Das Problem der überlangen Verfahrensdauer im Strafprozess
A. Einleitung
Bereits 1766 kam der italienische Rechtswissenschaftler Cesare Beccaria zu dem Schluss, dass überlange Strafverfahren für die Betroffenen
„unnütze und schreckliche Qualen der Ungewissheit“
bedeuten.[1]
Auch heute noch muss sich die Rechtsprechung regelmäßig mit unangemessenen Verzögerungen in Strafverfahren befassen. In den letzten Monaten sind mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Problematik – insbesondere der Frage nach der Ermittlung einer überlangen Verfahrensdauer und der möglichen Kompensation hierdurch erlittener Nachteile – auseinandersetzen und die jeweiligen Voraussetzungen weiter konkretisieren. So erging am 24. März dieses Jahres ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das sich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde mit der Dauer eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Landgericht (LG) Berlin auseinanderzusetzen hatte, nachdem sich der Beschwerdeführer gegen seine Verlegung aus einer Sozialtherapeutischen Anstalt in den Regelvollzug der Justizanstalt Tegel gewandt hatte.[2] Dabei beschäftigte sich das BVerfG insbesondere mit der Frage, wann eine überlange Verfahrensdauer erreicht ist. Im Rahmen eines Beschlusses vom 21. September 2023 hatte sich das BVerfG überdies mit der überlangen Dauer eines Haftprüfungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main zu befassen, nachdem bis zur Entscheidung über die Haftfortdauer mehr als fünf Monate vergangen waren. [3] Weiter hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) in Strafsachen im Rahmen einer am 5. April 2023 ergangenen Entscheidung mit der Kompensation einer überlangen Verfahrensdauer auseinandergesetzt.[4] In einer bereits im Januar 2023 veröffentlichten Entscheidung präzisierte er ferner die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit Betroffene überlanger Gerichtsverfahren hierfür nach den §§ 198 ff. GVG entschädigt werden.[5] Zwar handelte es sich um eine zivilrechtliche Entscheidung. Gemäß § 199 Abs. 1 GVG sind die §§ 198 ff. GVG jedoch nach Maßgabe des § 199 Abs. 2 bis 4 GVG auch auf Strafverfahren anzuwenden.
Die zitierten Entscheidungen setzen sich jeweils mit verschiedenen Teilaspekten der Problematik unangemessener Verzögerungen in Strafverfahren auseinander und sollen zum Anlass genommen werden, sich hiermit im Folgenden eingehend zu befassen. Dabei wird im weiteren Verlauf an geeigneter Stelle ausführlicher auf besonders relevante Aspekte der zitierten Entscheidungen eingegangen.
B. Ermittlung und Kompensation von überlanger Verfahrensdauer
Ausgangspunkt für die Ermittlung und Kompensation überlanger Strafverfahren ist zunächst das Beschleunigungsgebot, nach dem ein Strafverfahren innerhalb eines angemessenen Zeitraums durchzuführen ist.[6] Hiervon ausgehend soll im Folgenden zunächst erläutert werden, nach welchen Kriterien die Dauer eines Strafverfahrens als überlang ermittelt wird und wie eine Kompensation erfolgen kann. Nach einer Auseinandersetzung mit den §§ 198 ff. GVG wird schließlich auf wirtschafts- sowie steuerstrafrechtliche Besonderheiten eingegangen.
I. Das Beschleunigungsgebot
Das Beschleunigungsgebot ist weder im Strafgesetzbuch (StGB) noch in der Strafprozessordnung (StPO) ausdrücklich normiert. Dennoch wirken verschiedene Vorschriften der StPO auf eine zügige Durchführung des Strafverfahrens hin: So enthalten die §§ 228, 229 StPO das Konzentrationsprinzip, nach dem möglichst ohne Unterbrechung zügig zu verhandeln ist. Daneben fördern die gesetzliche Fristen zur Verkündung des Urteils (§ 268 Abs. 3 S. 2 StPO) sowie zu dessen Absetzung (§ 275 Abs. 1 StPO) den zügigen Gang des Verfahrens. In Haftsachen bestimmt § 115 StPO wie die §§ 128 f. StPO, dass festgenommene Personen unverzüglich einem Richter vorzuführen sind. Auch § 121 StPO, der die Fortdauer der Untersuchungshaft über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus betrifft, dient der Beschleunigung des Strafverfahrens. [7] Ist kein Urteil ergangen, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf die Untersuchungshaft gemäß § 121 Abs. 1 StPO nur ausnahmsweise über sechs Monate hinaus aufrechterhalten werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt, der ein Urteil noch nicht zulässt und die Fortdauer der Haft begründet. Vermeidbare, vom Staat zu verantwortende Verfahrensverzögerungen, können die Fortdauer der Untersuchungshaft dabei nicht rechtfertigen.[8] Nach sechs Monaten ist der Haftbefehl regelmäßig aufzuheben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das zuständige Gericht oder das OLG den Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt haben oder die Fortdauer der Untersuchungshaft durch das zuständige OLG angeordnet worden ist.[9]
Auch im Grundgesetz (GG) findet sich keine Regelung, die das Beschleunigungsgebot ausdrücklich normiert. Vielmehr wird es aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, abgeleitet. Je nachdem, welche Grundrechte des Beschuldigten durch die Verzögerung des Verfahrens betroffen sind, wird zusätzlich auf die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG oder die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG abgestellt. In Haftsachen wird der Beschleunigungsgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 GG abgeleitet. [10]
In der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist der Beschleunigungsgrundsatz dagegen ausdrücklich geregelt. Allgemein formuliert lässt sich dieser Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK entnehmen, während Art. 5 Abs. 3 S. 1 EMRK eine Sonderregelung in Haftsachen normiert. Gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Ergänzend sieht Art. 5 Abs. 3 S. 1 EMRK vor, dass jede Person, die von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden muss; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Letzteres darf nicht im Sinne einer Wahlmöglichkeit verstanden werden. Beschuldigte sind dann aus der Untersuchungshaft zu entlassen, wenn die Grenze der Angemessenheit der Haftdauer überschritten ist.[11]
Die Regelungen der EMRK haben den Rang eines einfachen Bundesgesetzes und finden in Deutschland unmittelbar Anwendung.[12]
II. Ermittlung der Dauer eines Strafverfahrens als überlang
Die Kriterien, anhand derer die überlange Verfahrensdauer bestimmt wird, orientieren sich an der Rechtsprechung des EGMR: Eine Verfahrensverzögerung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ist hiernach anzunehmen, wenn das Verfahren länger als gewöhnlich gedauert hat und das Verhalten der Justiz hierfür ursächlich geworden ist.[13] Ob eine solche Verzögerung gegeben ist, wird in einem zweistufigen Verfahren geprüft: Zunächst wird die Gesamtverfahrensdauer ermittelt, die den Beurteilungszeitraum darstellt. In einem zweiten Schritt wird mit Hilfe verschiedener Kriterien untersucht, ob sich die Dauer der einzelnen Verfahrensabschnitte sowie die Gesamtverfahrensdauer rechtfertigen lassen.[14]
Die Gesamtverfahrensdauer beginnt hierbei mit der förmlichen Anklage des Beschuldigten oder zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser durch eine andere behördliche Maßnahme ersehen kann, dass gegen ihn ermittelt wird. Letzteres gilt nur, soweit er durch die entsprechende behördliche Maßnahme ebenso beeinträchtigt wird, wie durch eine offizielle Mitteilung.[15] Sie endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.[16] Auch Verfahren vor dem BVerfG sind bei der Bemessung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, da sich diese auf den Ausgang des Strafverfahrens auswirken können.[17]
Hinsichtlich der Bewertung der Verfahrensdauer als (un-)angemessen betont das BVerfG in dem bereits zitierten Beschluss:[18]
„Allgemein gültige Zeitvorgaben lassen sich aus der Verfassung [] nicht ableiten. Wann von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist, ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen“.
In die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einbezogen werden dabei mit der Komplexität des Verfahrens sowie dem Verhalten des Beschuldigten und dem der Justizorgane sowohl objektive Faktoren als auch subjektive Faktoren wie die Bedeutung des Verfahrens für den Beschuldigten. Berücksichtigung finden auch die Belastungen, die für den Beschuldigten mit den Verzögerungen verbunden sind.[19] In älteren Entscheidungen bezog der BGH zudem die Schwere des Tatvorwurfs mit ein.[20]
Im Rahmen der Überprüfung der Komplexität des Falles ist zu berücksichtigen, dass eine längere Dauer einzelner Verfahrensabschnitte sowie eine längere Gesamtverfahrensdauer gerechtfertigt sein können, wenn sich ein Verfahren als besonders schwierig und umfangreich darstellt.[21] Eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes ist dagegen umso wahrscheinlicher, je stärker die Auswirkungen für den Beschuldigten sind.[22]
Auch das Verhalten der Verfahrensbeteiligten beeinflusst die Dauer des Strafverfahrens maßgeblich. Aus diesem Grund ist im Rahmen der Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer besonders zu berücksichtigen, ob durch das Verhalten des Beschuldigten oder das des zuständigen Gerichts Verzögerungen verursacht wurden. Weil das Offizialprinzip dem Staat eine weitgehende Einflussnahme auf den Verfahrensverlauf ermöglicht, müssen Maßnahmen des Gerichts, die die Dauer des Verfahrens verlängern, besonders gewichtet werden.[23]
Nicht zugerechnet werden können dem Staat hingegen Verzögerungen, die andere Verfahrensbeteiligte verursacht haben, wobei maßgeblich ist, wem die Verzögerung objektiv zuzurechnen ist.[24] Beschuldigten steht es frei, von ihren Verfahrensrechten Gebrauch zu machen. Die hieraus folgenden Verzögerungen können dem Staat jedoch nicht zur Last gelegt werden.[25] So können etwa mehrfach beantragte Fristverlängerungen, die wiederholte Ablehnung von Richtern oder Sachverständigen sowie Verzögerungen durch den Widerruf des Einverständnisses zur Beiziehung von Akten dem Staat nicht angelastet werden.[26]
Soweit es sich um staatlich verantwortete Verfahrensverzögerungen handelt, können diese nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass das zuständige Gericht dauerhaft überlastet war. Der EGMR vertritt vielmehr die Auffassung, dass es Aufgabe der Mitgliedsstaaten ist, ihre Rechtspflege so zu organisieren, dass Gerichte ihren sich aus der EMRK ergebenden Pflichten nachkommen können. [27] In diesem Zusammenhang betont auch das BVerfG in dem bereits zitierten Beschluss vom 24. März 2023, dass sich der Staat[28]
„[a]uf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, [] zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen [kann]. Er muss vielmehr alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können. Dies gilt auch für die Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren im Fall der Erkrankung des zuständigen Richters. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche Vertretung eines erkrankten Richters sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch einen krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit Rechnung trägt“.
III. Kompensation einer als überlang ermittelten Verfahrensdauer im Strafprozess
Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Daher stellt sich die Frage, wie unangemessene Verfahrensverzögerungen kompensiert werden können. Bis 2011 gab es keine gesetzlichen Vorschriften, die regelten, wie ein solcher Ausgleich erfolgen kann. Entsprechende Kompensationsmodelle wurden jedoch von der Rechtsprechung entwickelt. Dabei erfolgte ein Ausgleich lange Zeit ausschließlich auf Ebene der Strafzumessung. Seit 2000 besteht in extremen Ausnahmefällen zudem die Möglichkeit der Annahme eines aus der Verfassung abgeleiteten Verfahrenshindernisses. Im Jahr 2008 kam es zu einer Änderung der Rechtsprechung, die mit dem Vollstreckungsmodell einen Ansatz entwickelte, der einen Ausgleich nicht mehr auf Strafzumessungsebene sucht, sondern einen Teil der Strafe als bereits vollstreckt bestimmt. Seit 2011 wird dieser Ansatz durch die §§ 198 ff. GVG ergänzt.
Der folgende Abschnitt widmet sich daher zunächst der bereits kurz umrissenen Entwicklung in der Rechtsprechung, bevor eine Auseinandersetzung mit den Regelungen der §§ 198 ff. GVG erfolgt.
1. Zu Beginn: Kompensation ausschließlich über die Strafzumessungslösung
Die in dieser Form bis Januar 2008 angewandte Strafzumessungslösung sah im Falle eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz eine Kompensation auf Ebene der Strafzumessung vor:[29] Eine Strafmilderung war einerseits im Fall der „Tatferne“ auf Grund eines langen zeitlichen Abstandes zwischen Tat und Urteil möglich. Andererseits konnte die Strafe gemildert werden, wenn ein Strafverfahren ungewöhnlich lang dauerte und der Betroffene entsprechend starken Belastungen ausgesetzt war. Eine Milderung war in diesem Zusammenhang unabhängig vom Verschulden der zuständigen Behörde möglich. Schließlich kam eine Milderung der Strafe auch bei einer Verletzung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK in Betracht.[30]
Die jeweiligen Verzögerungen konnten sich hierbei auf unterschiedliche Weise auswirken: Schwere Verstöße gegen den Beschleunigungsgrundsatz wurden durch eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO, durch ein Absehen von der Strafe nach § 60 StGB oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB kompensiert. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK konnte über die Strafzumessung im engeren oder im weiteren Sinn kompensiert werden: Im ersten Fall wurde schon bei der Festsetzung der Strafe eine Milderung vorgenommen. Ansonsten erfolgte die Kompensation über die Annahme eines minder schweren Falles oder die Ablehnung eines besonders schweren Falles.[31]
2. Seit 2000: Kombination aus Strafzumessungslösung und Verfahrenshindernislösung
Lange Zeit umstritten war die Frage, ob aus einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis resultieren kann. Der BGH hat dies zunächst verneint.[32] Das BVerfG hingegen ging bereits 1983 von der Möglichkeit eines Verfahrenshindernisses in Ausnahmefällen aus.[33] Im Jahr 2000 folgte der BGH dieser Rechtsprechung und nahm an, dass eine Verfahrensverzögerung in außergewöhnlichen Einzelfällen zu einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernis führen kann.[34] Dabei soll ein unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitendes Verfahrenshindernis dann anzunehmen sein, wenn[35]
„in Fällen, in denen das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiegt und in denen die Dauer des Verfahrens zudem mit besonderen Belastungen für den Beschuldigten […] einhergegangen ist, eine so erhebliche Verletzung des Rechtsstaatsgebots im Strafverfahren festzustellen [ist], daß ein anerkennenswertes Interesse an weiterer Strafverfolgung, die allgemein dem verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsgüterschutz dient, im Einzelfall nicht mehr besteht und eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist. Sofern in solchen extrem gelagerten Fällen das Strafverfahrensrecht keine Möglichkeit zur Verfahrensbeendigung [] zur Verfügung stellt, liegt es nahe, daß hier von Verfassungs wegen ein Verfahrenshindernis unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes abzuleiten ist“.
Ein Verfahrenshindernis soll demnach etwa dann in Betracht kommen, wenn es zu einem zehnjährigen Verfahrensstillstand gekommen ist, den der Angeschuldigte nicht zu vertreten hat.[36]
3. Seit 2008: Kombination aus Vollstreckungsmodell und Verfahrenshindernislösung
Im Jahr 2008 erfolgte dann ein Richtungswechsel in der Rechtsprechung des BGH. Anlass hierfür war eine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sich der 3. Strafsenat des BGH auseinanderzusetzen hatte.[37] Die Staatsanwaltschaft wandte sich gegen eine zuvor ergangene Entscheidung des LG Oldenburg,[38] das zur Kompensation einer Verfahrensverzögerung den gesetzlichen Mindeststrafrahmen des § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB unterschritten hatte.[39]
Das LG Oldenburg stellte eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung fest.[40] Dies führte dazu, dass es den Angeklagten wegen besonders schwerer Brandstiftung gemäß § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB sowie wegen versuchten Betrugs gemäß §§ 263 Abs. 1, 2, 22 StGB verurteilte und hierbei auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannte.[41] Dabei wurde der Mindeststrafrahmen von fünf Jahren nach § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB unterschritten. Zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren kam das LG Oldenburg dennoch, weil es die Auffassung vertrat, die überlange Verfahrensdauer sei über eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB zu kompensieren, da die Gewährung eines bezifferten Strafnachlasses auf die an sich verwirkte Strafe innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens ausschied.[42]
Der 3. Strafsenat des BGH nahm hingegen an, dass eine Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB in der durch das LG Oldenburg vorgenommenen Form nicht möglich sei. Eine unmittelbare Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB scheitere an einer fehlenden gesetzlich vorgeschriebenen bzw. zugelassenen Strafmilderung. Eine entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hielt der 3. Strafsenat insbesondere deshalb für ausgeschlossen, weil[43]
„es dem Rechtsanwender nicht frei steht, den gesetzlichen Katalog der Vorschriften, die eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorschreiben oder zulassen, nach seinen Vorstellungen durch Festlegung eines ungeschriebenen obligatorischen oder fakultativen Milderungsgrundes zu erweitern“.
Um die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung dennoch ausreichend zu berücksichtigen, schlug der 3. Senat eine analoge Anwendung des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB vor. Hierbei sollte zunächst die unter Berücksichtigung aller strafzumessungsrelevanten Umstände angemessene Strafe bestimmt werden. Um der Verzögerung Rechnung zu tragen, sollte das Gericht dann, entsprechend der gebotenen Kompensation, einen bestimmten Teil der Strafe als vollstreckt bestimmen und dies in die Urteilsformel aufnehmen.[44]
Da mit einem solchen[45]
„Systemwechsel eine völlige Abkehr von der bisherigen einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre“,
legte der dritte Strafsenat des BGH den Fall dem Großen Senat für Strafsachen vor. Der Große Senat hatte sich dabei mit der Frage zu befassen,[46]
„in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben“.
Er sprach sich für das Vollstreckungsmodell aus. Dogmatisch verortete er dieses in den Vorschriften der EMRK, dem darin normierten Entschädigungsprinzip sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4. S. 2 StGB.[47] Hierbei konkretisierte er die Vorgehensweise im Rahmen des Vollstreckungsmodells: In einem ersten Schritt sind Art, Umfang und Ursachen der Verzögerung festzustellen und als Grundlage für die Strafzumessung zu berücksichtigen. Anschließend wird geprüft, ob die Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verzögerung eine ausreichende Kompensation darstellt; wird dies bejaht, ist dies in den Urteilsgründen festzuhalten. Andernfalls ist entsprechend der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe als vollstreckt anzusehen ist.[48]
Für den Wechsel zum Vollstreckungsmodell sollte dabei insbesondere sprechen, dass dieses den Unterschieden zwischen Strafzumessung und Kompensation besser gerecht wird. Zwar sei die Kompensation mit der Frage der Strafzumessung verbunden. Der Ausgleich für die im Rahmen einer überlangen Verfahrensdauer erlittenen Nachteile verfolge jedoch einen anderen Zweck als die Strafzumessungserwägungen, die dazu dienten, einen Ausgleich zwischen Unrecht und Schuld zu gewähren. Dies zeige sich u.a. daran, dass eine Entschädigung gerade dann geboten sei, wenn der Angeklagte nicht wegen der ihm vorgeworfenen Taten verurteilt werde.[49] Eine Trennung sei unter Anwendung des Vollstreckungsmodells besser möglich, da die angemessene Strafe zunächst ermittelt und im Urteilstenor festgehalten werde, ohne dass die Frage einer Kompensation aufgeworfen werde. In einem nächsten Schritt könne die so ermittelte Strafe dann für Folgeentscheidungen berücksichtigt werden.[50] Nach Auffassung des BGH sorgt der Systemwechsel zudem für mehr Transparenz und Rechtssicherheit, weil das Ausmaß der zu Kompensationszwecken verringerten Strafe im Urteilstenor festgehalten wird.[51] Für das Vollstreckungsmodell spricht darüber hinaus, dass es eine Entschädigung auch in Fällen ermöglicht, in denen das Gesetz eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht. [52] Als positiv sehen es die Verantwortlichen des BGH weiter an, dass im Rahmen einer Anrechnung bei Anwendung des Vollstreckungsmodells die Zeitpunkte der Halb- und der Zwei-Drittel-Strafe schneller erreicht werden können, sodass eine Aussetzung zur Bewährung möglich wird.[53]
Dabei ist die Bedeutung der Dauer eines Verfahrens für die Strafzumessung durch die Einführung des Vollstreckungsmodells nicht aufgehoben worden; das Strafbedürfnis sinkt vielmehr weiterhin in jedem Fall, in dem ein besonders langer Zeitraum zwischen Tat und Urteil liegt. Auch sind Belastungen des Beschuldigten in Folge des sich unangemessen lang hinziehenden Strafverfahrens weiterhin auf Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen.[54] Lediglich der Aspekt einer rechtsstaats- und konventionswidrigen Verzögerung des Verfahrens wird hiervon getrennt betrachtet und unter analoger Anwendung des § 51 StGB gesondert kompensiert.[55] Daneben hält der BGH die Anwendung der §§ 59, 60 StGB, die Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153 ff. StPO oder die Annahme eines aus der Verfassung abzuleitenden Verfahrenshindernisses nach wie vor für möglich, wenn das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt. Insoweit sollen sich keine wesentlichen Unterschiede zur Rechtslage vor dem Systemwechsel ergeben.[56]
An der beschriebenen Vorgehensweise hält die Rechtsprechung nach wie vor fest.[57] So kam der BGH im Rahmen des bereits zitierten Urteils vom 5. April 2023 zu dem Schluss, dass die konventionswidrig lange Verfahrensdauer, anders als die mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten, keinen selbstständigen Strafmilderungsgrund darstellt und daher weder bei der Strafrahmenwahl noch bei der Strafzumessung im engeren Sinn als bedeutsamer Umstand Berücksichtigung findet. Auch im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung komme ihr keine Bedeutung zu.[58]
4. Seit 2011: Gesetzlicher Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren bzw. überlange strafrechtliche Ermittlungsverfahren gemäß der §§ 198 ff. GVG
Lange Zeit gab es im deutschen Recht keine Regelung, die eine ausdrückliche Rechtsschutzmöglichkeit gegen unangemessene Verzögerungen im Strafverfahren vorsah. Lediglich über Dienstaufsichtsbeschwerden, Amtshaftungsansprüche oder Untätigkeits- oder Verfassungsbeschwerden war ein Vorgehen gegen Verzögerungen ausnahmsweise möglich.[59] Dies änderte sich 2011 mit Einführung der §§ 198 ff. GVG.[60] Anlass hierfür war insbesondere eine Entscheidung des EGMR, in der die Bundesrepublik zur Einführung einer entsprechenden Rechtsschutzmöglichkeit angehalten wurde.[61]
Die §§ 198 ff. GVG sehen dabei vor, dass insbesondere präventiv gegen Verzögerungen vorgegangen werden soll. Hierzu setzt der Entschädigungsanspruch eine Verzögerungsrüge voraus, die beim Gericht des Ausgangsverfahrens schriftlich oder mündlich einzulegen ist, § 198 Abs. 3 S. 1 GVG. Über § 199 Abs. 1 GVG findet § 198 GVG grundsätzlich auch auf Straf- und Ermittlungsverfahren Anwendung.
Ob eine Verzögerung angenommen werden kann, bestimmt sich nicht nach festen Fristen, sondern ist gemäß § 198 Abs. 1 S. 2 GVG einzelfallabhängig. [62] Gemäß § 198 Abs. 3 S. 3 GVG ist im Rahmen der Verzögerungsrüge auf Umstände hinzuweisen, die für die Verfahrensförderung relevant sind und noch nicht ins Verfahren eingeführt wurden, wie beispielsweise ein drohender Wohnungsverlust.[63] Eine Wiederholung der Rüge ist bis auf Ausnahmefälle erst nach sechs Monaten möglich, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG, um die zuständigen Gerichte zu entlasten und vor „Kettenrügen“ zu schützen.[64]
Sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge kann schließlich eine Entschädigungsklage erhoben werden, § 198 Abs. 5 S. 1 GVG, sodass den Gerichten zuvor ausreichend Zeit verbleibt, auf die Rüge zu reagieren.[65] Gemäß § 198 Abs. 5 S. 2 GVG muss die Klage spätestens sechs Monate, nachdem die verfahrensbeendende Entscheidung in Rechtskraft erwachsen ist, oder sich das Verfahren anderweitig erledigt hat, erhoben werden. Nach § 198 Abs. 1 S. 1, Abs. 6 S. 1 Nr. 2 GVG kann der Entschädigungsanspruch nur durch Verfahrensbeteiligte geltend gemacht werden; in Strafverfahren sind Privatkläger keine Verfahrensbeteiligten in dem erforderlichen Sinne, § 199 Abs. 4 GVG.
Eine Entschädigung erfolgt gemäß § 198 Abs. 2 S. 2 GVG nur dann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise unzureichend ist. Näheres regelt § 198 Abs. 4 GVG, nach dem eine Wiedergutmachung auf andere Weise insbesondere dadurch erfolgen kann, dass das Entschädigungsgericht die Unangemessenheit der Verfahrensdauer feststellt.
Sollte eine Entschädigung auf andere Weise nicht in Betracht kommen, werden auch erlittene immaterielle Nachteile ersetzt, die in Strafverfahren insbesondere aufgrund psychischer Belastungen relevant werden können.[66] Um Beweisproblemen zu entgehen, statuiert § 198 Abs. 2 S. 1 GVG eine widerlegbare Vermutung, nach der im Falle einer überlangen Verfahrensdauer von immateriellen Schäden auszugehen ist. Auch zur Bemessung immaterieller Schäden hat sich der Gesetzgeber Gedanken gemacht; nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG sind unter Berücksichtigung der Praxis des EGMR pauschal 1.200 € pro Jahr zu zahlen. Auf diese Weise soll eine zügige Erledigung der Entschädigungsansprüche gewährleistet werden. Dabei kann aus Billigkeitsgründen auch ein höherer oder niedrigerer Betrag zu zahlen sein, § 198 Abs. 2 S. 4 GVG.[67] Daneben werden auch materielle Nachteile berücksichtigt.[68]
Gemäß § 199 Abs. 2 bis 4 GVG gelten für Straf- und Ermittlungsverfahren einige Besonderheiten: So ist das Entschädigungsgericht gemäß § 199 Abs. 3 S. 2 GVG an die Beurteilungen des Strafgerichts bezüglich der Angemessenheit der Verfahrensdauer gebunden.[69] Zudem sind Entschädigungen bereits für Verzögerungen im Ermittlungsverfahren möglich, § 199 Abs. 2 S. 1 GVG. Auch diese Verzögerungen sind in die Gesamtdauer des Strafverfahrens einzurechnen.[70] Weiter bestimmt § 199 Abs. 3 S. 1 GVG, dass eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise dann vorliegt, wenn Strafgericht oder Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigen; insoweit findet § 198 Abs. 4 GVG keine Anwendung. Hier soll das Vollstreckungsmodell als Form der Entschädigung auf andere Weise weiter Anwendung finden.[71] § 201 Abs. 3 S. 2 GVG bestimmt schließlich, dass das Entschädigungsverfahren auszusetzen ist, solange das Strafverfahren nicht abgeschlossen wurde.
Nachdem der BGH die Frage zunächst offenließ, [72] hat sich der 3. Strafsenat zwischenzeitlich dafür ausgesprochen, dass Gerichte auch nach Einführung der §§ 198 ff. GVG von Amts wegen über die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen unter Anwendung des Vollstreckungsmodells zu entscheiden haben, ohne dass zuvor eine Verzögerungsrüge erhoben worden sein muss.[73] Zuvor war umstritten, ob die Anwendung des Vollstreckungsmodells nach Einführung der §§ 198 ff. GVG eine Verzögerungsrüge voraussetzt. [74] Für die Rügeobliegenheit wurde etwa mit dem Gesetzeswortlaut argumentiert, der eine Rüge grundsätzlich für alle Formen der Entschädigung vorsieht.[75]
Die besseren Argumente hat indes der BGH auf seiner Seite. So hätte die volle Geltung der Rügeobliegenheit für Betroffene eine erhebliche Verschlechterung im Vergleich zur früheren Praxis bedeutet, nach der Verfahrensverzögerungen von Amts wegen zu berücksichtigten waren.[76] Gegen eine Rügeobliegenheit in Strafsachen spricht weiter die Argumentation des Gesetzgebers im Rahmen der Gesetzesbegründung. Während die Rügeobliegenheit im Zusammenhang mit dem Vollstreckungsmodell keine Erwähnung findet, betont der Gesetzgeber das Erfordernis einer Verzögerungsrüge für Entschädigungsansprüche wegen immaterieller Nachteile nach § 198 GVG. [77] Zwar ist es schwierig, aus dem bloßen Fehlen von Ausführungen Schlussfolgerungen zu ziehen. Angesichts der bisherigen Praxis in Strafsachen und der mit Einführung einer Verzögerungsrüge verbundenen Verschlechterung der Rechtslage für Betroffene hätte es jedoch nahegelegen, dass sich der Gesetzgeber hiermit im Rahmen der Gesetzesbegründung explizit auseinandersetzt.[78]
Eindeutig gegen eine Rügeobliegenheit spricht ferner die Natur des Strafprozesses. Anders als im Zivilrecht handelt es sich nicht um einen Parteiprozess, bei dem Verzögerungen beide Seiten, Kläger, wie Beklagten betreffen können. Vielmehr geht es um durch Staatsanwaltschaft und/oder Strafgerichte im Rahmen der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs verursachte Verfahrensverzögerungen, die zu Lasten des Beschuldigten gehen. Dieser ist nicht dazu verpflichtet, mit den Justizbehörden zusammen zu arbeiten oder sonst aktiv auf die Beschleunigung seines Strafverfahrens hinzuwirken.[79]
C. Besonderheiten in Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren
Grundsätzlich bestehen in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen insoweit keine Besonderheiten, als Beschuldigten auch hier ein Recht auf beschleunigte Durchführung des Verfahrens zukommt, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.[80] Auch die §§ 198 ff. GVG finden Anwendung.
Der BGH nimmt jedoch an, dass Verfahren in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen angesichts ihrer besonderen Komplexität regelmäßig länger dauern dürfen, um einen ordnungsgemäßen Gang des Verfahrens zu gewährleisten.[81] Ergänzend verweist der BGH in einer Entscheidung von 2018 darauf, dass es sich bei Steuerstrafsachen häufig nicht um Haftsachen handelt, bei denen besondere Eile geboten ist.[82]
Im Rahmen gerichtlicher Verfahren in Wirtschaftsstrafsachen bestünden Besonderheiten,[83]
„die regelmäßig einen Vorrang der Gründlichkeit vor der Schnelligkeit gebieten“.
So sei der Eingang einer Anklageschrift auch für Wirtschaftsstrafkammern nicht vorhersehbar. Erfolge eine Zuteilung, sei jede Strafkammer zunächst mit anderen Sachen ausgelastet, bei komplexen und umfangreichen Strafsachen sei es unter diesen Umständen ggf. nicht möglich, dass sich Vorsitzender und Berichterstatter sofort intensiv mit der neu eingegangenen Anklageschrift befassten. Dies sei in der Regel vielmehr nur parallel zu bereits laufenden oder anstehenden Verhandlungen möglich.[84] Berichterstatter und Vorsitzender müssten sich ferner intensiv in die Sache einarbeiten und diese gründlich vorbereiten.[85] Gleichzeitig schlage sich das gebotene gründliche Aktenstudium der Berufsrichter vor Eröffnung des Hauptverfahrens regelmäßig ebenso wenig in den Akten nieder wie die Terminierung der Hauptverhandlung. [86] Am Ende einer intensiven Vorbereitung und der Eröffnungsberatung stehe vielmehr häufig nur der aus einem Satz bestehender Eröffnungsbeschluss.[87]
Die zur sorgfältigen Vorbereitung und Terminierung erforderliche Zeit ist nach Auffassung des BGH selbst dann nicht als Zeitraum einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung anzusehen, wenn nicht näher belegt ist, wie dieser Zeitraum von dem verantwortlichen Gericht genutzt wurde.[88]
D. Fazit
Die eingangs zitierten Entscheidungen von BGH und BVerfG verdeutlichen, dass das Problem sich unangemessen lang hinziehender Strafverfahren nach wie vor aktuell ist. Sie lassen erahnen, dass sich Wissenschaft und Rechtsprechung auch künftig damit auseinandersetzen werden (müssen), wie Verzögerungen vermieden und kompensiert werden können. Denn die Ursachen, die langwierige Strafverfahren zur Folge haben, sind zu vielfältig, als dass sie mit der Einführung der §§ 198 ff. GVG hätten beseitigt werden können. Erschwerend hinzu kommt, dass nach Angaben von Ermittlungsbehörden bereits Ende Juni 2023 fast 850.000 Verfahren offen waren, die Zahl nahm im Vergleich zum Juni 2021 um 28 Prozent zu. Gleichzeitig fehlen bundesweit allein bei Staatsanwaltschaft und Strafgerichten rund 1.500 Juristinnen und Juristen.[89] Ein Ende ist nicht in Sicht, bis 2030 droht eine große „Pensionierungswelle“.[90]
Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich, inwieweit es dem Staat entsprechend der zitierten Rechtsprechung des BVerfG in Zukunft gelingen wird, die
„notwendigen Maßnahmen [zu] treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können“.
Personalmangel und Überlastung von Ermittlungsbehörden und Strafgerichten lassen befürchten, dass sich überlange Strafverfahren und die damit für Beschuldigte verbundenen
„unnütze[n] und schreckliche[n] Qualen der Ungewissheit“
auch in Zukunft nicht vermeiden lassen werden.
Wie weitreichend die Konsequenzen sein können, zeigt eine Bilanz aus 2022; allein in Hessen wurden 13 Personen aus der Untersuchungshaft entlassen, nachdem sich ihre Strafverfahren unangemessen lang hingezogen hatten, bundesweit waren es mindestes 73 Personen.[91] Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit es den Verantwortlichen gelingen wird, hierauf angemessen zu reagieren und es damit zu ermöglichen, strafgerichtliche Verfahren zu beschleunigen, ohne dass dies
„auf Kosten eines gründlichen, die unabdingbaren rechtsstaatlichen Garantien des Beschuldigten wahrenden Verfahrens“
geschieht.[92]
[1] Alff: Beccaria: Über Verbrechen und Strafen – Nach der Ausgabe von 1766, 1. Auflage 1998, S. 104.
[2] Vgl. BVerfG NJW 2023, 1564.
[3] Vgl. BVerfG StRR 2023, 38.
[4] Vgl. BGH NStZ-RR 2023, 168.
[5] Vgl. BGH NJW 2023, 1578.
[6] Vgl. Kolleck-Feser: Verfahrensverzögerungen, 1. Auflage 2015, S. 36.
[7] Vgl. Kolleck-Feser: Verfahrensverzögerungen, S. 26 f./MüKo StPO Bd. 1, 2. Auflage 2023/Böhm § 121 Rn. 1/MüKo StPO Bd. 2, 1. Auflage 2016/Arnoldi § 228 Rn. 1/Plankemann: Überlange Verfahrensdauer, 1. Auflage 2015, S. 19 f.
[8] Vgl. BVerfG StV 2006, 703/in diesem Sinne bereits BVerfG NJW 2006, 1336.
[9] Vgl. BeckOK StPO, 49. Edition Stand: 1. Oktober 2023/Krauß § 121 Rn. 18, abrufbar über: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata%2Fkomm%2FBeckOKStPO_49%2FSTPO%2Fcont%2FBECKOKSTPO%2eSTPO%2eP121%2eglD%2ehtm.
[10]Vgl. Tiwisina: Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, 1. Auflage 2010, S. 71 ff.
[11] Vgl. Plankemann: Überlange Verfahrensdauer, S. 25 f.
[12] Vgl. Kolleck-Feser: Verfahrensverzögerungen, S. 29/Plankemann: Überlange Verfahrensdauer, S. 23.
[13] Vgl. BVerfG NJW 1993, 3254 (3255)/BGH NStZ-RR 2001, 294 (294 f.)/BVerfG NJW 2003, 2225/so auch Reich: Überlange Verfahrensdauer, 1. Auflage 2011, S. 30, 34.
[14] Vgl. Reich: Überlange Verfahrensdauer, S. 30/kritisch zur Gesamtverfahrensdauer: Krehl/Eidam NStZ 2006, 1 (4 f.).
[15] Vgl. BGH NStZ-RR 2001, 294 (294 f.)/BGH NStZ-RR 2023, 114/EGMR NJW 2020, 1047 (1048)/Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer: EMRK, 5. Auflage 2023/Harrendorf/König/Voigt Art. 6 Rn. 179.
[16] Vgl. BGH NStZ-RR 2001, 294 (294 f.)/Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer: EMRRK/Harrendorf/König/Voigt Art. 6 Rn. 180.
[17] Vgl. EGMR StV 2009, 561 (562)/EGMR NJW 2020, 1047 (1048)/Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer: EMRRK/Harrendorf/König/Voigt Art. 6 Rn. 180/kritisch Kühne StV 2001, 529 (530)/Waßmer ZStW 2006, 159 (170)/ausführlich zur Frage der Einbeziehung von Verfahren vor dem BVerfG Plankemann: Überlange Verfahrensdauer, S. 43 ff.
[18] BVerfG NJW 2023, 1564 (1565 f.).
[19] Vgl. Baumanns: Der Beschleunigungsgrundsatz, 1. Auflage 2011, S. 88 ff./Reich: Überlange Verfahrensdauer, S. 31.
[20] Vgl. BGH StV 2008, 633 (634)/in diesem Sinne auch Liebhart NStZ 2017, 254 (259).
[21] Vgl. Wolter: SK-StPO Bd. X, 5. Auflage 2019/Meyer Art. 6 EMRK Rn. 287.
[22] Vgl. Wolter: SK-StPO Bd. X/Meyer Art. 6 EMRK Rn. 288/Reich: Überlange Verfahrensdauer, S. 32.
[23] Vgl. Schubert, Manuel Julius: Vorgaben des GG und der EMRK, 1. Auflage 2016, S. 76 f.
[24] Vgl. Ebd.
[25] Vgl. EGMR NJW 1979, 477 (480)/EGMR NJW 2015, 3773 (3775).
[26] Vgl. EGMR NJW 2006, 2389 (2393).
[27] Vgl. Ebd./Liebhart NStZ 2017, 254 (256).
[28] BVerfG NJW 2023, 1564 (1566).
[29] Vgl. BGH NJW 1972, 402 (402 ff.).
[30] Vgl. Reich: Überlange Verfahrensdauer, S. 38 f.
[31] Vgl. Reich: Überlange Verfahrensdauer, S. 39.
[32] Vgl. BGH NJW 1972, 402.
[33] Vgl. BVerfG NJW 1984, 967.
[34] Vgl. BGH NStZ 2001, 270 (270 f.).
[35] BVerfG NJW 1984, 967.
[36] Vgl. BVerfG 2001, 261.
[37] Vgl. BGH NJW 2007, 3294 (3294 ff.).
[38] Vgl. LG Oldenburg, Urteil vom 9. August 2006, 1 KLs 115/04, abrufbar über: https://voris.wolterskluwer-online.de/browse/document/db58cf22-6671-4215-809c-b49179d93f79.
[39] Vgl. BGH NJW 2007, 3294 (3294 f.).
[40] Vgl. BGH NJW 2007, 3294.
[41] Vgl. BGH NJW 2007, 3294 (3294 f.).
[42] Vgl. BGH NJW 2007, 3294.
[43] BGH NJW 2007, 3294 (3295).
[44] Vgl. BGH NJW 2007, 3294 (3296).
[45] BGH NJW 2007, 3294.
[46] BGH NJW 2008, 860.
[47] Vgl. BGH NJW 2008, 860 (860, 863).
[48] BGH NJW 2008, 860 (866).
[49] Vgl. BGH NJW 2007, 3294 (3297)/zustimmend BGH NJW 2008, 860 (861).
[50] Vgl. Ebd./zustimmend BGH NJW 2008, 860 (865).
[51] Vgl. Ebd.
[52] Vgl. BGH NJW 2008, 860 (863).
[53] Vgl. BGH NJW 2008, 860 (866).
[54] Vgl. BGH NJW 2008, 860 (865).
[55] Vgl. Ebd.
[56] Vgl. BGH NJW 2008, 860 (866).
[57] Vgl. BGH NZWiSt 2018, 347/BGH 2. Strafsenat, Beschluss vom 2.März 2022 – 2 StR 541/21, BeckRS 2022, 13525 Rn. 6/BGH NStZ-RR 2023, 168.
[58] Vgl. BGH NStZ-RR 2023, 168/in diesem Sinne auch Miebach NStZ-RR 2023, 168 (169).
[59] Vgl. Graf NZWiSt 2012, 121 (122)/Lansnicker/Schwirtzek NJW 2001, 1969 (1973) zu der Rechtslage vor Einführung der §§ 198 ff. GVG/zur Frage der Untätigkeitsbeschwerde in Strafsachen nach Einführung der §§ 198 ff. GVG vgl. OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2013, 264, das diese für unstatthaft hält.
[60] Vgl. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011, BGBl. 2011 Teil I Nr. 60, S. 2302 ff., abrufbar über: https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/BGBl/Gesetz_ueber_den_Rechtsschutz_bei_ueberlangen_Gerichtsverfahren_und_strafrechtlichen_Ermittlungsverfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=3.
[61] Vgl. EGMR NJW 2010, 3355.
[62] Vgl. Graf NZWiSt 2012, 121 (123).
[63] Vgl. Söhngen NZS 2012, 493 (496)/kritisch hierzu BRAK: Stellungnahme zu dem „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“, S. 9, die die Regelung vor dem Hintergrund des Nemo-tenetur-Grundsatzes für problematisch hält und in Folge der Mitteilung entsprechender Umstände u.a. den Erlass eines Haftbefehls wegen Fluchtgefahr befürchtet, abrufbar über: https://www.brak.de/fileadmin/05_zur_rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2010/dezember/stellungnahme-der-brak-2010-37.pdf.
[64] Vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 21, abrufbar über: https://dserver.bundestag.de/btd/17/038/1703802.pdf.
[65] Vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 22.
[66] Vgl. Graf NZWiSt 2012, 121 (124).
[67] Vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 20/Graf NZWiSt 2012, 121 (124 f.)/Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010, 205 (206).
[68] Vgl. Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010, 205 (206).
[69] Vgl. Graf NZWiSt 2012, 121 (127).
[70] Vgl. Graf NZWiSt 2012, 121 (128), der sich dafür ausspricht, zu berücksichtigen, ob der Beschuldigte seine Rügeobliegenheit schuldhaft verletzt hat.
[71] Vgl. Schmidt: Überlange Strafverfahren, 1. Auflage 2018, S. 101, 109.
[72] Vgl. BGH 5. Strafsenat, Beschluss vom 5. Dezember 2012 – 1 StR 531/12, BeckRS 2013, 981/BGH NStZ-RR 2015, 23/BGH 5. Strafsenat, Beschluss vom 10. Mai 2016 – 5 StR 116/16, BeckRS 2016, 9871/BGH 5. Strafsenat, Beschluss vom 31. August 2016 – 5 StR 359/16, BeckRS 2016, 16166.
[73] Vgl. BGH 3. Strafsenat, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 3 StR 99/19, BeckRS 2020, 18293 Rn. 34 ff.
[74] Vgl. Plankemann: Überlange Verfahrensdauer, S. 197 ff.
[75] Vgl. Sommer StV 2012, 107 (110).
[76] Vgl. Graf NZWiSt 2012, 121 (127)/Schmidt: Überlange Strafverfahren, S. 110 f.
[77] Vgl. BT- Drucks. 17/3802, S. 24.
[78] Vgl. Schmidt: Überlange Strafverfahren, S. 110 f.
[79] In diesem Sinn auch BRAK: Stellungnahme zu dem „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ (BR-Drucksache 540/10), S. 8 f.
[80] Vgl. BGH NZWiSt 2018, 347 (348).
[81] Vgl. BGH NStZ 2008, 457 (458)/BGH DStRE 2012, 508 (512)/BGH NZWist 2018, 347 (348).
[82] Vgl. BGH NZWist 2018, 347 (348).
[83] BGH DStRE 2012, 508 (512).
[84] Vgl. Ebd.
[85] Vgl. BGH NStZ 2008, 457 (458)/BGH DStRE 2012, 508 (512)/BGH NZWist 2018, 347 (348).
[86] Vgl. BGH DStRE 2012, 508 (512)/zustimmend Liebhart NStZ 2017, 254 (259).
[87] Vgl. BGH DStRE 2012, 508 (512).
[88] Vgl. Ebd.
[89] Vgl. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/rekord-offene-verfahren-100.html.
[90] Vgl. Ebd.
[91] Vgl. https://www.hessenschau.de/panorama/13-verdaechtige-in-hessen-wegen-zu-langer-verfahren-aus-u-haft-entlassen-v1,untersuchungshaft-100.html.
[92] Hillenkamp JR 1975, 133 (135).