beeinflussen diese in der Praxis regelmäßig die Frage, ob eine einvernehmliche Lösung mit Erlass eines Kurz-Bescheids möglich ist. Abgeschlossen wird der Teil durch Ausführungen zu Regressansprüchen der Gesellschaft sowie zu versicherungsrechtlichen Aspekten (16. Kapitel).Der dritte Teil adressiert die konkrete Reaktion auf eine Krise in der Praxis und ist insbesondere für Inhouse-Juristen von herausragender Bedeutung. So werden im 17. Kapitel die Realitäten und Rechtsgrundlagen behördlicher Durchsuchungen erläutert sowie Verhaltensregeln an die Hand gegeben. Das folgende 18. Kapitel widmet sich der Frage der internen Untersuchung, die in kartellrechtlichen Sachverhalten aufgrund der Möglichkeiten der Kronzeugenregelung regelmäßig unter besonderem (Zeit-)Druck zu erfolgen hat und daher möglichst reibungslos und umfassend zu erfolgen hat. Um eine derartige Untersuchung zeitnah durchführen zu können und schnell belastbare Ergebnisse zu erlangen, wird es in der Praxis auf eine umfassende Kooperation der Mitarbeiter ankommen. Hier können Amnestieprogramme, die im 19. Kapitel dargelegt werden, zielführend sein. Neben den arbeitsrechtlichen und vergaberechtlichen Implikationen sind regelmäßig auch gesellschaftsrechtliche Fragestellungen zu klären. So stellt sich die Frage, welches „Unternehmen“ zur Kooperation verpflichtet ist (20. Kapitel). Daneben ist regelmäßig zu prüfen, ob Publikationspflichten bestehen oder ggf. Rückstellungen zu bilden sind (21. Kapitel). Zudem erfordert ein derartiger Krisensachverhalt eine professionelle Krisenkommunikation (22. Kapitel).Der vierte Teil widmet sich dem Aufbau eines CMS-Systems. Dabei werden neben den allgemeinen Anforderungen (23. Kapitel) auch die besonderen kartellspefizischen Risiken beleuchtet (24. und 25. Kapitel). Dabei wird auch die besondere Rolle des Compliance-Verantwortlichen erläutert (26. Kapitel). Der Abschnitt wird abgerundet mit Ausführungen zu Hinweisgebersystemen und Ombudspersonen (27. Kapitel). Insbesondere in kartellrechtlichen Sachverhalten kommen derartigen Systemen bekanntlich eine große Bedeutung zu. Jeder Informationsvorsprung der Unternehmensleitung gegenüber anderen, an einem Kartell beteiligten Unternehmen kann zu signifikanten Vorteilen bei der Anwendung von Kronzeugenregelungen führen.Der letzte Teil widmet sich den Grundlagen der Kartellrechts-Compliance in anderen Jurisdiktionen. Dies soll es den internen und externen Rechtsberatern ermöglichen, Risiken zu erkennen, die sich aus der grenzüberschreitenden Tätigkeit des Unternehmens ergeben. Hierzu erfolgt eine grundlegende Einführung (28. Kapitel) sowie länderspezifische Ausführungen zur Schweiz (29. Kapitel), Österreich (30. Kapitel), Frankreich (31. Kapitel), Italien (32. Kapitel), Spanien (33. Kapitel), den USA (34. Kapitel), China (35. Kapitel), Russland (36. Kapitel) sowie Brasilien (37. Kapitel).
III. Zusammenfassung
Das Handbuch Kartell Compliance beleuchtet alle wesentlichen Facetten des deutschen und europäischen Kartellrechts und stellt eine in der kartellrechtlichen Literatur ansonsten vernachlässigte Verbindung zu den aktuellen Entwicklungen im Wirtschaftsstrafrecht dar. In der Beratungspraxis ist die Verzahnung der Rechtsbereiche längst Realität. Dem Handbuch gelingt es, dieses beträchtliche Praxis- und Fachwissen auf rund 1.100 Seiten zu bündeln.