Raimund Weyand

Aktuelle Rechtsprechung zum Wirtschafts- und Insolvenzstrafrecht

I. Strafprozessrecht

1. Anwalt in eigener Sache und elektronischer Rechtsverkehr – § 32d StPO

Die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Revisionsschrift und der Revisionsbegründungsschrift (§ 32d Satz 2 StPO) gilt auch in dem Fall, in dem der übermittelnde Rechtsanwalt selbst Angeklagter des Strafverfahrens ist.

OLG Hamm, Beschluss vom 20.10.2023 – III-4 ORs 62/23, NJW 2023, 2657

2. Durchsuchung und Anfangsverdacht – § 102 StPO

Eine Durchsuchungsanordnung darf nicht ergehen, wenn durch die Maßnahme erst ein Anfangsverdacht begründet werden soll.

LG Rostock, Beschluss vom 02.11.2022 – 11 Qs 126/22, BeckRS 2022, 33587

Zu der Entscheidung Püschel, FD-StrafR 2023, 454947. S. auch zu den Voraussetzungen von Durchsuchungsmaßnahmen speziell in Anwaltskanzleien LG Hamburg, Beschluss vom 20.01.2023 – 608 Qs 12/22, NZWiSt 2023, 232 m. Anm. Oesterle, sowie LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 07.06.2023 – 12 Qs 24/23, n.v. S. ferner Püschel, FD-StrafR 2023, 458983, Rixe/Hölters, jurisPR-StrafR 19/2023 Anm. 3, sowie Junkers, jurisPR-Compl 4/2023 Anm. 1.

3. Durchsuchung bei Behörden – § 103 StPO

Der Durchsuchung behördlicher Räume muss regelmäßig ein Herausgabeverlangen vorangehen.

LG Osnabrück, Beschluss vom 10.10.2022 – 1 Qs 24/22, NJW-Spezial 2023, 26

Behördenakten sind grundsätzlich beschlagnahmefähig; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 18.03.1992 – 1 BGs 90/92 – NJW 1992, 1973. Ein vorgeschaltetes Herausgabeverlangen soll die Behörde in die Lage versetzen, gegebenenfalls eine Sperrerklärung (§ 96 StPO) abzugeben. Zu der Entscheidung s. Brosthaus, jurisPR-StrafR 2/2023 Anm. 1. Ausnahmen von diesem Grundsatz können z.B. angenommen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass Beweismittelunterdrückung bzw. -verlusten zu befürchten ist.

4. Bindungswirkung staatsanwaltschaftlicher Zusagen – §§ 154, 257c StPO

Zusagen der Staatanwaltschaft hinsichtlich der Einstellung anderer bei ihr anhängiger Ermittlungsverfahren, z.B. nach § 154 Abs. 1 StPO, lösen weder eine Bindungswirkung aus noch begründen sie einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand als gewichtigen Strafmilderungsgrund.

BGH, Beschluss vom 13.12.2022 – 1 StR 380/22, wistra 2023, 387

Zu der Entscheidung s. Weil, NZWiSt 2023, 311.

5. Darstellung im strafgerichtlichen Urteil bei Steuerhinterziehung – § 261 StPO

In den Urteilsgründen ist darzustellen, welches steuerlich erhebliche Verhalten des Angeklagten im Rahmen welcher Abgabenart und in welchem Besteuerungszeitraum zu einer Steuerverkürzung geführt hat und welche innere Einstellung der Angeklagte dazu hatte. Nötig sind insbesondere Angaben zu den Fragen, wann der Angeklagte welche Steuererklärungen abgegeben hat, welche Umsätze oder Einkünfte er verschwiegen oder welche unberechtigten Vorsteuerabzüge oder Betriebsausgaben er geltend gemacht hat sowie ob und gegebenenfalls mit welchem Inhalt Steuerbescheide erlassen worden sind. In den Urteilsgründen ist gleichfalls festzustellen, welche Tatsachen eine zutreffende Steuererklärung hätte enthalten müssen und welche Steuer aufgrund des festgestellten Sachverhalts geschuldet war. Steht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen im Raum, sind in den Urteilsgründen diejenigen Umstände festzustellen, aus denen sich ergibt, dass der Angeklagte zur Abgabe der fraglichen Steuererklärung verpflichtet war, und die Tatsachen mitzuteilen, aus denen sich die Höhe der durch die pflichtwidrige Nichtabgabe der Erklärung hinterzogenen Steuer ergibt. Dies gilt auch für den Fall einer geständigen Einlassung.

OLG Oldenburg, Beschluss vom 3.10.2022 – 1 Ss 215/22, n.v.

Der Entscheidung zustimmend Schützeberg, jurisPR-SteuerR 6/2023 Anm. 4. S. zu dem Beschluss auch Wegner, PStR 2023, 31.

6. Höchstdauer der Unterbrechung einer Hauptverhandlung – § 229 StPO

Auch wenn in einem Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung Verfahrensvor-gänge stattfinden, die als Sachverhandlung anzusehen sind, verstößt es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat.

BGH, Beschluss vom 13.12.2022 – 6 StR 95/22, wistra 2023, 171

„Sprung-“ bzw. „Schiebetermine“ sind durchaus gängige Praxis, zumal in Wirtschaftsstrafsachen. Der BGH hebt nochmals hervor, dass das Verfahren in Fortsetzungsterminen stets substantiell gefördert werden muss; rein formale Verfahrensschritte genügen hierzu nicht. Vgl. bereits BGH, Beschluss vom 16.10.2007 – 3 StR 254/07, wistra 2008, 65.

7. Überprüfbarkeit der Insolvenzantragstellung durch die Staatsanwaltschaft – § 23 EGGVG

Die Insolvenzantragstellung der Staatsanwaltschaft kann nach § 23 EGGVG nur mit der schlüssigen Behauptung angegriffen werden, ihr sei nach § 111i Abs. 2 StPO die Stellung dieses Antrags versagt gewesen. Alle anderen Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde unterliegen der spezielleren Vorschrift des § 459o StPO, mit der Folge, dass dafür hier nicht das OLG zuständig ist, sondern sich die Zuständigkeit des Gerichts nach §§ 462, 462a StPO richtet. Die Vorschrift des § 459o StPO schließt in ihrem Anwendungsbereich die 23 ff. EGGVG aus.

OLG Stuttgart, Beschluss vom 09.08.2022 – 302 AR 16/22, ZInsO 2022, 2266

Zu der Entscheidung s. Seeger, ZInsO 2066, 2267, sowie Brzoza, jurisPR-InsR_04_2023_Anm. 4.

II. Materielles Strafrecht

1. Beihilfe zur Insolvenzverschleppung durch Notar – § 27 StGB

Im Fall einer „neutralen“ bzw. „berufstypischen“ Handlung, also einer Handlung, die äußerlich betrachtet keinen oder zumindest nicht ausschließlich einen deliktischen Bezug hat, liegt im konkreten Einzelfall nur dann eine Beihilfehandlung vor, wenn der Handelnde weiß, dass das Handeln des Haupttäters ausschließlich auf die Begehung einer Straftat abzielt oder wenn das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten derart hoch war, dass er sich „die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein“ ließ. Es handelt sich um ein Problem des subjektiven Tatbestands. Die Einordnung der die Haupttat fördernden Handlung als sog. „berufstypische Handlung“ steht ihrer Qualifizierung als objektive Beihilfehandlung nicht entgegen. Ob diese Handlung strafbar ist, hängt jedoch von der im jeweiligen Einzelfall zu prüfenden Kenntnis des handelnden Berufsträgers ab. Diese Grundsätze gelten auch für Notare.

LG Lübeck, Beschluss vom 27.03.2023 – 6 Qs 33/22 720 Js 4897/20, wistra 2023, 259

Zu der Entscheidung s. Bittmann, wistra 2023, 262, Köllner, NZI 2023, 533, sowie Brzoza, jurisPR-InsR 8/2023 Anm. 1. Zur „professionellen Adäquanz“ vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 01.08.2000 – 5 StR 624/99, wistra 2000, 340. S. zudem etwa BGH, Urteil vom 19.12.2017 – 1 StR 56/17, ZInsO 2018, 1956 m. Anm. Weyand. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Notars s. BGH, Urteil vom 14.07.2000 – 3 StR 454/99, wistra 200, 459.

2. Einziehung von mit Grundschuld zum Schein belastetem Landgut – § 73 StGB

Nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB beiseite geschaffte und verheimlichte Gegenstände oder wirtschaftliche Vorteile sind Taterträge im Sinne des § 73 Abs. 1 1. Alt StGB. Gegenstände, die der Täter oder ein Einziehungsbeteiligter als Wertersatz hinterlegt hat, um die Freigabe eines beschlagnahmten Rechts zu bewirken, unterliegen, ungeachtet dessen, dass insoweit § 111d Abs. 2 Satz 2 StPO keine (analoge) Anwendung findet, der Einziehung, sofern das später erkennende Gericht die Voraussetzungen der Einziehung des beschlagnahmten Rechts feststellt.

BGH, Beschluss vom 14.06.2023 – 1 StR 327/22, ZInsO 2023, 2169

Zu der Entscheidung s. Habetha, NJW 2023, 3108, sowie erschöpfend Bittmann, ZWH 2023, 245.

3. Einziehung von Wertersatz – § 73c StGB

Wird vor Abschluss des Entschädigungsverfahrens die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Einziehungsadressaten beschlossen, können die Antragsteller, die die Auskehrung des Verwertungserlöses begehren, gemäß § 459h Abs. 2 Satz 2, § 111i StPO Entschädigung ausschließlich im Insolvenzverfahren erlangen. Die Frage, ob den Antragstellern wegen eines gegen den Einziehungsadressaten erwirkten Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ein Absonderungsrecht gemäß § 50 InsO zusteht, ist eine originär insolvenzrechtliche und daher nicht von den Strafgerichten zu klären.

OLG Zweibrücken, Beschluss vom 02.11.2022 – 1 Ws 77/22, ZInsO 2023, 105

Zu der Entscheidung s. Cranshaw, jurisPR-InsR 4/2023 Anm. 2.

4. Verschwiegenheitspflicht eines Notars bei Geldwäscheverdachtsmeldungen – § 203 StGB

Zwar ist ein Notar gegenüber der FIU zu einer Geldwäscheverdachtsmeldung in den durch die GwGMeldV – Immobilien geregelten Fällen verpflichtet (§ 43 Abs. 6 GwG). Dies hat indes keine Auswirkungen auf seine fortwirkende sich aus § 18 BnotO ergebenden Schweigepflicht auch gegenüber den Ermittlungsbehörden.

LG München I, Beschluss vom 08.06.2022 – 9 Qs 14/22, wistra 2022, 440

Zu der Entscheidung s. Pelz, jurisPR-Compl 1/2023 Anm. 2.

5. Geldwäsche – § 261 StGB

Den Qualifikationstatbestand des § 261 Abs. 4 StGB n.F. erfüllt nur, wer bei der Geldwäsche in Ausübung seiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, die ihn zum Verpflichteten nach § 2 GwG macht.

BGH, Urteil vom 08.08.2022 – 5 StR 372/22, wistra 2023, 110

Zu der Entscheidung Pelz, jurisPR-Compl 1/2023 Anm. 3. S. auch Bittmann, NZWiSt 2023, 258, sowie Raschke, NZWiSt 2023, 267.

6. Untreue – § 266 StGB

a) Vermögensbetreuungspflicht eines Bankvorstandes – § 266 StGB

Mitglieder des Vorstands einer Genossenschaftsbank trifft eine Vermögensbetreuungspflicht i.S.d. § 266 StGB, welche eine umfassende Schutzpflicht für das gesamte Vermögen des Unternehmens begründet. Die unbefugte Entnahme von Geld oder dessen Überweisung für eigene Zwecke durch diesen Personenkreis erfüllt den Treubruchtatbestand des § 266 Abs. 1, 2. Alt. StGB.

BGH, Urteil vom 25.01.2023 – 6 StR 383/22, ZInsO 2023, 498

Zu der Entscheidung s. Merschmöller, FD-StrafR 2023, 456211.

b) Untreue durch Zahlung überhöhter Gehälter an Betriebsratsmitglieder – § 266 StGB

Der objektive Tatbestand der Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB kann erfüllt sein, wenn ein Vorstand oder Prokurist einer Aktiengesellschaft unter Verstoß gegen das betriebsverfassungsrechtliche Begünstigungsverbot (§ 78 Satz 2 BetrVG) einem Mitglied des Betriebsrats ein überhöhtes Arbeitsentgelt gewährt.

BGH, Urteil vom 10.01.2023 – 6 StR 133/22, wistra 2023, 292

Zu der Entscheidung s. ausführlich Kudlich/Scheuch/Thüsing, ZIP 2023, 609, ferner Kielkowski/Junkers, jurisPR-Compl 2/2023 Anm. 1, Klose NZWiSt 2023, 199, Esser, ZWH 2023, 120, Kulhanek, NStZ 2023, 355, und Krug, FD-StrafR 2023, 456213.

c) Untreue und Bestechlichkeit eines Oberbürgermeisters – §§ 266, 332 StGB

Ein Vermögensnachteil im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB kann durch die Erbringung einer rechtsgrundlosen Zahlung bewirkt werden. Ein solcher Nachteil fehlt, wenn eine schadensausschließende Kompensation erfolgt. Eine derartige Kompensation liegt aber nicht vor, wenn ein Bürgermeister für städtische Grundstücksankäufe einen rechtsunwirksamen Maklervertrag abschließt und ein Teil von den zu leistenden Maklerprovisionen an einen kommunalen Partei-Ortsverein fließen soll, jedoch der Ankauf dieser Grundstücke durch den Bürgermeister und die Mitarbeiter der Stadt ohne Weiteres hätte selbst erfolgreich organisiert werden können (also ohne Hinzuziehung des Maklers), zumal die angesprochenen Grundstückseigentümer ohnehin verkaufsbereit waren. In einem solchen Fall stellen die unter Hinzuziehung des Maklers erfolgreichen städtischen Grundstücksankäufe keine Schadenskompensation dar.

BGH, Beschluss vom 08.02.2023 – § StR 167/22, NStZ 2023, 416

d) Hinreichender Tatverdacht bei Untreue – § 266 StGB

Für einen hinreichenden Tatverdacht muss bei einer vorläufigen Tatbewertung die Verurteilung in einer Hauptverhandlung als die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichende Möglichkeit einer Verurteilung vorliegen. Ein Freispruch in der Hauptverhandlung muss zwar nicht völlig auszuschließen sein; die Gründe, die eine Verurteilung erwarten lassen, müssen demgegenüber aber stärker bzw. gewichtiger sein, so dass grundsätzlich das „schlichte“ Überwiegen der Verurteilungswahrscheinlichkeit als Grundlage für die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts ausreicht. Hiervon ist etwa auszugehen, wenn für die Auszahlung eines Kredits eine erhebliche Sicherheitsleistung überwiesen, in der Folgezeit jedoch weder der Kredit ausgezahlt noch die Sicherheitsleistung zurückgezahlt wird.

OLG Brandenburg, Beschluss vom 27.02.2023 – 2 Ws 112/22, n.v.

7. Steuerhinterziehung durch die Nutzung eines nicht zugelassenen Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr – § 370 AO

Ein Verstoß gegen § 15 Abs. 1 KraftStDV führt nicht zur Strafbarkeit nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, weil die Regelung der steuerlichen Erklärungspflicht allein in § 15 Abs. 1 KraftStDV den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügt.

BGH, Beschluss vom 15.12.2022 – 1 StR 295/22, wistra 2023, 212

Dem Bestimmtheitsgebot genügen Blankettstrafgesetze nur dann, wenn sich die möglichen Fälle der Strafbarkeit schon aufgrund des Gesetzes voraussehen lassen. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe müssen mithin entweder im Blankettstrafgesetz selbst oder in einem in Bezug genommenen Gesetz hinreichend deutlich umschrieben sein; s. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 11.03.2020 – 2 BvL 5/17, wistra 2020, 242. Diese Voraussetzung ist nach Auffassung des BGH im Zusammenhang mit der Hinterziehung von KFZ-Steuern nicht erfüllt.

Zu der Entscheidung s. Wulf, SAM 2023, 57, sowie Schützeberg, jurisPR-SteuerR 25/2023 Anm. 1.

III. Recht der Ordnungswidrigkeiten

Differenzierung zwischen Risikoanalyse nach dem GwG und deren Dokumentation – §§ 5, 56 GwG

Ein Steuerberater muss im Rahmen der ihn nach dem GwG treffenden Obliegenheiten bei geschäftlichen Vorfällen zwar eine Risikoanalyse (§ 5 Abs. 1 GwG) vornehmen. Unterlässt er deren Dokumentation (§ 5 Abs. 2 GwG), indiziert dies nicht die Verletzung der Analysepflicht

BayObLG, Beschluss vom 25.5.2023 – 202 ObOWi 264/23, NJW-Spezial 2023, 506.

Zu der Entscheidung s. Pelz, jurisPR-Compl 5/2023 Anm. 3, sowie Knierim, FD-StrafR 2023, 458756.

IV. Zivilrechtliche Entscheidung mit strafrechtlicher Relevanz

1. Elektronischer Rechtsverkehr – § 130d ZPO

Ein anwaltlicher Insolvenzverwalter ist jedenfalls dann zur elektronischen Übermittlung von Schriftsätzen an das Gericht verpflichtet, wenn er Rechtsmittel im Insolvenzverfahren einlegt.

BGH, Beschluss vom 24.11.2022 – IX ZB 11/22, ZInsO 2023, 139

Zu der Entscheidung s. Greiner, jurisPR-InsR 1/2023 Anm. 3 sowie Niering, NZI 2023, 235. S. in diesem Zusammenhang auch BFH, Beschluss vom 28.04.2023 – XI B 101/22, DStR 2023, 1081.

2. Akteneinsicht im Insolvenzverfahren – § 299 ZPO

Macht ein am Insolvenzverfahren nicht beteiligter Dritte ein bestehendes rechtliches Interesse glaubhaft, kann ihm ohne Einwilligung der Beteiligten gem. § 4 InsO i.V.m. § 299 Abs. 2 ZPO nach pflichtgemäßem Ermessen Einsicht in die Insolvenzakten gewährt werden.

BayObLG, Beschluss vom 21.12.2022 – 102 VA 174/21, ZInsO 2023, 149

Zu der Entscheidung s. Brzoza, jurisPR-InsR 2/2023 Anm. 3. Zu den allgemeinen Anforderungen an das rechtliche Interesse eines nicht am Insolvenzverfahren Beteiligten im Zusammenhang mit Akteneinsichtsgesuchen s. etwa BGH, Beschluss vom 15.10.2020 – IX AR (VZ) 2/19, ZInsO 2021, 97. Hierzu Hölken, jurisPR-InsR 2/2021 Anm. 3, sowie Korch, EWiR 2021, 79.

3. Keine Löschung einer GmbH im Handelsregister nach unzulässiger „Sitzverlegung“ in die Türkei – § 393 FamFG

Grenzüberschreitende Umwandlungen setzen die sukzessive Anwendung von zwei nationalen Rechtsordnungen voraus. Soweit aus Gründen der Freizügigkeit ein Formwechsel aus bzw. in das EU-Ausland rechtlich anerkannt ist, sind dennoch die Anforderungen des deutschen Umwandlungsgesetzes zu erfüllen.

OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.07.2022 – 3 W 12/22, ZInsO 2023, 564

Zu der Entscheidung s. Hilser, EWiR 2023, 327.

4. Auskunfts- und Rechenschaftspflicht einer WP-Gesellschaft gegenüber dem Auftragnehmer bzw. Insolvenzverwalter – § 666 BGB

Eine WP-Gesellschaft ist verpflichtet, dem Insolvenzverwalter auf Verlangen über den Stand des Mandats, das zuvor mit der Schuldnerin bestanden hat, Auskunft zu erteilen und Rechenschaft abzulegen. Dies gilt insbesondere auch, wenn die Gesellschaft zuvor die entgeltliche Erstellung eines Sanierungskonzepts übernommen hatte. Die WP-Gesellschaft ist zudem verpflichtet, dem Insolvenzverwalter auf Verlangen alles, was sie zur Ausführung des von der Schuldnerin erteilten Mandats erhalten und was sie aus der Geschäftsbesorgung erlangt hat, herauszugeben. Diese Herausgabepflicht erstreckt sich nicht nur auf überlassene Originalunterlagen, sondern auch auf die ausgetauschte E-Mail-Korrespondenz nebst etwaiger Dateianhänge.

OLG Frankfurt/M., Urteil vom 09.01.2023 – 8 U 299/21, ZInsO 2023, 556

V. Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen mit wirtschaftsstrafrechtlicher Relevanz

1. Kein Zugang des Insolvenzverwalters zu den beim Finanzamt gespeicherten personenbezogenen Daten des Insolvenzschuldners – § 32c AO

Ein Insolvenzverwalter ist hinsichtlich der beim Finanzamt gespeicherten personenbezogenen Daten des Insolvenzschuldners nicht Betroffener i.S.v. Art 15 Abs 1 DS-GVO. Bei dem datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht, das untrennbar mit der Person des Schuldners verknüpft und einer von der Person des Schuldners losgelösten Verwertung nicht zugänglich ist. Damit wird es nicht Teil der Insolvenzmasse.

OVG Bremen, Beschluss vom 10.01.2023 – 1 LA 420/21, ZInsO 2023, 522

2. Widerruf der Gewerbeerlaubnis im Bewachungsgewerbe wegen Unzuverlässigkeit – § 34a GewO

Zur Entkräftung der aus vorhandenen Beitrags- und Steuerrückständen resultierenden Annahme der wirtschaftlichen Leistungsunfähigkeit des Gewerbetreibenden bedarf es der Darlegung konkreter Umstände, die im Sinne einer positiven Prognose eine deutliche Besserung der wirtschaftlichen Situation nahelegen können. Ebenso relevant kann das Vorliegen eines nachvollziehbaren und erfolgversprechenden Sanierungskonzepts sein, das eine zeitnahe Abtragung der Schulden im Sinne einer geordneten Rückkehr zu geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen erwarten lässt.

VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 24.11.2022 – 18 L 1056/22, ZInsO 2023, 463

VI. Finanzgerichtliche Entscheidungen mit wirtschaftsstrafrechtlicher Relevanz

1. Verhältnis Besteuerungsverfahren zum Steuerstrafverfahren – § 393 AO

Das Steuerstraf- und das Besteuerungsverfahren stehen unabhängig, eigenständig und gleichrangig nebeneinander. Das FG darf sich beim Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auch im Eilverfahren die Feststellungen in einem rechtskräftigen Strafbefehl zu eigen machen.

FG Hamburg, Beschluss vom 04.11.2022 – 4 V 66/22, n.v.

Zu der Entscheidung s. Möller, jurisPR-SteuerR 11/2023, Anm. 6. Zu der strafrechtlichen Vorfragenkompetenz des FG s. aktuell auch BFH, Beschluss vom 28.02.2023 – VII R 29/18, NZWiSt 2023, 371 m. Anm. Schmittmann.

2. Geschäftsführerhaftung – § 69 AO

Der Geschäftsführer einer GmbH kann sich gegenüber der Haftungsinanspruchnahme nicht darauf berufen, dass er aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage gewesen sei, den Aufgaben eines Geschäftsführers nachzukommen. Wer den Anforderungen an einen gewissenhaften Geschäftsführer nicht entsprechen kann, muss von der Übernahme der Geschäftsführung absehen bzw. das Amt niederlegen.

BFH, Beschluss vom 15.11.2022 – VII R 23/19, ZInsO 2023, 786

Zu der mit deutlichen Worten begründeten Entscheidung s. Hülsmann, NWB 2023, 1311, sowie Steinhauff, jurisPR-SteuerR 19/2023, Anm. 1.

3. Haftungsinanspruchnahme eines „Strohmannes“ – § 69 AO

Die Haftungsinanspruchnahme eines Geschäftsführers nach §§ 69 Satz 1, 34 und § 35 AO wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass dieser lediglich als „Strohmann“ fungiert, denn die Verantwortlichkeit für die Erfüllung steuerlicher Pflichten ergibt sich allein aus der formalen/nominellen Bestellung zum Gesellschaftsorgan. Stellt insoweit die Übernahme einer Geschäftsführerposition nur „auf dem Papier“ ohne tatsächliche Wahrnehmung von Kontrollpflichten einer gravierenden Sorgfaltsverpflichtung dar, kann sich der Strohmann hinsichtlich seiner Geschäftsführerhaftung dann nicht damit entlasten, ein Überwachungsverschulden habe sich nicht kausal auf die Entstehung eines Haftungsschadens ausgewirkt oder die Gesellschaft habe für steuerliche Belange ohnehin einen Steuerberater beauftragt.

FG Münster, Urteil vom 12.08.2022 – 4 K 1469/20 U, ZInsO 2023, 635

Zu der Entscheidung s. Böwing-Schmalenbrock, EFG 2022, 1799.

4. Haftung des Gesellschaftsorgans nach rechtskräftiger Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung – § 69 AO

Die Bestellung eines zunächst wirksam bestellten Geschäftsführers verliert ihre Wirkung, sobald dieser wegen einer in § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 GmbHG aufgeführten Taten rechtskräftig verurteilt wird; das Amt des Geschäftsführers endet kraft Gesetzes von selbst. Dass beim Wegfall des Amtes zivilrechtlich ein Gutglaubensschutz nach § 15 HGB oder allgemeine Rechtsscheingrundsätze eingreifen können, hat keine Auswirkung auf eine mögliche Inanspruchnahme als Haftungsschuldner für Steuerrückstände. § 34 AO knüpft allein an die Stellung als gesetzlicher Vertreter. Die anhand der konkreten Einzelfallumstände zu treffende Wahl zwischen mehreren möglichen Haftungsschuldner steht zwar grundsätzlich im Ermessen der Finanzbehörde; die Entscheidung ist aber auch dann fehlerhaft, wenn das Finanzamt nicht erkannt hat, dass verschiedene potentiell Haftende vorhanden sind, und deshalb verkannt hat, dass eine solche Auswahlentscheidung überhaupt zu treffen war.

FG Münster, Urt. v. 19.12.2022 – 4 K 1158/20 L, ZInsO 2023, 998

Zu Fragen der Inhabilität im Zusammenhang mit der Bildung von Gesamtstrafen vgl. Weyand, ZInsO 2023, 1039.

5. Haftung eines abberufenen Gesellschaftsorgans – § 69 AO

Die Haftung eines Geschäftsführers nach § 69 AO endet mit seiner Abberufung; die Eintragung im Handelsregister hat lediglich deklaratorischen Charakter. Eine Abberufung bedarf zwar eines Gesellschafterbeschlusses. Dieser kann aber auch konkludent gefasst werden.

FG Düsseldorf, Urteil vom 18.11.2022 – 3 K 590/21 H, ZInsO 2023, 1334

Zu der Entscheidung s. Schmittmann, StB 2023, 153.

6. Haftung eines Steuerberaters und Wirtschaftsprüfers – § 69 AO

Berufstypische Handlungen eines Steuerberaters können dann eine haftungsauslösende Beihilfe zur Steuerhinterziehung darstellen, wenn er erkennt, dass der Mandant sich offenbar strafbar macht und seine eigene Hilfeleistung diese Aktivitäten fördern wird.

BFH, Beschluss vom 28.02.2023 – VII R 29/18, NZWiSt 2023, 371 m. Anm. Schmittmann

Der Senat fasst in seinem Beschluss die für die Annahme einer haftungsbegründenden Beihilfe zur Steuerhinterziehung (§ 27 StGB i.V.m. § 370 AO) geltenden Grundsätze lehrbuchmäßig zusammen. Grundlegend zu Fragen der professionellen Adäquanz in diesem Zusammenhang BGH, Urteil vom 01.08.2000 – 5 StR 624/99, wistra 2000, 340. Liegt eine Beihilfe zur Steuerhinterziehung vor, ist die Inanspruchnahme des Gehilfen als Haftungsschuldner dem Grunde und der Höhe nach stets ermessensgerecht (§ 102 FGO). Ermessenserwägungen müssen dann nicht näher dargelegt werden (sogenannte „Vorprägung der Ermessensentscheidung“; vgl. BFH, Urteil vom 08.09.2004 – XI R 1/03, HFR 2005, 293)

7. Prüfungsanordnung gegenüber einem Berufsgeheimnisträger – §§ 85, 102 Abs. 1 Nr. 3, 193 Abs. 1 AO

Es ist in der Rechtsprechung des BFH geklärt, dass die Anordnung einer Außenprüfung gegenüber einem Berufsgeheimnisträger auch im Hinblick auf einen mit der Prüfung verbundenen möglichen Schwärzungs- und Anonymisierungsaufwand von Belegen per se weder unverhältnismäßig noch willkürlich ist. Ferner ist in der Rechtsprechung des BFH abschließend festgelegt, dass über die Frage, ob und in welchem Umfang ein Berufsgeheimnisträger Unterlagen mit mandantenbezogenen Angaben innerhalb der Außenprüfung vorlegen und gegebenenfalls schwärzen muss, im Rahmen der Anfechtung eines konkreten Vorlageverlangens zu entscheiden ist.

BFH, Beschluss vom 30.06.2023 – VIII B 13/22, ZInsO 2023, 2175

Autorinnen und Autoren

  • Raimund Weyand
    Raimund Weyand war bis zum seinem Eintritt in den Ruhestand am 31.12.2021 stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft Saarbrücken. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Insolvenz-, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht und hat auf diesen Themengebieten bereits zahlreiche Beiträge publiziert. Weyand ist (Mit-)Verfasser mehrerer insolvenz- und wirtschaftsstrafrechtlicher Buchveröffentlichungen, Mitautor des Kommentars von Graf/Jäger/Wittig zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht und gehört seit deren Gründung dem Herausgebergremium der Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht (ZInsO) an.

WiJ

  • Dr. Simon Ulc , Marc Neuhaus

    Übernahme von Kosten für Verteidiger und Zeugenbeistände – eine Praxisübersicht

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)

  • Dr. Ricarda Schelzke

    BGH, Urteil vom 6. März 2024 – 1 StR 308/23

    Individual- und Unternehmenssanktionen

  • Dr. Marius Haak , Joshua Pawel LL.M.

    Umweltkriminalität im Visier der EU – Richtlinie zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom Rat beschlossen

    Produkthaftung, Umwelt, Fahrlässigkeit und Zurechnung