Christoph Tute, Lukas Danner

Kein Ermessen bei der Einziehung im Jugendstrafrecht – Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 20. Januar 2021 – GSSt 2/20

Amtlicher Leitsatz:

Die Entscheidung über die Einziehung des Wertes von Taterträgen (§ 73c Satz 1 StGB) steht auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht im Ermessen des Tatgerichts.

I. Einleitung

In seiner Entscheidung vom 20.01.2021, veröffentlicht am 13.07.2021, stellt der Große Senat für Strafsachen klar, dass die Entscheidung über die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach § 73c S. 1 StGB auch im Jugendstrafrecht nicht im Ermessen des Tatgerichts steht. Damit klärt sich eine der vielen, teils noch offenen Fragen, die in Folge der Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung sowie durch nachfolgende Änderungen – wie etwa kürzlich des § 459g StPO – aufgeworfen wurden. Womöglich ist diese Klärung jedoch nur vorläufiger Natur, denn die Entscheidung beinhaltet einen unmissverständlichen Auftrag an den Gesetzgeber.

II. Sachverhalt und Verfahrensgenese

1. Landgericht München II

Ein im Tatzeitraum Heranwachsender hatte durch die Verwirklichung zahlreicher Vermögensdelikte Einnahmen in Höhe von EUR 17.000 erzielt. Das LG München II verurteilte den umfassend geständigen Täter zu einer Jugendstrafe von vier Jahren.[1] Weil der Verurteile zum Verhandlungszeitpunkt entreichert und vermögenslos war, sah es von der Anordnung der Einziehung des Wertes der erlangten EUR 17.000 jedoch ab. Diese Entscheidung stützte es maßgeblich auf § 8 Abs. 3 S. 1 JGG, laut dem neben Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafe auf die nach dem JGG zulässigen Nebenstrafen und Nebenfolgen erkannt werden „kann“.[2] Wie sich aus § 2 Abs. 2 JGG ergebe, sei § 8 Abs. 3 S. 1 JGG auch vorrangig gegenüber den entgegenstehenden, eine gebundene Entscheidung voraussetzenden allgemeinen Regelungen der Einziehung anzuwenden. Die Anordnung der Einziehung liege damit in Jugendstrafsachen – anders als im allgemeinen Strafrecht – im Ermessen des Gerichts.[3] Für ein solches Ermessen streite auch das Leitprinzip des Jugendstrafrechts, nämlich der Erziehungsgedanke. Denn ob die Einziehung dem jugendlichen bzw. heranwachsenden Täter eine Lehre sei, dass Verbrechen sich nicht lohne, oder ob sie im Gegenteil seiner finanziellen Selbstständigkeit im Wege stehe und ihn unter Umständen gerade deshalb zu weiteren Taten veranlasse, sei nur mit Blick auf den individuellen Einzelfall durch das Gericht zu beurteilen.[4]

2. 1. Strafsenat des BGH

Die auf die Nichtanordnung der Einziehung beschränkte und nur teilweise vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft führte zum 1. Strafsenat, der sich anders als der 2., 4. und 5. Strafsenat noch nicht zur Frage des Ermessens bei der Einziehung im Jugendstrafrecht verhalten hatte.

Laut seinem Beschluss vom 11.07.2019 beabsichtigte der 1. Strafsenat unter Berufung auf die Argumentation des LG München II zu entscheiden, dass eine Anordnung der Einziehung von Taterträgen nach § 73 Abs. 1 StGB oder des Wertes von Taterträgen nach § 73c S. 1 StGB im Jugendstrafverfahren im Ermessen des Tatgerichts stehe.[5]

Zunächst führt er dazu aus, dass die Einziehung (des Wertes) von Taterträgen auch im Jugendstrafrecht zulässig sei, da sie eine Nebenfolge i.S.d. § 8 Abs. 3 S. 1 JGG darstelle.[6] Dies zeige sich auch an § 459g StPO („Vollstreckung von Nebenfolgen“).[7]

Das System der Anordnung der Einziehung im Jugendstrafrecht sei in Folge des Entfallens der Härtefallklausel des § 73c StGB a.F. jedoch neu zu bewerten, wobei Ausgangspunkt, wie vom LG München II dargestellt, das Wort „kann“ in § 8 Abs. 3 S. 1 JGG sei.[8] Auch § 15 JGG sehe mit seinen Regelungen zu Geldauflagen (Abs. 1), zur Einziehung (Abs. 2 Nr. 2) sowie zu deren Durchsetzung (Abs. 3) eine „differenzierte Regelung zur Gewinnabschöpfung im Jugendstrafrecht“ vor, die „vollständig konterkariert und ihr Anwendungsbereich gänzlich ausgehöhlt [werde], wenn zwingend die Einziehung von Taterträgen oder – auch bei Entreicherung – des Wertes von Taterträgen anzuordnen wäre“.[9] Zudem enthalte die Regelung des § 459g Abs. 5 S. 1 StPO „kein ausreichendes Korrektiv, um den zuvor dargestellten Bedenken Rechnung zu tragen“ und sei „für die Situation des jugendlichen oder heranwachsenden Straftäters nicht adäquat“, denn die in § 459g Abs. 5 S. 2 StPO vorgesehene Möglichkeit der jederzeitigen Wiederaufnahme der Vollstreckung erzeuge eine Unsicherheit, die mit dem Resozialisierungsgedanken des Jugendstrafrechts unvereinbar sei.[10] Es bestehe eben kein allgemeiner Erfahrungssatz, der aussage, dass es in jedem Fall erzieherisch geboten wäre, den jugendlichen oder heranwachsenden Täter zum Ersatz des von ihm verursachten Schadens heranzuziehen. Umgekehrt erscheine die Einziehung nach dem Bruttoprinzip gegenüber Jugendlichen oder Heranwachsenden jedoch nicht immer angemessen. Vielmehr widerspreche die Überforderung der finanziellen Ressourcen des Jugendlichen durch die Einziehung bei eingetretener Entreicherung dem erzieherischen Gedanken des § 15 Abs. 1 S. 2 JGG (An Jugendliche dürfen „keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.“).[11] Die Annahme eines gesetzgeberischen Willens zur zwingenden Einziehung auch im Jugendstrafrecht, auf welchen der 5. Strafsenat abstellt,[12] sei nicht überzeugend: In den Gesetzesmaterialien lasse sich außer einer redaktionellen Anpassung in § 76 S. 1 JGG „kein Anhaltspunkt für eine inhaltliche Befassung mit der Einziehung im Jugendstrafverfahren oder gar eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Neuregelung des Rechts der Vermögensabschöpfung auf das Jugendstrafrecht“ finden.[13]

Wegen entgegenstehender Entscheidungen des 2.[14] und 5.[15] Senats sah sich der 1. Senat jedoch gehindert, wie beabsichtigt zu entscheiden und fragte gemäß § 132 Abs. 3 S. 1 GVG bei den anderen Senaten an, ob entgegenstehende Rechtsprechung vorläge und ob an dieser festgehalten werden solle.[16] In ihren Antwortbeschlüssen hielten sowohl der 2.[17] als auch der 5.[18] Senat an ihrer Rechtsprechung fest. Auch der 4.[19] und 6.[20] Senat wiesen auf entgegenstehende Rechtsprechung hin, an der festgehalten werden solle. Einzig der 3. Senat[21] erklärte, es liege keine entgegenstehende Rechtsprechung vor.

Durch Beschluss vom 08.07.2020 legte der 1. Strafsenat gemäß § 132 Abs. 2 GVG dem Großen Senat für Strafsachen die Frage vor, ob die Entscheidung über die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach § 73c S. 1 StGB im Jugendstrafverfahren im Ermessen des Tatgerichts stehe.[22]

3. Großer Senat für Strafsachen

Angesichts der deutlichen Kräfteverteilung überrascht es nicht, dass der Große Senat für Strafsachen entgegen der Auffassung des 1. Strafsenats entschied, dass die Entscheidung über die Einziehung des Wertes von Taterträgen (§ 73c S. 1 StGB) auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht im Ermessen des Tatgerichts stehe.

Die Vorlegung sei zwar sowohl aus Gründen der Divergenz (§ 132 Abs. 2 GVG) als auch zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung       (§ 132 Abs. 4 GVG) zulässig.[23]

Die Reform des Einziehungsrechts begründe jedoch nicht die Annahme, die Einziehung des Wertes von Taterträgen stünde nunmehr im Ermessen der Jugendgerichte. Vielmehr sei der zwingend ausgeformte § 73c S. 1 StGB eine allgemeine Vorschrift i.S.d. § 2 Abs. 2 JGG, die auch im Jugendstrafrecht anzuwenden sei, sofern nichts anderes bestimmt ist. § 8 Abs. 3 S. 1 JGG treffe keine derartige anderweitige Bestimmung, denn der Regelungsgehalt der Norm sei laut ständiger Rechtsprechung des BGH allein auf die Frage der Kumulation von Rechtsfolgen beschränkt und zwar in der Weise, dass die Norm die Verbindung von jugendstrafrechtlichen Sanktionen mit den Maßnahmen, Nebenfolgen und Nebenstrafen[24] des allgemeinen Strafrechts erst gestatte. Über die Anwendungsvoraussetzungen einer allgemeinstrafrechtlichen Maßnahme oder Nebenfolge im Jugendstrafrecht treffe § 8 Abs. 3 S. 1 JGG hingegen keine Regelung.[25] Eine Neubewertung des Regelungsgehalts des § 8 Abs. 3 S. 1 JGG sei nicht angebracht, denn es könne „sicher ausgeschlossen werden, dass der Gesetzgeber [der Norm] einen anderen Regelungsgehalt verleihen wollte“[26]. Anderenfalls wären ausdrückliche Regelungen zu erwarten gewesen, wie der Gesetzgeber sie beispielsweise für die 3-monatige Höchstdauer eines Fahrverbots in § 8 Abs. 3 S. 2 JGG getroffen habe.[27]

Auch § 15 JGG lasse sich „kein die Vorteilsabschöpfung im Jugendstrafrecht schlechthin begrenzendes Prinzip entnehmen, das der vom Gesetzgeber getroffenen Wertentscheidung durchgreifend entgegengehalten werden könnte“[28]. Vielmehr habe der Gesetzgeber sich für ein Nebeneinander von der in § 15 JGG geregelten Geldauflage und der Einziehung entschieden.[29] Eine Verallgemeinerung der Regelung des § 15 Abs. 2 Nr. 2 JGG würde letztlich auf eine Wiedereinführung des Nettoprinzips und den Ausschluss der Einziehung bei Entreicherung im Jugendstrafrecht hinauslaufen. Indes habe der Gesetzgeber das bereits seit 1992 praktizierte Bruttoprinzip mit der Reform des Einziehungsrechts gerade noch weiter stärken wollen.[30]

Der Beschluss endet mit der Feststellung, den jugendstrafrechtlichen Maximen könne und müsse mit der nunmehr im Vollstreckungsverfahren verankerten Härtefallklausel des § 459g Abs. 5 StPO Rechnung getragen werden. „Ob der vom Gesetzgeber beschrittene Weg die zweckmäßigste aller denkbaren Lösungen darstellt“, habe der Große Senat indes nicht zu entscheiden.

III. Anmerkungen

1. Historie

Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen setzt die Tradition der Rechtsprechung zum alten Verfallsrecht fort. Zwar hatte der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 1954 noch entschieden, die Anordnung des Wertersatzverfalls (nach dem damals geltenden § 401 Abs. 2 RAbgO) sei im Jugendstrafrecht unzulässig, weil sie eine „echte Geldstrafe“ darstelle, die das JGG nicht kenne.[31] Mit dem Wandel der Auffassung der Rechtsprechung zur Strafeigenschaft des Verfalls[32] wurde schließlich auch der Wertersatzverfall durch den BGH als zulässiges Mittel im Jugendstrafrecht anerkannt.[33]

Vor der Reform der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 galt dabei allerdings noch die Härtefallregelung des § 73c Abs. 1 StGB a.F., wonach eine Anordnung zu unterbleiben hatte, sofern sie für den Betroffenen eine unbillige Härte darstellte bzw. ins Ermessen des Gericht gestellt wurde, soweit der Wert des Erlangten zur Zeit der Anordnung nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden war oder das Erlangte nur einen geringen Wert hatte. Dabei ist zu beachten, dass auch die Härtefallregelung des § 73c Abs. 1 StGB a.F. nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung äußerst restriktiv interpretiert wurde.[34] So sollte ihre Anwendung wegen Unverhältnismäßigkeit nur in Betracht kommen, „wenn die Anordnung des Verfalls schlechthin ungerecht wäre und das Übermaßverbot verletzen würde“, indes „nicht schon dann […], wenn der Verfallsbetrag nicht beigetrieben werden kann oder der Betroffene vermögenslos geworden und unfähig ist, die Mittel für seinen Unterhalt aufzubringen“.[35]Dennoch wurde die Härtefallregelung als „im Einzelfall unter Umständen notwendige[s] Korrektiv zum Bruttoprinzip“ bezeichnet.[36]

Im Rahmen der Reform der Vermögensabschöpfung wurde § 73c Abs. 1 StGB a.F. durch § 459g Abs. 5 StPO ersetzt, der jedoch erst im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens zum Tragen kommt.[37]

2. Auslegungsfragen

Eben dieses Entfallen einer Härtefallklausel für die gerichtliche Anordnungsentscheidung entfachte den nun vor dem Großen Senat ausgetragenen Streit um die Ermessenseinräumung bei der Wertersatzeinziehung im Jugendstrafverfahren von Neuem.

Wortlauttechnisch dreht sich dieser um die Formulierung „kann“ in § 8 Abs. 3 S. 1 JGG, die der Große Senat als lediglich konstitutiv für die Anordnung der Einziehung neben einer jugendstrafrechtlichen Sanktion auslegt, während der 1. Strafsenat hierin – in Abkehr von früherer BGH-Rechtsprechung[38] – eine Ermessensermächtigung erblickt. Die Begründung für diese Abkehr sah der 1. Senat gesetzessystematisch in dem Wegfall der Ermessensregelung des § 73c Abs. 1 StGB a.F., welcher eine genauere Prüfung einer potenziell ermessenseinräumenden Funktion des § 8 Abs. 3 S. 1 JGG in diesem Kontext überhaupt erst nötig machte. Den dabei vorgebrachten teleologischen Erwägungen des 1. Senats (Erziehungsgedanke) hält der Große Senat jedoch insbesondere den (vermeintlichen) Willen des Gesetzgebers entgegen.

Dass ein solcher Wille, gerichtet auf das Entfallen der Möglichkeit einer gerichtlichen Ermessensentscheidung im Jugendstrafrecht, durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung erkennbar wurde, bestreitet der 1. Senat indes. Diese Zweifel sind nicht gänzlich von der Hand zu weisen, schließlich verhielt der Gesetzgeber sich im Zusammenhang mit der Reform der Vermögensabschöpfung, abgesehen von einer Änderung des § 76 S. 1 JGG,[39] nicht zur Thematik des Jugendstrafrechts. Es fragt sich also, wie mit diesem Schweigen umzugehen ist. Darin könnte einerseits das Versäumnis der grundsätzlichen Erörterung systematischer Fragen des Jugendstrafrechts gesehen[40] und der Schluss gezogen werden, „dass der Gesetzgeber für das Jugendstrafrecht planwidrig eine zu weitgehende Regelung geschaffen hat“.[41] Weil aber immerhin § 76 S. 1 JGG redaktionellen Änderungen unterlag – die Einziehung demgemäß sogar im vereinfachten Jugendverfahren anwendbar ist[42] – und Fragen der Anwendung des Einziehungsrechts im Jugendstrafrecht wie aufgezeigt bereits häufig durch die höchstrichterliche Rechtsprechung thematisiert und entlang der allgemeinen Einziehungsvorschriften gelöst wurden, spricht andererseits einiges dafür, eine Befassung des Gesetzgebers mit der Thematik des Jugendstrafrechts anzunehmen.[43] Eine richterliche Neuinterpretation des § 8 Abs. 3 S. 1 JGG liefe dann aber dem gesetzgeberischen Willen entgegen; eine darüber hinaus anzudenkende teleologische Reduktion scheitert an der Planmäßigkeit der Regelungen.[44] Dass die gesetzgeberische Auseinandersetzung die unbefriedigende Entscheidung zur Folge hatte, keine Spezialregelung für das Jugendstrafrecht vorzusehen, mag schwer verständlich sein – dennoch ist sie von der gerichtlichen Praxis zu respektieren.[45]

Insbesondere fungiert § 2 Abs. 1 S. 1 JGG nicht als „Auffang-Unzulässigkeitsklausel“.[46] In diesem Sinne formulierte der BGH bereits zum alten Recht, die gesetzgeberische Entscheidung könne „nicht unter Berufung auf erzieherische Interessen unterlaufen werden“.[47] Dem kann freilich entgegnet werden, dass die Berücksichtigung erzieherischer Interessen über § 2 Abs. 1 JGG ebenso eine gesetzgeberische Entscheidung darstellt, die im Rahmen der Frage der Anwendbarkeit allgemeinstrafrechtlicher Normen bei § 2 Abs. 2 JGG als jugendstrafrechtliche Sonderregelung zum Tragen kommt.[48] Der Geltungsgehalt dieses Arguments unterlag durch die Reform des Vermögensabschöpfung jedoch keiner Veränderung, so dass die Entscheidung des Großen Senats jedenfalls als konsequent zu bezeichnen ist.

3. Unbefriedigende gesetzgeberische Regelung

Mit dem letzten Satz seines Beschlusses lässt der Große Senat indes deutliche Kritik an der Zweckmäßigkeit der Regelung durchklingen. Dieser Kritik ist zuzustimmen.

Vor allem Jugendliche bzw. Heranwachende sind häufig entreichert oder vermögenslos, schließlich verfügen sie regelmäßig weder über ein eigenes Einkommen noch über eigene finanzielle Reserven.[49] Somit befinden sie sich üblicherweise in einer besonderen Zwangslage, wenn gegen sie die Einziehung von Wertersatz angeordnet wird. Während Erwachsenen zugemutet werden kann, diese Lage durch legale Erwerbsmöglichkeiten zu überwinden, kann dies von Jugendlichen und Heranwachsenden weitaus weniger erwartet werden: Einerseits befinden sie sich in einem Reifebildungsprozess, in dem gewisse moralische Standpunkte noch nicht herausgebildet oder gefestigt sind; andererseits sind die legalen Erwerbsmöglichkeiten Jugendlicher äußerst limitiert.[50] Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, den Jugendgerichten jedenfalls bei Entreicherung des Betroffenen bereits bei der Wertersatzeinziehungsanordnung ein Ermessen einzuräumen, um je nach Entwicklungsgrad des Täters bewerten zu können, ob den erzieherischen Zielen, insbesondere der Förderung der Legalbewährung, im Einzelfall durch die Anordnung der Einziehung oder durch deren Unterlassen am besten nachgekommen werden kann.[51]

Dies gilt umso mehr, als der tragende Grund der Verschiebung der Härtefallregelung in das Vollstreckungsrecht hier nicht gleichermaßen greift wie im Erwachsenenstrafrecht. So führt der Regierungsentwurf aus, Ziel der Änderung sei es, „Vermögenswerte des Täters oder Teilnehmers, die bis zum Urteil unentdeckt geblieben sind, nachträglich im Strafvollstreckungsverfahren abzuschöpfen“[52] und damit Abschöpfungslücken zu schließen.[53] Da Jugendliche aber regelmäßig eine weitaus überschaubarere Vermögensituation und -entwicklung haben als Erwachsene, sind die Feststellungen hierzu erheblich leichter, so dass eine Überlastung der Hauptverhandlung durch eine ausufernde Erörterung der Vermögenslage[54] nicht zu befürchten ist.

Zudem ist insbesondere im Kontext des Jugendstrafrechts die durch § 459g Abs. 5 S. 2 StPO gewährte Möglichkeit der Wiederaufnahme der Vollstreckung problematisch. Demnach kann die Vollstreckung, nachdem von ihr abgesehen wurde, wieder aufgenommen werden, wenn nachträglich Umstände bekannt werden oder eintreten, die der Anordnung des Unterbleibens entgegengestanden hätten. Bis zum Ablauf der für Jugendliche maximal 20-jährigen (§ 79 Abs. 4 S. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 1, Abs. 3 Nrn. 2 bis 4 StGB, § 18 Abs. 1 S. 1 und 2 JGG), für Heranwachsende maximal 25-jährigen Vollstreckungsverjährung (§ 79 Abs. 4 S. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 1, Abs. 3 Nrn. 1 bis 4 StGB,               §§ 18 Abs. 1, 105 Abs. 3 JGG) ist damit insbesondere auch die Durchführung der in                § 459g Abs. 3 StPO genannten strafprozessualen Untersuchungsmaßnahmen beim Einziehungsadressaten zulässig. Dies erscheint angesichts der durch das JGG angestrebten Resozialisierung des Jugendlichen oder Heranwachsenden durchaus fragwürdig,[55] wenngleich bei der – durch den Jugendrichter zu treffenden (§ 82 Abs. 1 JGG) – Entscheidung über die Wiederaufnahme erzieherische Belange berücksichtigt werden können (und sollten).[56]

Nach alledem ist ein neuerliches gesetzgeberisches Tätigwerden zur effektiven Durchsetzung des Erziehungsgedankens im Zusammenhang mit Einziehungsfragen erforderlich. Dabei sollte (im JGG) eine Regelung implementiert werden, die dem Gericht bereits für die Anordnung der Wertersatzeinziehung im Erkenntnisverfahren ein Ermessen einräumt.[57]

Diesbezüglich stellte der Gesetzgeber – bezugnehmend auf die „Abstimmungen“ zwischen den Strafsenaten – immerhin bereits in Aussicht, „die Notwendigkeit jugendstrafrechtlicher Modifizierungen“ im Rahmen eines umfassenden Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des JGG zu prüfen.[58] Nachdem die „Abstimmungen“ mit der Entscheidung des Großen Senats nunmehr abgeschlossen sind, wäre es Zeit für den Gesetzgeber, in diese Prüfung einzusteigen.

4. Änderung des § 459g Abs. 5 StPO

Angesichts der gesetzgeberischen Tendenzen im Zusammenhang mit dem Einziehungsrecht erscheint die Implementierung einer Ermessensvorschrift indes eher unwahrscheinlich. So unterlag § 459g StPO erst kürzlich (zum 01.07.2021, nachdem die Vorschrift zuletzt zum 29.12.2020 angepasst worden war) einer neuerlichen Änderung.[59] Von dieser war neben den Abs. 3 und 4 insbesondere Abs. 5, d.h. die in das Vollstreckungsverfahren umgesiedelte Härtefallregelung, betroffen:

In seiner bis zum 30.06.2021 geltenden Fassung sah Abs. 5 S. 1 noch vor, dass die Vollstreckung der Einziehung auf Anordnung des Gerichts zu unterbleiben habe, „soweit der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist oder die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre“. Diesbezüglich nahm der BGH[60]       – entgegen mancher Stimmen aus der Literatur[61] – eine obligatorische Anordnung des Unterbleibens der Vollstreckung durch das Gericht an. Mit diesem Verständnis ging die Härtefallregelung des § 459g Abs. 5 StPO a.F. hinsichtlich der Berücksichtigung einer Entreicherung (wenngleich freilich erst auf Ebene der Vollstreckung) sogar weiter als die des § 73c StGB a.F., welche dem Gericht lediglich ein Ermessen eröffnete, von der Verfallsentscheidung abzusehen. Damit sei – so der BGH zur zwischenzeitlichen Rechtslage – die Regelung gegenüber der alten Rechtslage für den Angeklagten sogar teilweise „vorteilhaft“.[62] Auch das BVerfG führte als Argument für die Verneinung der Strafeigenschaft der reformierten §§ 73 ff. StGB aus: „Der weitgehende Verzicht auf eine Prüfung der Entreicherung des Einziehungsbetroffenen sowie auf eine etwaige Unbilligkeit der Einziehung im Erkenntnisverfahren wird durch die Nachholung der entsprechenden Prüfung im Vollstreckungsverfahren gemäß § 459g Abs. 5 StPO hinreichend kompensiert.“[63]

Durch die nunmehr erfolgte Änderung des § 459g Abs. 5 wurde dieser kompensatorische Charakter jedoch beschnitten.[64] So wurde die Entreicherung als ausdrücklicher Grund für ein Absehen von der Vollstreckung gestrichen, so dass die Norm ein Absehen nunmehr allein aus Gründen der Unverhältnismäßigkeit erlaubt. Zwar war die Entreicherung zuvor ohnehin als Unterfall der Unverhältnismäßigkeit ausgestaltet, so dass die Änderung sich auf den ersten Blick als bloße Verschlankung des Gesetzestextes interpretieren ließe. Die Gesetzesbegründung spricht indes eine andere Sprache. So sei die „pauschale und zwingende gesetzliche Einordnung“ der Entreicherung als Fall der Unverhältnismäßigkeit „zu weitgehend“ und widerspreche der „Zielsetzung, durch Straftaten erlangtes Vermögen effektiv abzuschöpfen“.[65] Einer Privilegierung von Straftätern oder bösgläubigen Drittbegünstigten, die das Erlangte schnell verbrauchen, solle entgegengewirkt werden. Die Wertersatzeinziehung nach § 73c StGB sei im Falle der Entreicherung somit nur unter „besonderen Umständen“, beispielsweise „weil dem Einziehungsadressaten das Erlangte auf schicksalhafte und nicht von ihm zu vertretende Weise (etwa infolge schwerer Krankheit) verlustig gegangen ist“, unverhältnismäßig.[66] Dem Übermaßverbot werde bereits durch die Pfändungsschutzvorschriften ausreichend Rechnung getragen.

Dies kann nicht überzeugen. Denn sofern das Erlangte weder gegenständlich noch als Surrogat im Vermögen des Einziehungsadressaten vorhanden ist („Verarmung“) bedarf es nicht der Vollstreckung einer Einziehungsanordnung, um ihm aufzuzeigen, dass Straftaten sich nicht lohnen.[67] Die Vollstreckung in nicht vorhandenes Vermögen wirkt vielmehr desozialisierend und demotivierend und ist somit mit dem Resozialisierungsanspruch des Strafrechts – und insbesondere des Jugendstrafrechts – nicht vereinbar.[68]

Wenngleich ein Absehen von der Vollstreckung nunmehr also schwerlich (allein) auf eine Entreicherung des Jugendlichen oder Heranwachsenden gestützt werden kann, sollte der Jugendrichter (als Vollstreckungsleiter gemäß §§ 82, 110 JGG) im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 459g Abs. 5 S. 1 StPO umso stärker auf spezialpräventiv erzieherische Überlegungen abstellen.[69]

5. Fazit

Die Entscheidungen des 1. Strafsenats und des Großen Senats für Strafsachen zeigen jeweils bedenkenswerte Argumente für und gegen ein Ermessen bei der Wertersatzeinziehung im Jugendstrafrecht auf. Im Ergebnis ist die Linie des Großen Senats mit Blick auf die Rechtsprechung zur alten Rechtslage konsequent. Zu hoffen bleibt jedoch, dass die vom Großen Senat geäußerte Kritik an der von ihm bestätigten Rechtslage nicht verhallt. Eine (neuerliche) gesetzgeberische Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des Jugendstrafrechts ist geboten – insbesondere mit Blick auf die kürzliche Änderung des § 459g Abs. 5 S. 1 StPO und der damit einhergehenden Verschärfung der Entreicherungsfälle.

Autorinnen und Autoren

  • Christoph Tute
    Christoph Tute ist als Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in der Kanzlei kempf schilling + partner tätig. Er verteidigt Individuen und berät Unternehmen zu strafrechtlichen Themen mit einem Schwerpunkt auf Wirtschaftsstrafsachen, vor allem aus den Bereichen Untreue-Verfahren, Korruptionsstrafrecht, Steuerstrafrecht und Umweltstrafrecht.
  • Lukas Danner
    Lukas Danner studiert Rechtswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2018 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei kempf schilling + partner.

WiJ

  • Dr. Elias Schönborn , Jan Uwe Thiel

    Gesetzliche Regelungen zur Handy-Sicherstellung sind verfassungswidrig (Österreich)

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Tino Haupt

    Der Zugriff auf Fahrzeugdaten aus strafprozessualer Perspektive

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Florian Neuber

    Verteidigung ohne Grenzen?

    Internationales Strafrecht