Böhm (Hrsg.): Die Bedeutung von Vertrauen in der Verteidigungsbeziehung unter besonderer Beachtung der Pflichtverteidigung
Nomos, Baden-Baden 2021, 307 Seiten, ISBN 978-3-8487-7976-5, 82,00 Euro
Schon vorab sei gesagt, dass es sich um eine höchst interessante, lesenswerte und in ihrer Bedeutung sicher nicht zu unterschätzende Arbeit handelt. Die Materie ist bereits aufgrund ihrer Interdisziplinarität äußerst komplex; gleichzeitig regt die tiefgreifende und umfassende Darstellung den Praktiker auch zu einer eigenen Reflexion über seine Rolle und sein Verhalten gegenüber den Verfahrensbeteiligten an. Der Autor teilt die Arbeit neben einer Hinleitung zur Problematik (Kapitel 1) und einer Schlussbetrachtung (Kapitel 4) im Wesentlichen in einen Teil, in welchem er aus interdisziplinärer Perspektive den Vertrauensbegriff konkretisiert (Kapitel 2) und einen anderen, in welchem er dieses Vertrauen in einen rechtlichen Rahmen importiert (Kapitel 3).
Kapitel 1: Das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem: Basis effektiver und Kernstück bestellter Verteidigung (S. 21 – 47)
Zu Beginn der Abhandlung führt der Autor zu der von ihm im weiteren Verlauf behandelten Problematik hin. Er unterscheidet dabei zwischen Wahl- und Pflichtverteidigung; eine Unterscheidung, die sich durch die gesamte Abhandlung hindurchziehen wird. Eine Skizzierung des verfassungsrechtlichen Rahmens und des Institutes der Pflichtverteidigung im Verhältnis zur Wahlverteidigung ist ebenso Gegenstand des ersten Kapitels wie weitere Ausführungen zum Fair-trial-Grundsatz, auf welchem das Vertrauen zwischen Beschuldigtem und Verteidiger ebenso fußt. Nachdem der Autor das Vertrauen als Schlüsselelement effektiver Verteidigung ausgemacht hat (Seite 30), widmet er sich in dem folgenden Kapitel den rechtlichen und faktischen Gegebenheiten der Verteidigungstätigkeit. Die Unterscheidung zwischen Pflicht- und Wahlverteidigung im Hinblick auf das Vertrauen im Verteidigungsverhältnis wird hier aus mehreren Blickwinkeln betrachtet. So kann man einerseits die Frage stellen, ob der konkrete Mandant in der konkreten Situation einem Wahlverteidiger mehr vertraut als einem Pflichtverteidiger. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob ein Wahlverteidiger per se, auf Grund der strukturellen Gegebenheiten des RVG und der StPO vertrauenswürdiger ist als ein Pflichtverteidiger und inwieweit Defizite der Struktur der Pflichtverteidigung auf Defizite im Vertrauensverhältnis zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigten durchschlagen. All diesen Fragen geht der Autor der vorliegenden Dissertation nach und kommt am Ende des ersten Kapitels zu dem Ergebnis, das Vertrauen sei die Basis einer effektiven Verteidigung (Seite 48). Das Recht auf eine effektive Verteidigung seinerseits muss in einem rechtsstaatlichen Strafprozess Beachtung finden, was „in Anbetracht der Probleme der Pflichtverteidigung (rechtstatsächlicher Zustand, strukturelle Ungleichbehandlung, Abweichung vom normativen Leitbild eines wirkungsvollen gleichberechtigten Rechtschutzes), die allesamt Berührungspunkte mit dem Vertrauen aufweisen, […] durchaus bezweifelt werden [kann]“ (Seite 49).
Kapitel 2: Bedeutung von Vertrauen für die Verteidigung und das Strafverfahren (S. 50 – 107)
In dem zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit nähert sich der Autor zunächst dem Vertrauensbegriff (Teil A., S. 51 ff.), um diesen im Anschluss inhaltlich zu konkretisieren (Teil B., S. 59 ff.). Die inhaltliche Konkretisierung teilt sich wiederum in eine interdisziplinäre und eine systemtheoretische Analyse.
Während bei der Annäherung an den Vertrauensbegriff insbesondere dessen inhaltliche Diffusität im Vordergrund steht, folgt dem in Teil B. eine kurze Annäherung, zunächst aus dem Sprachgebrauch, der Psychologie und der Philosophie. Leider sind diese Ausführungen recht knapp ausgefallen und ein interessierter Leser könnte sich an dieser Stelle noch mehr Informationen wünschen. Insbesondere spieltheoretische Implikationen hätten hier mit einbezogen werden können und möglicherweise interessante Ansätze geliefert. Gleichfalls darf natürlich nicht verkannt werden, dass interdisziplinäre Betrachtungen im Rahmen juristischer Doktorarbeiten notwendigerweise zurücktreten müssen. Gerade deshalb ist die im Anschluss erfolgende umfangreiche und fruchtbarere Betrachtung der Systemtheorie und damit der Luhmann’schen Konzeption von Erwartungen und Vertrauen begrüßenswert. Luhmann definiert Vertrauen als notwendiges Instrument jedes Einzelnen um die Welt um sich herum zu strukturieren. Wir alle bauen Erwartungshaltungen auf („Ich werde nicht vom Blitz getroffen, wenn ich das Haus verlasse“) und das Zutrauen in die Richtigkeit dieser Erwartungshaltungen ist notwendig, um diese als „richtig“ und „wahrhaftig“ anzunehmen. Der Autor hält das Vertrauen des Beschuldigten in seinen Verteidiger wiederum für notwendig, um die – aus dessen Sicht wahrscheinlich oder zumindest vermutlich vorhandene – Komplexität des Strafverfahrens zu reduzieren. So hat eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem zur Folge, dass dieser die Geschehnisse um sich herum für kontrollierbar hält, die „Welt“ des Strafprozesses ist nicht (mehr) das um ihn herum bestehende Chaos (S. 79). Aus diesem Grund werde eine Vertrauensbeziehung – so der Autor – zu dem Verteidiger notwendig.
Der Beschuldigte muss seinem Verteidiger vertrauen, um die Komplexität auf ein beherrschbares Maß zu reduzieren. Wollte man die Überlegungen weiterspinnen, stellen sich weitere Fragen hinsichtlich des Bezugspunktes des Vertrauens: Vertraut der Einzelne in die Rolle der Verteidigung, die konkrete Person als Verteidiger, oder möglicherweise eher in die eigenen Erwartungen, welche sich wiederum auf den Verteidiger beziehen? Abhängig davon müsste der Beschuldigte wissen, wem er vertrauen kann. Der Autor stellt einen Vergleich mit einem Wüstenführer an, welcher einen der Wüste Unkundigen aus der Wüste herausführt (S. 75, 77). Die Person wäre alleine nicht aus der Wüste herausgekommen und bedurfte daher einer Hilfsperson. Was aber, wenn der Wüstenführer die Person noch tiefer in die Wüste hineinführt und sie dort aufgrund von Wassermangel stirbt, möglicherweise sogar obwohl sie vorher – ohne es zu wissen – bereits am Rand der Wüste war? Der Autor sieht dieses Problem natürlich ebenfalls und weist daher darauf hin, dass eine Chancenverbesserung nur bestehe, wenn man vernünftigerweise davon ausgehe, die helfende Person handele im Interesse des Wüstenunkundigen. Die Übertragung dieses Gedankens auf das Verhältnis von Beschuldigtem und Verteidiger drängt sich auf und ebenso die Frage, ob es in Situationen, in denen das Vertrauen auf die eigene positive Erwartung zur Komplexitätsreduktion gerade notwendig ist (hier insb. Wüste, Strafprozess), nicht obsolet wird über Vertrauen zu sprechen, weil man ja „gar nicht anders kann“?
Was Vertrauen überhaupt ist und auf wen oder was sich dieses in einem konkreten Fall bezieht, in einem hypothetischen Fall beziehen kann und ob und in welchem Maße dieses Vertrauen Berücksichtigung finden kann; sind Fragen, welche die Komplexität der vorliegenden Materie aufzeigen. Diese darzustellen ist dem Autor zweifellos gelungen.
Kapitel 3: Rechtliche Konkretisierung und Einordnung des Vertrauensverhältnisses zwischen (Pflicht-)Verteidiger und Beschuldigtem (s. 110 – 271)
Nachdem der Autor die Bedeutung des Vertrauensaspektes herausgearbeitet hat, widmet er sich in einem dritten Kapitel dem Inhalt und der Reichweite des normativ schutzwürdigen Vertrauens. Dazu ist „im Wesentlichen […] der Frage nachzugehen, wie das Recht die äußeren Grenzen des Vertrauens definiert und wie es beschaffen sein muss, damit innerhalb dieser Ränder in der Verteidigungsbeziehung […] Vertrauen entsteht, beibehalten und respektiert wird“ (Seite 110). So konkretisiert der Autor im Folgenden (Seite 111 ff.) das berechtigte Vertrauen des Mandanten in den Verteidiger. Bei diesem berechtigten, daher normativen, professionellen Vertrauen geht es um ein solches, welches an den Grenzen des strafbaren Verteidigerhandelns haltmacht. Hier wird noch einmal deutlich, dass das Recht selbst bestimmt, wie weit das schutzwürdige Vertrauen des Mandanten reicht. Hier zeigt sich die Wechselbezüglichkeit der beiden Institute: Das Vertrauen ist einerseits notwendige Bedingung einer effektiven Verteidigung und damit der Rechtsumsetzung, gleichfalls begrenzt das Recht seinerseits das Vertrauen zwischen Verteidiger und Beschuldigtem, indem es dem zulässigen Verteidigerhandeln und den darauffolgenden als berechtigt anzusehenden Erwartungshaltungen des Beschuldigten Grenzen setzt. Diese Grenzen auszuloten ist Gegenstand der weiteren Untersuchung. Sie beginnt damit ein Bild des Verteidigers am Beispiel der Strafnorm des § 258 StGB zu zeichnen. Denn an dieser Norm rankt sich die Frage, wann zulässiges Verteidigerverhalten in strafbares Verteidigerverhalten umschlägt und abzuleiten ist aus diesem Streit die Abgrenzung zwischen schützenswerten und nicht-schützenswerten Erwartungen des Beschuldigten. Die von dem Autor in den Blick genommenen Theorien – Parteiinteressentheorie und Organtheorie – lassen den Vertrauensaspekt außer Acht und können daher, so die Schlussfolgerung des Autors, für eine auf Vertrauen basierende Strafverteidigung nicht fruchtbar gemacht werden (S. 124 f.). Wesentliches Kriterium für die Darstellung der Aufgabe und der Funktion des Verteidigers, geradezu „ein neuer ‚Pflock‘“ (S. 126), sei eben gerade das Vertrauen des Beschuldigten, ebenso, wie das der weiteren Verfahrensakteure (S.140). Das berechtigte Vertrauen findet seine Grenze in dem unzulässigen Verteidigerhandeln; denn derlei Erwartungen können keine rechtliche Anerkennung finden.
In dem folgenden Teil B. wird dargestellt, wie eben dieses Vertrauen durch das Recht abgesichert wird und werden kann. Die dortigen Ausführungen können und sollen an dieser Stelle nicht im Detail wiedergegeben werden; es kann jedoch festgehalten werden, dass die Arbeit an dieser Stelle die rechtlichen Rahmenbedingungen rechtmäßigen Verteidigerhandelns in Gestalt der normativen Absicherung des Vertrauens darstellt. In dem zutreffenden Ergebnis (S. 198) stellt der Autor fest, dass das Strafverfahrensrecht das Vertrauen diversen Vorschriften zugrunde legt, es jedoch lediglich in § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Var. 1 StPO ausspricht. Die wohl wesentliche Erkenntnis des Autors darf aufgrund ihrer Relevanz für die Strafverteidigung hier nochmal vorgestellt werden: „Während der Verteidiger also durch Ge- und Verbote dazu angehalten wird, auf die Entstehung und Beibehaltung einer Vertrauensbeziehung hinzuwirken, erfährt das Vertrauen durch staatliche Institutionen hingegen nicht den erforderlichen Schutz. Durch die fehlende Einbeziehung selbstständiger Hilfspersonen in den Anwendungsbereich des § 53a StPO, die Überwachung von Anbahnungsgesprächen, dem herrschenden Verständnis von § 97 StPO und den ineffektiven Konsequenzen bzw. Sanktionen bei bewusst staatlicher Missachtung des Vertrauensverhältnisses zwischen Beschuldigtem und Verteidiger […], werden die Interessen der Strafrechtspflege in einer über die reine Funktionsfähigkeit einer effektiven Strafjustiz hinausgehenden Art und Weise überprivilegiert. Behandelt aber die Rechtspflege Normen, die den Schutz der Beschuldigtenrechte zum Inhalt haben, aufgrund dieser Gewichtung nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, werden die legitimationsbegründenden Rahmenbedingungen für die Herausbildung von Vertrauen in der Verteidigerbeziehung nicht gewährleistet“ (S. 198 f.). Im weiteren Verlauf widmet sich der Autor der Thematik des Vertrauens bei Beendigung des Pflichtverteidigungsverhältnisses (S. 199 – 269). Er untersucht an dieser Stelle die unterschiedlichen Absetzungsgründe eines Verteidigers, wobei er wie schon zu Beginn der Arbeit einen Fokus auf die Pflichtverteidigung legt. Ihm ist insofern zweifellos zuzustimmen, dass die Beendigungsgründe im Rahmen eines Pflichtverteidigungsverhältnisses bedeutend komplexer sind und auch in der Praxis nicht selten zu Unstimmigkeiten zwischen allen Verfahrensbeteiligten führen. Gleichfalls kommt er zu dem Ergebnis, dass das Vertrauen als zentraler Faktor der Legitimation im Strafverfahren nicht immer ausreichend Beachtung erfahre (Seite 269). Auch kommt der Autor leider zu dem wohl richtigen Schluss, dass das Interesse der Strafjustiz an einer effektiven Durchführung des Verfahrens zumeist in den Vordergrund gerückt werde und ein Beschuldigter, der von einem Pflichtverteidiger verteidigt wird, immer noch schlechter gestellt werde, als ein Beschuldigter, der sich einen Wahlverteidiger zur Seite stellen kann (Seite 272).
Kapitel 4: Schlussbetrachtungen
Am Ende fasst der Autor seine bisherigen Ergebnisse noch einmal zusammen und betont an dieser Stelle konsequenterweise nochmals die Bedeutung des Vertrauens für die Verfahrenssubjektivität des Beschuldigten und somit auch für die Umsetzung eines fairen Strafverfahrens. Er plädiert weiterhin für einen Paradigmenwechsel in der Beurteilung der Funktionen und Stellung des Verteidigers. „Es bedürfte des Bildes eines Verteidigers, der durch einseitige und vertrauensfundierte Interessensdurchsetzung eine effektive Verteidigung ermöglicht. Erst diese Verteidigung liegt sodann im öffentlichen Interesse, wodurch ein faires Verfahren garantiert werden kann“ (Seite 283).
Ergebnis
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass der Verteidiger weder Rechtspflegeorgan noch Mitgarant für die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sei. Als eher streng parteilicher und keinen Weisungen unterworfener Vertrauensbeistand habe er die Beschuldigteninteressen wirkungsmächtig zur Geltung zu bringen und dadurch die effektive Partizipation des Beschuldigten im Verfahren zu ermöglichen, von der die Legitimationswirkung des Verfahrens maßgeblich abhänge. Die Legitimationswirkung liege wiederum auch im öffentlichen Interesse. Vor diesem Hintergrund seien Erwartungshaltungen des Beschuldigten, die sich auf die wirkungsmächtige Durchsetzung seiner Interessen durch seinen Verteidiger beziehen, schutzwürdig.
Der Autor zeichnet mit der vorliegenden Arbeit ein stimmiges und zum Nachdenken anregendes Bild der Verteidigung. Durch eine hervorragende Darstellung der verschiedenen (Rechts-)Institute regt der Autor den Leser zu einer Reflexion über die Rolle der Verteidigung und die Beziehungen zu den weiteren Verfahrensakteuren an. Die vorliegende Arbeit gibt – auch aufgrund einer Verzahnung von Theorie und Praxis – dem Leser dazu eine nicht zu unterschätzende Hilfestellung an die Hand, sodass hier eine ausdrückliche Leseempfehlung ausgesprochen werden kann.