Dr. Ricarda Schelzke

Feichtlbauer: Verständigung als Fremdkörper im deutschen Strafprozess?, Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des „fair trial“-Grundsatzes

Duncker & Humblot, Berlin 2021, 359 Seiten, ISBN 978-3-428-18282-4, 99,90 Euro

Feichtlbauer widmet ihre Dissertation dem strafprozessualen Dauerbrenner seit Detlef Deal aus Mauschelhausen[1] – der Verständigung im deutschen Strafprozess. Die Dissertation wurde von Professor Dr. Jahn und Professor Dr. Bockenmühl an der Goethe-Universität Frankfurt am Main betreut und mit summa cum laude bewertet.

Feichtlbauer hat für diese Arbeit den Promotionspreis der wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung e.V. (WisteV) für die aus der Perspektive der Praxis beste Promotion im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts im Jahr 2020 erhalten. Die Arbeit hat den Vorstand der WisteV nicht nur überzeugt, weil sie sich einem strafprozessrechtlichen Thema widmet, das der Praxis entstammt und gerade auch in Wirtschaftsstrafverfahren von großer Bedeutung ist. Vielmehr hält er die Arbeit von Feichtlbauer für preiswürdig, weil sie nicht nur aufzeigt, dass die Verständigung mit verfassungs- und strafprozessrechtlichen Vorgaben konfligiert, sondern Vorschläge macht, wie die Regelungen zur Verständigung ausgelegt und ggf. angepasst werden sollten, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben und dem Strafprozessrecht gerecht zu werden. Professor Dr. Jahn schreibt daher in seinem Gutachten treffend, dass Feichtlbauerihre über die ganze Länge der Arbeit präzise inhaltliche Argumentation in den Dienst ihrer Vision von einem besseren Strafprozessrecht“ gestellt habe.

1. In dem ersten Abschnitt der Arbeit (S. 17 bis 71) stellt Feichtlbauer die Grundlagen der Verständigung dar. Sie zeigt die praktische Relevanz dieser auf, grenzt sie von anderen Rechtsinstituten, wie der Einstellung des Strafverfahrens aus Opportunitätserwägungen, ab und erklärt, wie die Verständigung über die Rechtsprechung[2] und das spätere Verständigungsgesetz[3] ihren Weg in das deutsche Strafverfahrensrecht gefunden hat. Schließlich stellt sie das viel beachtete sog. Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 dar, wonach das Verständigungsgesetz verfassungsgemäß sei und der Umstand, dass dieses in der Praxis nicht ausreichend berücksichtigt werde, (noch) nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führe.[4]

2. Die Verfasserin beschäftigt sich anschließend ausführlich damit, ob die Verständigung mit den verfassungs- und verfahrensrechtlichen Grundsätzen vereinbar ist, wobei der „fair trial“-Grundsatz besondere Berücksichtigung erfährt (S. 72 bis 270). Feichtlbauer belässt es aber nicht dabei, unter Berücksichtigung der bereits vertretenen Meinungen zu einer eigenen Auffassung zu gelangen, sondern zeigt auf, wie die Regelungen zur Verständigung ausgelegt und ggf. angepasst werden könnten, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben und dem Strafprozessrecht gerecht zu werden. Diese Vorschläge sollen nachfolgend besonders dargestellt werden.

a. Zwar verletzen die gesetzlichen Vorgaben zur Verständigung nach Auffassung von Feichtlbauer nicht das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 GG). Um aber der Gefahr entgegenzuwirken, dass Schöffen von Verständigungsgesprächen in Verhandlungspausen ausgeschlossen werden, vertritt die Verfasserin überzeugend die Auffassung, dass ab dem ersten Hauptverhandlungstag der § 212 StPO, der die Erörterung des Verfahrensstands mit den Verfahrensbeteiligten auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens ohne Beteiligung der Schöffen ermöglicht, aufgrund einer teleologischen Reduktion nicht angewendet werden dürfe. Es gelte vielmehr allein § 257b StPO, sodass Verständigungsgespräche nur noch in der mündlichen Hauptverhandlung unter Beteiligung der Schöffen stattfinden dürften (S. 120 f.).

b. Aufgrund des grundrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) müsse jeder denselben Zugang zu einer Verständigung haben. Daher spricht sich die Verfasserin dafür aus, dass der Angeklagte im Wege einer verfassungskonformen Auslegung ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Gerichts über die Frage, ob eine Verständigung getroffen werden kann, habe und unter Umständen sogar einen Anspruch auf eine Verständigung haben könne, wenn in vergleichbaren Fällen das Gericht einer Verständigung zugestimmt haben sollte (S. 165).

c. Die Verfasserin legt dar, dass die Verständigung in Konflikt zu dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 StPO) stehe. Dass § 257c Abs. 1 S. 2 StPO anordne, dass trotz einer Verständigung der Amtsermittlungsgrundsatz gelte, löse diesen Widerspruch nicht auf, da offen bleibe, wie trotz der Verständigung dem Amtsermittlungsgrundsatz genügt werden könne. Zur Lösung dieses Widerspruchs schlägt sie vor, für eine Verständigung ein „qualifiziertes Geständnis“, d.h. eines, das die relevanten Tatsachen überprüfbar darlegt und beweist, für erforderlich zu halten (S. 187).

d. Um dem Öffentlichkeitsgrundsatz (§ 169 S. 1 GVG), dem eine Kontrollfunktion zukomme, zu genügen, hält Feichtlbauer es für erforderlich, dass Verstöße gegen § 243 Abs. 4 StPO, der vorsieht, dass der Vorsitzende über etwaige Erörterungsgespräche und deren Ergebnis in der Hauptverhandlung zu berichten hat, einen absoluten Revisionsgrund begründen sollten (S. 205).

e. Die Verfasserin stellt nach umfassender Herleitung des „fair trial“-Grundsatzes fest, dass es eine Vielzahl an Konflikten zwischen der Verständigung und diesem Grundsatz gebe. Zur Lösung dieser Konflikte schlägt sie vor, dass, wenn das Gericht sich von der Verständigung lösen wolle, nicht nur ein Beweisverwertungsverbot eingreife, sondern dieses Fernwirkung haben sollte (S. 255 f.). Unter Hinweis auf den „fair trial“-Grundsatz begründet Feichtlbauer zudem, dass eine gesetzliche Regelung, wonach der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren darüber belehrt werden sollte, dass bloß informelle Absprachen keine Bindungswirkung entfalteten, erforderlich sei (S. 256 f.) und der Beschuldigte grundsätzlich an sämtlichen Erörterungsgesprächen beteiligt werden müsse (S. 257 ff.). Schließlich hält Feichtlbauer es aufgrund des „fair trial“-Grundsatzes auch für erforderlich, dass das Gericht in Fällen, in denen sich eine Verständigung anbahne, für eine Pflichtverteidigung zu sorgen habe, wenn der Angeklagte nicht verteidigt sei (S. 264 f.).

3. In dem abschließenden Teil der Dissertation (S. 271 bis 322) stellt die Verfasserin die Rechtsprechung zur Verständigung seit dem Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts so systematisch und umfassend dar, dass ein strafrechtlicher Praktiker sicherlich gern auf diese Ausarbeitung zurückgreift.

Da es Anliegen der Verfasserin ist, die Regelungen zur Verständigung in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben und dem Strafprozessrecht zu bringen, kritisiert sie dabei insbesondere, dass sich in der Rechtsprechung noch nicht die Auffassung durchgesetzt habe, dass Verständigungen ein Fall notwendiger Verteidigung seien (S. 294 f.) und bekräftigt unter Hinweis auf Urteile zu informellen Absprachen die Forderung, dass Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren über die mangelnde Bindungswirkung informeller Absprachen belehrt werden müssten (S. 319 f.).

4. Feichtlbauer resümiert, dass die Verständigung zwar ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess sei. Da sich Absprachen aus den Gerichtssälen aber nicht verbannen ließen, seien Gesetzgeber und Revisionsgerichte gefordert, dafür zu sorgen, dass Verständigungen bestmöglich verfassungs- und verfahrensrechtlichen Vorgaben entsprechen.

Autorinnen und Autoren

  • Dr. Ricarda Schelzke
    Dr. Ricarda Schelzke ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht in Frankfurt am Main. Sie berät und verteidigt im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht. Zu ihren Tätigkeitsfeldern gehören die klassischen Bereiche des Strafrechts wie Betrug, Untreue, Korruption, die Insolvenzstraftaten und das umfangreiche sogenannte Nebenstrafrecht einschließlich der Kartellordnungswidrigkeiten und -straftaten.

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