Aktuelle Rechtsprechung zum Wirtschafts- und Insolvenzstrafrecht
I. Strafprozessrecht
1. Wiedereinsetzung bei als Verteidiger ignoriertem Steuerberater – § 44 StPO
Verteidigt ein Steuerberater den Beschuldigten eines Steuerstrafverfahrens, hat ein Wiedereinsetzungsantrag Aussicht auf Erfolg, wenn der Berufsangehörige von dem Erlass eines Strafbefehls nicht unterrichtet wird und deswegen ein fristgerechter Einspruch unterbleibt.
LG Köln, Beschluss vom 17.04.2023, 116 Qs 2/23, n.v.
Führt die Finanzbehörde Steuerstrafverfahren in eigener Zuständigkeit, können Steuerberater uneingeschränkt zu alleinigen Verteidigern gewählt werden (§ 392 Abs. 1 AO i. V. m. § 138 StPO). Diese Befugnis betrifft das gesamte finanzbehördliche Verfahren. Sie endet erst, wenn Staatsanwaltschaft und Gericht mit der Sache befasst sind. Es ist zwar umstritten, ob Steuerberater in diesen Fällen noch wirksam Einspruch gegen einen von der Finanzbehörde beantragten Strafbefehl einlegen können (umfassend zum Streitstand s. Jäger, in: Klein, AO, 17. Aufl. 2024, § 392 Rn. 2). Selbst wenn man die Berechtigung verneint, hat das Gericht den verteidigenden Berufsangehörigen aber über den Strafbefehl zu unterrichten. Der Beschuldigte muss sich darauf verlassen können, dass sein Verteidiger vom Erlass eines Strafbefehls erfährt, die Frist für einen möglichen Einspruch selbstständig überwacht und sich mit dem Mandanten zwischenzeitlich berät bzw. entscheidet, ob Rechtsbehelfe eingelegt werden sollen.
Zu der Entscheidung vgl. Schützeberg, jurisPR-SteuerR 38/2023 Anm. 1, sowie Weyand, KP 2024, 18.
2. (Kein) Teilverzicht auf die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts – § 52 StPO
Gestattet ein Zeuge trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO die Verwertung früherer Aussagen, so kann er dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Ein Teilverzicht führt vielmehr dazu, dass sämtliche früheren Angaben – mit Ausnahme richterlicher Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht – unverwertbar sind.
BGH, Beschluss vom 18.10.2023 – 1 StR 222/23, StraFo 2024, 50
Der BGH hat diese Rechtsfrage jetzt erstmals entschieden; sie wurde zuvor explizit offengelassen durch BGH, Urteil vom 30.06.2020 – 3 StR 377/18, NStZ 2020, 741.
3. Anforderungen an die Begründung eines Durchsuchungsbeschlusses – § 102 StPO
Ein Durchsuchungsbeschluss wegen Steuerhinterziehung ist rechtswidrig, wenn er keine Angaben zur tatbestandsmäßigen Erklärungshandlung enthält, also dazu, durch welches Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen die Hinterziehung begangen worden sein soll.
LG Nürnberg, Beschluss vom 07.06.2023 – 12 Qs 24/23 – StraFo 2023, 315.
Der Entscheidung zustimmend Rixe/Hölters, jurisPR-StrafR 19/2023 Anm. 3. Ist die Durchsuchungsanordnung mangels ausreichender Begründung rechtwidrig, hindert dies nach Auffassung derselben Kammer die spätere Beschlagnahme der bei der Durchsuchung sichergestellten Unterlagen indes nicht, wenn die Ermittlungsakte bei Erlass der Durchsuchungsanordnung einen hinreichenden Tatverdacht belegt. Insoweit besteht dann auch kein Beweisverwertungsverbot; vgl. LG Nürnberg, Beschluss vom 13.11.2023 – 12 Qs 72/23, StraFo 2024, 19.
Die Mindeststandards, die beim Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses zu beachten sind, hat das BVerfG im Übrigen unlängst erneut deutlich gemacht; s. BVerfG, Beschluss vom 19.04.2023 – 2 BvR 2180/20, NStZ-RR 2023, 216, sowie Travers/Gallus, jurisPR-Compl 5/2023 Anm. 2.
4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsuchungen – § 102 StPO
Eine Durchsuchung beim Beschuldigten ist nicht bereits deshalb unzulässig, weil lediglich die Einkommensverhältnisse des Beschuldigten ermittelt werden sollten. Nach § 160 Abs. 3 S. 1 StPO haben sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nämlich auch auf Umstände zu erstrecken, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind. Dazu zählen die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Beschuldigten zwecks Bestimmung der Tagessatzhöhe. Stehen grundrechtsschonende alternative Ermittlungshandlungen, wie etwa bislang unterbliebene Nachfragen beim Verteidiger des Beschuldigten oder Auskünfte einer Besoldungsstelle bzw. eine Schätzung auf der Grundlage des § 40 Abs. 3 StGB zur Verfügung, ist eine Durchsuchung beim Beschuldigten jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn lediglich Ehrverletzungsdelikte Gegenstand der Ermittlungen sind.
BVerfG, Beschluss vom 15.10.12023 – 1 BvR 52/23, StraFo 2024, 16
Dem Tatrichter steht eine Schätzungsbefugnis (§ 40 Abs. 3 StGB) zu, sofern entweder der Angeklagte keine oder unrichtige Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen macht oder deren Ermittlung zu einer unangemessenen Verzögerung des Verfahrens führen würde bzw. der erforderliche Aufwand nicht im Verhältnis zur Höhe der Geldstrafe stehen würde; vgl. BGH, Beschluss vom 25.04.2017 – 1 StR 147/17, StraFo 2017, 338.
5. Antragsberechtigung im Adhäsionsverfahren – § 403 StPO
Antragsberechtigt im Adhäsionsverfahren ist auch, wer einen fremden Anspruch im eigenen Namen im Wege gewillkürter Prozessstandschaft geltend macht.
BGH, Beschluss vom 14.11.2023 – 6 StR 495/23, ZinsO 2024, 143
Im Adhäsionsverfahren ist antragsbefugt, wer einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch geltend macht. Dies begründet eine Antragsbefugnis auch für Personen, die nicht unmittelbare oder mittelbare Verletzte der Tat oder deren Erben sind. Der Antragssteller kann deshalb als Rechtsnachfolger des Verletzten, namentlich im Wege des vertraglichen (vgl. § 398 BGB) oder gesetzlichen Forderungsübergangs (vgl. § 116 Abs. 1 SGB X), einen eigenen Anspruch oder – nach Ermächtigung durch den Verletzten – einen fremden Anspruch im eigenen Namen geltend machen. Eine gewillkürte Prozessstandschaft ist zulässig, wenn der Prozessführende vom Rechtsinhaber zu dieser Art der Prozessführung ermächtigt worden ist und er ein eigenes schutzwürdiges – auch wirtschaftliches – Interesse an ihr hat. Dies ist der Fall, wenn eine Muttergesellschaft Ansprüche einer Tochtergesellschaft verfolgt.
Zum Adhäsionsverfahren als Mittel der Massemehrung vgl. grundlegend Weyand, ZInsO 2013, 865. Der BGH hat mittlerweile das Recht des Insolvenzverwalters, Ansprüche des Schuldners dergestalt geltend zu machen, zumindest für die Forderungen bejaht, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind; vgl. BGH, Beschluss vom 26.10.2021 – 4 StR 145/21; ZInsO 2021, 2740. Ein Adhäsionsantrag im Sicherungsverfahren ist indes nicht statthaft, BGH, Beschluss vom 12.04.2023 – 4 StR 468/22, NStZ-RR 2023, 383.
6. (Nicht-)Bescheidung von Querulanten und Rechtsschutzgarantie – Art. 20 GG
Aus der Rechtsschutzgarantie (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgt zwar im Grundsatz die Pflicht, über Anträge oder Eingaben auch dann förmlich zu entscheiden, wenn das Gericht mehrfach und in ähnlichen Fällen angerufen wird. Allerdings findet dieser Grundsatz eine Grenze, wenn Anträge offensichtlich aussichtslos und immer nach demselben Muster gestellt werden. Die Rechtsschutzgarantie fordert nämlich nicht, dass eindeutig missbräuchliche Anträge, die einen Streit in derselben Sache lediglich verlängern, fortwährend verbeschieden werden.
BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – 2 ARs 166/21, NStZ-RR 2024, 23
Siehe zu der Problematik bereits BGH, Beschluss vom 28.02.2023 – 2 ARs 65/22, NStZ-RR 2023, 287.
II. Materielles Strafrecht
1. Selbständige Einziehung bei verjährter Straftat – § 73 StGB
Das Gericht kann die selbständige Einziehung des durch oder für eine verjährte Straftat erlangten Ertrages oder dessen Wertes nach § 76a Abs. 2 S. 1 StGB im subjektiven Verfahren mit dem Urteil anordnen, durch das es das Verfahren hinsichtlich dieser Tat einstellt; in einem solchen Fall bedarf es mithin nicht des Übergangs in das objektive Verfahren gemäß §§ 435 ff. StPO.
BGH, Beschluss vom 23.05.2023 – GSSt 1/23, StraFo 2024,53
Die Rechtsfrage wurde bislang von den Strafsenaten des BGH unterschiedlich beantwortet; s. zusammenfassend BGH-Beschlüsse vom 04.05.2022 – 1 ARs 13/21, NStZ-RR 2022, 255, und vom 23.06.2022 – 2 ARs 405/21, NStZ-RR 2023, 121, sowie BGH-Beschlüsse vom 30.03.2022 – 4 ARs 15/21,n.v., und vom 20.01.2022 – 5 ARs 28/21, wistra 2022, 165.
2. Einziehung bei Insiderhandel – §§ 73, 73d StGB
Bei Insidergeschäften (hier: front running) unterliegt der für jede einzelne Erwerbstat erzielte Vermögenszufluss der Einziehung; Aufwendungen für den Erwerb der durch verbotenen Insiderhandel angeschafften Derivate unterfallen dem Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 S. 2 StGB und sind nicht zu berücksichtigen.
BGH, Beschluss vom 08.02.2023 – 2 StR 204/22, wistra 2023, 466.
Zu der Entscheidung s. die Anm. von Pananis, ZWH 2023, 159, und von Rönnau/Saathoff, JR 2024, 45.
3. Einziehung von Taterträgen beim Bankrott – § 73 StGB
Nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB beiseite geschaffte oder verheimlichte Gegenstände oder wirtschaftliche Vorteile sind Taterträge im Sinne des § 73 Abs. 1 Alternative 1 StGB. Gegenstände, die der Täter oder ein Einziehungsbeteiligter als Wertersatz hinterlegt hat, um die Freigabe eines beschlagnahmten Rechts zu bewirken, unterliegen, ungeachtet dessen, dass insoweit § 111d Abs. 2 S. 2 StPO keine (analoge) Anwendung findet, der Einziehung, sofern das später erkennende Gericht die Voraussetzungen der Einziehung des beschlagnahmten Rechts feststellt.
BGH, Beschluss vom 14.06.2023 – 1 StR 327/22, ZInsO 2023, 2169.
Zu der Entscheidung s. die Anm. Meißner, NZI 2023, 978, sowie erschöpfend Heindorf, ZRI 2024, 137. Siehe überdies bereits BGH, Beschluss vom 14.03.2016 – 1 StR 337/15, ZInsO 2016, 792, m. Anm. Brand, NJW 2016, 1528.
4. Eingehungsbetrug und unwirksames Immobiliengeschäft – § 263 StGB
Mit dem Abschluss eines schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfts kann ein von § 263 Abs. 1 StGB erfasster Vermögensnachteil eintreten, wenn der getäuschte Vertragspartner Verpflichtungen eingeht und diese nach dem Prinzip der Gesamtsaldierung wertmäßig nicht durch erlangte Gegenansprüche kompensiert werden, also sich bei Gegenüberstellung der wechselseitigen Verpflichtungen der Vertragsparteien ein Negativsaldo zum Nachteil des Getäuschten ergibt. Ist der Vertrag aber wegen eines Formmangels gemäß § 125 BGB nichtig, entstehen keine wechselseitigen Ansprüche, so dass ein Verstoß gegen § 263 StGB nicht vorliegt.
BayObLG, Beschluss vom 26.09.2023 – 202 StRR 68/23, ZInsO 2023, 2455.
Ein Vermögensschaden im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB tritt ein, wenn die irrtumsbedingte Vermögensverfügung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts des Vermögens des Verfügenden führt (sogenanntes „Prinzip der Gesamtsaldierung“; st. Rspr., vgl. jüngst BGH, Urteil vom 01.06.2023 – 4 StR 225/22, medstra 2023, 384 m.w.N.). Wurde der Getäuschte zum Abschluss eines Vertrages verleitet, sind bei der für die Schadensfeststellung erforderlichen Gesamtsaldierung der Geldwert des erworbenen Anspruchs gegen den Vertragspartner und der Geldwert der eingegangenen Verpflichtung miteinander zu vergleichen. Der Getäuschte ist geschädigt, wenn sich dabei ein Negativsaldo zu seinem Nachteil ergibt. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Vermögensverfügung, also der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor und nach der Verfügung.
5. Leichtfertige Geldwäsche bei Finanzagenten – § 261 StGB
Leichtfertige Geldwäsche ist zu bejahen, wenn sich bei Begründung eines Arbeitsverhältnisses zu viele Merkwürdigkeiten ergeben, unter anderem, dass die vereinbarte Tätigkeit für ihre Schwierigkeit (zu) gut entlohnt wird, wirtschaftlich keinen Sinn gibt, Kontakte zu mutmaßlichen Kollegen unterbunden werden und/oder Geldbewegungen über Privatkonten gefordert werden.
LG Hildesheim, Urteil vom 12.10.2023, 25 NBs 5/23, AGS 2023, 523
6. Rechtsbeugung bei Opportunitätseinstellungen – § 339 StGB
Der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung ist nicht verwirklicht, wenn sich der Beschuldigte nicht bewusst und in schwerwiegender Art und Weise von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln nicht an eigenen Maßstäben statt an Recht und Gesetz ausrichtet. Hieran fehlt es auch dann, wenn eine Amtsanwältin Ermittlungsakten bearbeitet, ihre Einstellungsentscheidungen unter Abwägung der daraus ersichtlichen Umstände – mithin unter Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens –letztlich ermessensfehlerhaft trifft.
BGH, Urteil vom 15.03.2023 – 2 StR 217/22, Kriminalistik 2024, 60
Täter des § 339 StGB kann mithin nur sein, wer einerseits die Unvertretbarkeit seiner Rechtsansicht zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, er sich andererseits der grundlegenden Bedeutung der verletzten Rechtsregel für die Verwirklichung von Recht und Gesetz auch bewusst ist.
Zu der Entscheidung s. die Anm. v. Beukelmann/Heim, NJW-Spezial 2023, 729.
III. Recht der Ordnungswidrigkeiten
Keine mathematische Berechnung der verwirkten Bußgeldhöhe – § 17 Abs. 4 OWiG
Bei der Bemessung der Geldbuße sind verwaltungsinterne Bußgeldrichtlinien für die Gerichte nicht von maßgeblicher Bedeutung. Eine mathematische Berechnung der Bußgeldhöhe sieht das geltende Recht nicht vor. Vielmehr hat das Tatgericht die Bußgeldhöhe aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung aller hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte zu bestimmen. Die Berücksichtigung des wirtschaftlichen Vorteils im Sinne des § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG bei der Bemessung der Bußgeldhöhe setzt voraus, dass das Tatgericht konkrete Feststellungen dazu trifft, welche Vorteile der Täter durch die Begehung der Ordnungswidrigkeit tatsächlich gezogen hat.
BayObLG, Beschluss vom 06.11.2023 – 202 ObOWi 1122/23, n.v.
Zu der Entscheidung Rathgeber, FD-StrafR 2023, 820540.
IV. Zivilrechtliche Entscheidung mit strafrechtlicher Relevanz
1. Einbeziehung Dritter in der Schutzbereich eines Mandatsvertrags – § 675 BGB
Die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich des zwischen Rechtsberater und Mandant geschlossenen Mandatsvertrags ist nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil dem Berater im Verhältnis zum Mandanten nur eine Schutz- oder Fürsorgepflichtverletzung zur Last fällt. Die Hinweis- und Warnpflicht des Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund kann Drittschutz für den Geschäftsleiter der juristischen Person oder Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit entfalten; Voraussetzung ist ein Näheverhältnis zu der nach dem Mandatsvertrag geschuldeten Hauptleistung. In den Schutzbereich des Vertrags bei Verletzung der Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund kann auch ein faktischer Geschäftsleiter einbezogen sein.
BGH, Urteil vom 29.06.2023 – IX ZR 56/22, ZInsO 2023, 1833.
Zu der Entscheidung vgl. Schubert, jurisPR-InsR 13/2023 Anm. 2, Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 24/2023 Anm. 3, sowie Utsch, NZG 2023, 1641. Allgemein zur Insolvenzverschleppungshaftung von Steuerberatern und Abschlussprüfern Brügge, DStR 2023, 1672. S. überdies Kirstein, ZInsO 2023, 2485.
2. Schadensersatzpflicht des Gesellschaftsorgans – § 43 GmbHG, § 93 AktG
Vorstand bzw. Geschäftsführer einer juristischen Person haften nicht persönlich für Kartell-Geldbußen eines Unternehmens.
OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.07.2023 – VI-6 U 1/22 (Kart), ZWH 2023, 354
Das Urteil ist bislang nicht rechtskräftig. Zu der Entscheidung vgl. Dreher, AG 2023, 845, Gaßner/Kreis, jurisPR-Compl 5/2023 Anm. 1, Aufterbeck, jurisPR-HaGesR 11/2023 Anm. 2, sowie Bünnemann, ZIP 2023, 2669.
3. Einsichtsrecht für Insolvenzverwalter in Handakten einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft – § 675 BGB
Wirtschaftsprüfer werden nicht nur im öffentlichen Interesse, sondern auch im Interesse der geprüften Gesellschaften tätig. Sie unterliegen damit grundsätzlich im selben Umfang der Auskunfts- und Herausgabepflicht in Bezug auf ihre Handakten wie Rechtsanwälte und Steuerberater.
OLG Stuttgart, Urteil vom 12.12.2023 – 12 U 216/22, ZIP 2024, 245
In der entschiedenen Sache verlangte der Insolvenzverwalter der Wirecard AG und der Wirecard Technologies GmbH von deren früherer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erfolgreich Auskunft über die in deren Handakten befindlichen Unterlagen sowie verschiedene allgemeine Auskünfte zur Frage, warum Jahresabschlüsse testiert worden sind. Das OLG hat die Entscheidung der Vorinstanz weitestgehend bestätigt, s. LG Stuttgart, Urteil vom 15.10.2022 – 31 O 125/21 KfH, DStR 2023, 478 m. Anm. Wacker.
Zu mandatsbezogenen Vorlagepflichten und Zurückbehaltungsrechten vgl. umfassend Wacker, DStR 2022, 1172.
4. Zeugnisverweigerungsrecht im Anfechtungsprozess – § 125 InsO, §§ 383, 384 ZPO
Begründet der Zeuge im Zwischenstreit das Recht zur Zeugnisverweigerung einerseits mit der Verwandt- oder Schwägerschaft zur Partei und andererseits mit der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung, handelt es sich um zwei unterschiedliche Verfahrensgegenstände. Erklärt das erstinstanzliche Gericht die Zeugnisverweigerung nur aus einem der beiden Weigerungsgründe für rechtmäßig, fällt der andere Weigerungsgrund in der Beschwerdeinstanz nur an, wenn der Zeuge insoweit Beschwerde oder Anschlussbeschwerde einlegt.
BGH, Beschluss vom 20.07.2023 – IX ZB 7/22, ZInsO 2023, 2515.
5. Kostenentscheidung bei einem Antrag auf einstweilige Verfügung gegen eine Kontensperre im Zusammenhang mit einer Geldwäscheverdachtsmeldung (§ 43 GwG) – § 91a ZPO
Im Rahmen einer nach § 91a Abs. 1 ZPO zu treffenden Kostenentscheidung ist der Rechtsgedanke des § 21 Abs. 1 S. 3 GKG zu berücksichtigen, wenn der Antragsteller aufgrund des Verbots der Informationsweitergabe (§ 47 GwG) keinerlei Kenntnis davon hatte, warum ihm der Zugriff auf sein Kontoguthaben verwehrt wurde, und er deswegen unverschuldet nicht in der Lage war, die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens einzuschätzen. Von der Erhebung der Gerichtskosten ist in einem solchen Fall daher abzusehen.
LG Stuttgart, Beschluss vom 6.07.2023 – 6 O 234/22, JurBüro 2023, 584.
Ausführlich zu der Entscheidung und allgemein zu den bankrechtlichen Implikationen der Geldwäscheverdachtsprüfung sowie dem möglichen Rechtsschutzverfahren Nieding/Lungershausen, jurisPR-BKR 12/2023 Anm. 1.
V. Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen mit wirtschaftsstrafrechtlicher Relevanz
1. Zweifel an der Zuverlässigkeit im Sicherheitsüberprüfungsverfahren – § 5 SÜG
Verschweigt die im Sicherheitsüberprüfungsverfahren zu überprüfende Person eine Bewährungsstrafe wegen Steuerhinterziehung, resultieren hieraus Zuverlässigkeitszweifel.
VG Berlin, Beschluss vom 25.07.2023 – 4 L 163/23, n.v.
2. Berücksichtigung länger zurückliegende Straftaten im Gewerbeuntersagungsverfahren – § 35 GewO
Die Frage, ob länger zurückliegende Straftaten einem Gewerbetreibenden im Rahmen eines Gewerbeuntersagungsverfahrens oder eines Widerrufverfahrens bezüglich einer Reisegewerbekarte noch entgegengehalten werden dürfen, ist auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller einschlägigen Umstände zu beantworten, in die namentlich die Art und die Umstände der Delikte sowie die Entwicklung der Persönlichkeit des Betroffenen einzubeziehen sind.
BayVGH, Beschluss vom 24.08.2023 – 22 ZB 22.1282, GewArch 2023, 464.
Zu der Entscheidung Gehm, AO-StB 2023, 342.
VI. Finanzgerichtliche Entscheidungen mit wirtschaftsstrafrechtlicher Relevanz
1. Vorläufiger Rechtsschutz gegen Insolvenzantrag des Finanzamts – § 14 InsO, § 114 FGO
Ein Insolvenzantrag steht als (Gesamt-)Vollstreckungsmaßnahme im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde, das sich insbesondere am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu orientieren hat. Dabei darf der Insolvenzantrag nur nach gründlicher Würdigung aller maßgebender Umstände und möglicher Folgewirkungen gestellt werden. Da die Wirkungen eines erfolgreichen Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder seiner Ablehnung wegen fehlender Masse weitreichend und regelmäßig nicht wieder rückgängig zu machen sind, folgt hieraus regelmäßig zugleich ein Anordnungsgrund, der wegen der Dringlichkeit der Entscheidung dabei regelmäßig auch keiner weiteren Glaubhaftmachung bedarf.
FG Hessen, Beschluss vom 03.08.2022 – 10 V 640/22, ZInsO 2023, 2709.
2. Arglistige Täuschung des Registergerichts – § 123 BGB
Wird die Zuständigkeit des Registergerichts bzw. des inländischen Gerichtsstands durch arglistige Täuschung über vorgeblich vorhandenes Inlandsvermögen einer Ltd. erschlichen, entfaltet dessen Beschluss zur Bestellung eines Nachtragsliquidators im finanzgerichtlichen Verfahren keine Bindungswirkung.
FG Köln, Beschluss vom 24.04.2023 – 14 K 3066/15, ZInsO 2023, 2567.
Zu den steuerlichen Folgen der Löschung einer britischen Limited aus dem britischen Handelsregister nach dem 31. 12. 2020 s. BMF-Schreiben vom 19.07.2023 – IV C 2 – S 2701/19/10001 :004 (2023/0622745), DZWIR 2023, 579.