Gabriele L. Stark: Die strafbefreiende Selbstanzeige gem. § 371 Abs. 1 AO im Rahmen von Mehrpersonenverhältnissen
Duncker & Humblot, Berlin 2018, 340 Seiten, 89,90 Euro.
Die Rechtslage scheint auf den ersten Blick klar zu sein: An die Selbstanzeige eines Beteiligten (also im Rahmen von „Mehrpersonenverhältnissen“) sind grundsätzlich dieselben Anforderungen zu stellen wie an diejenige eines Alleintäters. Nach den allgemeinen Grundsätzen hat der Beteiligte unter Berücksichtigung des Vollständigkeitsgebots derart greifbare Angaben zu machen, dass die Finanzbehörde ohne weitere langwierige Ermittlungen in die Lage versetzt wird, die Steuer zutreffend zu veranlagen. Damit hat der Beteiligte also einerseits seinen eigenen Tatbeitrag offenzulegen und andererseits das mit der Haupttat verwirklichte Hinterziehungsdelikt berichtigend darzustellen (vgl. nur MüKo-StGB/Kohler, 3. Aufl. 2019, AO § 371 Rn. 121 mwN).
Bei näherer Betrachtung der Arbeit von Stark wird jedoch deutlich (insb. S. 147 ff.), dass diese allgemeinen Grundsätze insbesondere wegen der teils auftretenden Unmöglichkeit des einzelnen Beteiligten zur Abgabe einer vollständigen Erklärung zu erheblichen Härten führen können. Schritt für Schritt leitet die Verfasserin einen Lösungsansatz zur Beseitigung dieser Härten ab. Im Einzelnen:
Den als „Allgemeines“ benannten 1. Teil ihrer Arbeit (S. 21-146) beginnt Stark – nach einer kurzen Einleitung (S. 21-22) mit der Darstellung des Wortlauts (S. 23-25) und der rechtshistorischen Grundlagen (S. 25-39) des § 371 AO. Den individuellen Vorwurf zu formulieren, dass diese Ausführungen nicht erst dann erfolgen, wenn es für die Bearbeitung des Kernthemas (Selbstanzeige bei Mehrpersonenverhältnissen) notwendig wird, würde Stark nicht gerecht werden. Es scheint vielmehr mittlerweile state of the art rechtswissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten zu sein, dem Werk einen rechtshistorischen Abriss voranzustellen. Es spricht für die Verfasserin, dass sie diesen Abschnitt mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung der historischen Auslegung beginnt (S. 25) und damit zeigt, dass sie die Ausführungen nicht im luftleeren Raum stehen lassen möchte, sondern noch für Ihre späteren Gedanken benötigen wird.
Sodann grenzt die Verfasserin die Selbstanzeige von der Korrektur unrichtiger Erklärungen gemäß § 153 AO ab (S. 39-41): Die zumindest bedingt vorsätzliche Abgabe der fehlerhaften Angaben als Ausgangsposition für eine strafbefreiende Selbstanzeige gemäß § 371 AO gegenüber unvorsätzlicher Abgabe der fehlerhaften Angaben in den Fällen von § 153 AO. Dabei weist Stark auf die Abgrenzungsschwierigkeiten im Einzelfall hin (S. 40 f.).
Die Grundlagen ihrer Untersuchung führen Stark sodann zur Darstellung des Meinungsstreits um die Rechtsnatur der Selbstanzeige (S. 41-45), wobei sie sich der herrschenden Meinung anschließt, die in § 371 Abs. 1 AO einen persönlichen Strafaufhebungsgrund (und gerade keinen persönlichen Strafausschließungsgrund) sieht (S. 42). Eng damit hängt die Frage nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift zusammen, welcher die Verfasserin sich anschließend widmet (S. 45-64). Die verschiedenen Ansichten („fiskalische“, „kriminalpolitische“, „gemischtfiskalisch–kriminalpolitische“ und „strafrechtliche“) werden erörtert. Stark kommt zu dem vermittelnden Ergebnis, dass dem Regelungsgehalt von § 371 Abs. 1 AO zu entnehmen ist, dass „sowohl fiskalische, kriminalpolitische als auch strafrechtliche Ziele“ verfolgt werden: „Der Sinn und Zweck der Selbstanzeige liegt in der durch die Wiedergutmachung der Steuerhinterziehung liegenden Vermehrung des Steueraufkommens bei gleichzeitiger Rückkehr des Steuerhinterziehers in die Steuerehrlichkeit“ (S. 64).
In beeindruckender Tiefe behandelt die Verfasserin sodann die Selbstanzeige als Teil des Strafrechtssystems und untersucht die Rechtfertigung der gemäß § 371 AO bewirkten Steuerfreiheit (S. 64-134). Dazu formuliert Stark das – überzeugende – Ergebnis (S. 134): „Die Rechtfertigung der Strafbefreiung des Selbstanzeigeerstatters ergibt sich aus der mit der Selbstanzeige verbundenen Anreizfunktion sowie der vollständigen Wiedergutmachung der Steuerhinterziehung. Wie gezeigt wurde, werden die spezial- und generalpräventiven Gründe der Strafandrohung durch die wirksame Selbstanzeige auch erfüllt, sodass es einer Bestrafung des Steuerhinterziehers nicht mehr bedarf.“
Im letzten Abschnitt unter „Allgemeines“ schlägt Stark sodann den Bogen vom Grundsätzlichen der Regelung § 371 AO hin zu ihrem Dissertationsprojekt – den Mehrpersonenverhältnissen (S. 134-146). Sie legt dar, dass der Begriff des Mehrpersonenverhältnisses sich weder im StGB noch in der AO findet; vielmehr käme es bislang auf solche Verhältnisse nur im Bereicherungsrecht und Zwangsvollstreckungsrecht an (S. 134). Nach Stark soll der Begriff im Zusammenhang mit ihrer Arbeit als Kehrseite zur Tatbestandsverwirklichung durch mehrere Personen verstanden werden: Mittäterschaft, mittelbare Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe (S. 135). Folglich beschreiben Mehrpersonenverhältnisse „Personenkonstellationen, in denen unter Beteiligung mehrerer Personen eine Steuerhinterziehung begangen wurde und in denen durch Erstattung der Selbstanzeige nach § 371 AO Straffreiheit für sämtliche oder für einen Teil der beteiligten Personen erlangt werden soll“ (S. 135).
Den 2. Teil, „Besonderes“, beginnt die Verfasserin mit einer ausführlichen Bestandsaufnahme der inhaltlichen Anforderungen der Selbstanzeige gemäß § 371 Abs. 1 AO im Rahmen von Mehrpersonenverhältnissen (S. 147-276). Dabei behandelt Stark zunächst überblicksartig die tatbestandsmäßigen Handlungen „berichtigen“, „ergänzen“ und „nachholen“ von Angaben (S. 149-167). Sie richtet danach ihr Augenmerk auf das Vollständigkeitsgebot (S. 170-276). Die Anforderungen, denen die Berichtigung im Rahmen eines Mehrpersonenverhältnisses genügen muss, seien nach Stark nicht einheitlich für alle Tatbeteiligten zu bestimmen (S. 167). Diese Überlegungen bilden den Kern ihrer Arbeit. Lediglich der bereits vor der Ausführung der Steuerhinterziehung ursprünglich oder gemäß §§ 34 Abs. 1, 35 AO steuerpflichtige Tatbeteiligte hat nach Stark eine dem Vollständigkeitsgebot genügende Berichtigungserklärung abzugeben, denn für diesen ist die vollständige Erklärung regelmäßig praktisch möglich. Die Erklärungen der übrigen Tatbeteiligten sollen nicht dem Vollständigkeitsgebot unterliegen (S. 276). Vielmehr gelten für diese nach der Verfasserin infolge einer teleologischen Reduktion drei – abgestufte – Anforderungen:
- Der Mittäter gäbe danach bereits dann eine tatbestandsmäßige Berichtigung ab, „wenn er dem Finanzamt mitteilt, in welchem Steuerverhältnis Besteuerungsgrundlagen nachzuerklären sind, wer steuerpflichtig in Bezug auf diese Steuern ist und welcher Steuerart diese Steuern angehören“ (S. 176).
- Für den Anstifter sei es bereits ausreichend, „wenn er dem Finanzamt mitteilt, wer die Person des Steuerpflichtigen, in dessen Steuerschuldverhältnis Steuern verkürzt wurden bzw. ungerechtfertigte Steuervorteile erlangt wurden, ist und zu welcher Steuerart diese Angaben gehören“ (S. 176).
- Dem Gehilfen verlangt die Konstruktion Starks lediglich ab, dass er „die Person des Steuerpflichtigen, in dessen Steuerschuldverhältnis Steuern hinterzogen wurden“, mitteilt (S. 176).
Nach Stark soll wegen der dogmatischen Einordnung als persönlicher Strafaufhebungsgrund weder die Strafbefreiung (S. 279) noch die Berichtigungshandlung eines Tatbeteiligten (S. 285) zugerechnet werden. Insoweit bewegt sich die Verfasserin – aus guten Gründen – auf dem Boden der herrschenden Meinung. Daraus folgt, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Personen nur dann in den Genuss einer strafbefreienden Selbstanzeige gelangen, wenn diese entweder in koordinierter Weise zeitgleich eigene Selbstanzeigen erstatten oder sich der Selbstanzeige eines Beteiligten anschließen (vgl. BGH NJW 2005, 2721; Scharenberg NZWiSt 2020, 233). An dieser Stelle scheint jedoch auch eine erhebliche Schwäche der dreistufigen Theorie der Verfasserin angesprochen zu sein: Denn das Herabsenken der Anforderungen an eine Berichtigungshandlung (insb. eines Gehilfen) dürfte im potenziellen Wettlauf der verschiedenen Beteiligten zu deutlichen Beschleunigungen und weniger gemeinsamem Vorgehen führen. Denn nachdem der erste Beteiligte die Berichtigung abgegeben hat, sind die übrigen Tatbeteiligten von einer Selbstanzeige ausgeschlossen. Der praktische Anwendungsbereich der Selbstanzeige könnte damit erheblich verringert werden.
Die praxis-orientierte Dissertationsschrift von Stark zeichnet sich durch einen sehr ausführlichen ersten (allgemeinen) Teil aus, dessen Überlegungen zum Regelungszweck der Selbstanzeige nach § 371 AO sowie zur Rechtfertigung der durch die Norm gewährten Strafbefreiung im zweiten (besonderen) Teil wieder aufgegriffen werden und in konkrete Auslegungsvorschläge zu einer teleologischen Reduktion der Norm im Falle von Mehrpersonenverhältnissen an einer Steuerhinterziehung umgemünzt werden. Auf der Grundlage des von Stark bevorzugten strafrechtlichen Rechtfertigungsansatzes, wonach mit der Selbstanzeige eine Wiedergutmachung des Handlungs- und Erfolgsunrechts der begangenen Steuerhinterziehung geleistet wird und durch § 371 AO dieser Wiedergutmachungsleistung strafrechtlich Rechnung getragen wird, leuchtet es auch ein, dass einem Gehilfen aufgrund dessen weniger unrechtsintensiven Tatbeitrags (S. 260) auch nur weniger an Wiedergutmachung für eine Strafbefreiung abverlangt wird als einem Täter oder Anstifter zu derselben Tat.