Tagungsbericht: WisteV-wistra-Neujahrstagung 2024
Unter dem Titel „Ähnliche Fragen, andere Antworten – Das deutsche Wirtschaftsstrafrecht im Spiegel anderer Rechtsordnungen“ fand am 19. und 20. Januar 2024 in Frankfurt am Main die 15. WisteV-wistra-Neujahrstagung zu aktuellen wirtschafts- und steuerstrafrechtlichen Fragestellungen statt. Im Fokus der in diesem Jahr international ausgerichteten Veranstaltung standen die Themenblöcke „Rechtsvergleichender Blick in die USA“ am Freitag sowie der „Blick nach Europa“ am Samstag. Neben den informativen Vorträgen lebte auch die zurückliegende Veranstaltung wieder von angeregter Diskussion und dem Austausch der Teilnehmer und Teilnehmerinnen sowohl aus der praxisorientierten als auch aus der wissenschaftlichen Perspektive.
Traditionell eröffnet wurde die Veranstaltung durch das Grußwort von RA Dr. Thomas Nuzinger, der von dem in der täglichen Beratungstätigkeit seiner Wahrnehmung nach ständig zunehmenden Einfluss ausländischer Rechtsordnungen und internationaler rechtlicher Rahmenbedingungen auf das Wirtschaftsstrafrecht berichtete.
Die thematische Einführung in die Tagung übernahm sodann Prof. Dr. Christoph Burchard, LL.M. (NYU), Universität Frankfurt a.M., mit einer Übersicht über die methodischen Grundlagen der Rechtsvergleichung. Hierbei thematisierte er insbesondere die terminologischen Besonderheiten bei vom Wortlaut her scheinbar identischen rechtlichen Begriffen in verschiedenen Rechtsordnungen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten für die Rechtsvergleichung, insbesondere in der justiziellen Praxis. Mit dem Fokus auf das „Comparative Law“ im engeren Sinne („Law in Books“, „Law in Action“, „Legal Regimes”) schwenkte Burchard auf die Bedeutung sog. Comparative Studies ein und wies auf den Einfluss ökonomischer, ökologischer und sozial-gesellschaftlicher Kontexte des Rechts bei der Entstehung einer „Comparative Jurisprudence“ hin, über die eine internationale Perspektive in der Rechtsprechung zunehmend Fuß fasse.
Burchard hob hervor, dass Zahlen und Statistiken allein die eigentliche Relevanz des Unternehmensstrafrechts in den USA nicht verlässlich abbildeten. Als Beispiel für die unterschiedliche Herangehensweise bei der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung nannte Burchard den sog. Dieselabgas-Skandal, der in Europa auf der Grundlage eines vorherrschenden neoliberal-anthropozentrischen Weltbildes diskutiert werde, das sich in anderen Rechtsordnungen in einem zunehmend posthumanen, planetaren Weltbild mit der Zuschreibung von Rechten an die Natur aus einer völlig anderen Perspektive darstelle. Weiterhin zur Sprache kamen die sog. kriminalpolitische Rechtsvergleichung (im EU-Kontext) und die auf Joachim Vogel zurückgehende instrumentale Strafrechtsvergleichung am Beispiel der langjährigen Entwicklung von einem Corpus Juris (Project for the Criminalisation of the Legal Protection of the Financial Interests of the European Union [1998]) bis zur Herausbildung einer in der Strafverfolgung bereits nach kurzer Zeit etablierten Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), über die am zweiten Tag der Tagung noch ausführlich gesprochen werden sollte.
Als Beispiel für die praktische Rechtsvergleichung einerseits und die Grenzen einer Fremdrechtskontrolle andererseits fungierte das Urteil des EuGH (GK) vom 31.1.2023 (C-158/21) in der Rechtssache Puig Gordi et. al. Dort ging es um ein von der belgischen Justiz geltend gemachtes Hindernis für die Vollstreckung eines aus Spanien stammenden und gegen katalanische Separatisten ausgestellten Europäischen Haftbefehls (EuHb). Dessen Vollstreckung hatten die belgischen Gerichte aufgrund bestehender Bedenken hinsichtlich der Zuständigkeit der den EuHb ausstellenden Behörde („Justizbehörde“) verweigert. Problematisiert wurde dabei u.a. die Kompetenz der belgischen Gerichte zur Auslegung des spanischen Rechts. Der EuGH entschied, dass der vollstreckenden Justizbehörde keine Prüfkompetenz bezüglich der Frage zukomme, ob ein EuHb im Ausstellungsmitgliedstaat von einer dafür zuständigen Justizbehörde ausgestellt worden sei. Weiterhin bestehe nicht die Möglichkeit der Ablehnung der Vollstreckung, wenn die Rechtsansicht vertreten werde, dass keine Justizbehörde den EuHb ausgestellt habe. Ein solches Überprüfungsrecht der vollstreckenden Justizbehörde würde dieser ein Kontrollrecht über die rechtliche Beurteilung der im Ausstellungsmitgliedstaat erlassenen verfahrensrechtlichen Entscheidungen zuerkennen, was dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderliefe.[1] Am Schluss seiner Ausführungen porträtierte Burchard noch kurz die judikative Rechtsvergleichung als möglichen Motor der Grundrechtsentwicklung in der Europäischen Union.
Mit ihrem Vortrag „Selbstverständnis, Stoßrichtung und rechtlicher Rahmen für (wirtschafts-) strafrechtliche Beratung und Verteidigung in den USA und Deutschland“ startete RAin Dr. Annette Rosskopf, LL.M., Attorney at Law (NY), den rechtsvergleichenden Blick in die USA. Im Mittelpunkt stand dabei die Law Firm als Wirtschaftsunternehmen im Kontrast zur Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege. Rosskopf wies darauf hin, dass man Strafverteidigung in den USA von einem ganz anderen Staatsverständnis aus denken müsse – mit weitreichenden Fehlvorstellungen beim wechselseitigen Diskurs. Das US-amerikanische Strafrecht, das nicht dem Legalitätsprinzip unterliege, sei geprägt vom Vertrauen in Liberalismus und in das Individuum. Züge eines „reactive state“ gebe es aber auch in dortigen Strafverfahren, die ihrerseits geprägt seien durch einen adversatorischen Parteiprozess. Der Verteidiger habe in den USA mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch mehr prozessuale Pflichten. Zentral sei dabei das Grundrecht des Beschuldigten auf Assistance of Councel (Sixth Amendment zur US-Constitution von 1791). Das dem Opportunitätsprinzip und der Dispositionsmaxime unterliegende amerikanische Strafverfahren biete den Strafverfolgungsbehörden eine erhebliche „Machtfülle“. Konsensuale Arten und Wege der Verfahrenserledigung gebe es auch jenseits eines formalisierten Verfahrens wie es etwa den §§ 153 ff. StPO zugrunde liege. Der „Deal“ sei in den allermeisten Fällen der anzustrebende Ausgang des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft bestimme die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes, das Gericht sei nicht eingebunden in die Beweisaufnahme. Der Verteidiger selbst habe daher die Pflicht, den Sachverhalt zu ermitteln und auch Zeugen zu kontaktieren, als Elemente einer „effektiven“ Verteidigung – für das deutsche Strafverfahren eine nahezu undenkbare konzeptionelle Herangehensweise. Am Schluss gab Rosskopf einen Ausblick auf die Unternehmensverteidigung und die Figur der Corporate Criminal Liability als Grundlage eines sich in den USA rasant entwickelnden Unternehmensstraf- und -strafverfahrensrechts.
Internal Investigations seien für Amerikaner selbstverständliche Beratungspraxis, resultierend aus einem Denken in Risikosphären: die Kosten notwendiger Sachverhaltsermittlungen zu einem strafrechtlich u.U. relevanten Vorgang blieben beim Unternehmen, nicht beim Steuerzahler. Das Unternehmen erhalte dafür die Möglichkeit der Exkulpation. Sehr weitgehend sei in den USA das Attorney-Client Privilege ausgeprägt, in einem Wettbewerb gleichberechtigter Verfahrenspartner. Daraus resultiere ein weitgehendes Beschlagnahmeverbot, auch für Erkenntnisse aus Internal Investigations, ohne Unterschied zwischen externen und hausinternen Anwälten. Das Unternehmen entscheidet über die Herausgabe der Unterlagen („Waiver“). Im krassen Gegensatz dazu stünden für Amerikaner der „Jones Day“-Beschluss des BVerfG vom 27.6.2018[2] und die Einbindung des Gerichts in Verständigungsgespräche – für Amerikaner der Inbegriff der Befangenheit eines mit der Sache vorbefassten Richters. Am Ende ihres Vortrags wies Rosskopf auf die Gefahr der Implementierung von Teilen eines anderen Rechtssystems in die eigene Gesamtrechtsordnung hin, gerade wenn das ausländische System von einem gegenläufigen Staatsverständnis durchdrungen sei. In der anschließenden Diskussion ging Dr. Matthias Korte,BMJ, auf die besondere Verfahrensstellung sog. Whistleblower im amerikanischen Strafverfahren ein, die dort gezielt auf Seiten der Staatsanwaltschaft eingesetzt würden.
RA Dr. Jürgen Rodegra, LL.M. (Cornell), Berlin – Attorney at Law (NY), beleuchtete anschließend die „Haftungsgefahren für deutsche Unternehmen mit Geschäftstätigkeit in den USA in zivil- und strafrechtlicher Hinsicht“. Dabei ging es im Kern um die Minimierung von Risiken bzgl. des in den USA geltenden Unternehmensstrafrechts bei der konkreten Vertragsgestaltung und der Etablierung funktionstauglicher Compliance-Systeme. Am Anfang stand ein Porträt der Pre-trial Discovery, die in alleiniger Verantwortung der Parteien (oft in deren Räumlichkeiten oder an gemeinsam abgestimmten Örtlichkeiten wie etwa Hotels, Flughäfen etc.) auf der Grundlage der Federal Rules of Civil Procedure (FCRP) durchgeführt werde, ohne staatliche Beteiligung. Viele Unternehmen unterschätzten diese prozessuale Figur, sie sei sogar weitgehend unbekannt. Wesentlicher Strukturunterschied sei, dass die deutsche ZPO den Ausforschungsbeweis für unzulässig erklärt. Beweiserhebungen im deutschen Zivilverfahren müssen stets dem Nachweis einer konkreten Behauptung dienen, dürfen aber selbst nicht als originäre Erkenntnisquelle missbraucht werden. In den USA erfolge die Ermittlung des Streitgegenstandes dagegen durch sog. „Depositions“, „WrittenInterrogatories“, „Documents and Expert Evidence“. Das Gericht ist in dieser Phase nicht beteiligt, für die Anwälte bestehen dagegen weitreichende Mitwirkungspflichten. Da es kaum verbindliche Regeln für die Pre-trial Discovery gebe, drohe nicht selten ein Missbrauch in Form sog. „Fishing Expeditions“. Neueste Erscheinungsform der Pre-trial Discovery sei die sog. E-Discovery mit der Pflicht zur Offenlegung digitaler Unternehmensdaten. Dazu gehöre die Pflicht der Datenspeicherung in einer Art und Weise, die jederzeit die Durchführung einer solchen E-Discovery ermögliche, verbunden mit einem Verbot der Löschung von Unternehmensdaten und einer parallel dazu bestehenden Pflicht zur Aufbewahrung der unternehmensbezogenen Informationen und Daten. Bei Nichtbeachtung dieser Vorgaben bestehe das Risiko, zur Zahlung von Schadensersatz und einer Geldbuße verurteilt zu werden.
Es folgte ein Überblick über die wesentlichen Voraussetzungen und Strukturprinzipien des Unternehmensstrafrechts einerseits und des Konzepts von Internal Investigations andererseits, mit der bekannten Reduzierung von Verfahrensrechten (Aussagepflicht gegenüber den intern ermittelnden Anwälten; Kündigungsrisiko). Ein kurzer Einblick in den Foreign Corrupt Practices Act (FCPA),[3] dessen Ziel die Bekämpfung der Bestechung und sonstiger korrupter Praktiken von US-Unternehmen im Ausland sei, und eine Erläuterung der Pflicht zur Implementierung unternehmensbezogener Kontrollsysteme für das Betriebsvermögen sowie eine Empfehlung zur Formulierung von Arbeitsanweisungen zur Vermeidung unnötigen E-Mail-Verkehrs rundeten den Vortrag ab.
Ko-Referent RA Dr. Björn Boerger, Frankfurt a.M., erläuterte die strafrechtlichen Fernwirkungen von „Auslandssachverhalten“ im US-Recht auf Verfahren in Deutschland. Ausgangspunkt waren die Kriterien für die Begründung einer Strafgerichtsbarkeit in den USA auf Bundesstaats- und Bundesebene. Anknüpfungspunkt für die Begründung einer US-Jurisdiktion seien im Wesentlichen die Auslandsgeltung für „US-Personen“, die Vornahme einer Tathandlung im US-Bundesrecht („TK-Akt“) und der Tatbestand der Verschwörung („conspiracy“). Sodann ging es um den Fallkomplex „Enron“, mit der Darstellung konkreter Parallelen zum Wirecard-Verfahren in Deutschland verbunden mit einer Einschätzung, wie dieses Verfahren in den USA geführt worden wäre.[4] Der dann in den Fokus geratene Fall „Honeygate“ stehe für das Problem der Sanktionsfestsetzung im Ausland. Im Rahmen der Überlegungen, welche Möglichkeiten der Reaktion die Verteidigung gegen derartige Fernwirkungen in und aus den USA habe, ging es um mehrere in den letzten Jahren in Europa zum Grundsatz ne bis in idem ergangene Judikate, darunter OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.9.2020 – 10 S 48/20 (Auslieferung eines Deutschen durch Slowenien an die USA), OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 19.5.2020 – 2 AuslA 3/20 (Auslieferungshindernis des Verbots der Doppelbestrafung), EuGH, Urt. v. 12.5.2021 – C 505/19, WS/D (Speicherung in der Fahndungsdatenbank von Interpol) und EuGH, Urt. v. 28.10.2022 – C-435/22 PPU (Doppelverfolgungsverbot – Grenzen der Auslieferung von Drittstaatsangehörigen). Da das US-Recht von einem grundlegenden Verständnis getrennter Gerichtsbarkeit ausgehe, sei es US-amerikanischen Anwälten schwer vermittelbar, dass ein Urteil, das gegen einen anderen Staat ergeht, andere Staaten über den Grundsatz ne bis in idem (EuGH) auch bei einer defizitären rechtlichen Prüfung der fallrelevanten Fragen im Ausgangsverfahren bindet (Strafklageverbrauch).
Die Thematik der „Vermögensabschöpfung mit Bezug zu den USA“ beleuchtete RA Kai Peters, Berlin, speziell die drei Arten von Verfall nach US-Bundesrecht in Form der Administrative Forfeiture, der Criminal Forfeiture und der Civil Forfeiture, in einem anschließenden Vergleich mit der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung in Deutschland. Mangels einheitlicher Forfeiture-Regelungen in den USA – sie variieren auch zwischen den einzelnen Bundesstaaten und der Bundesgesetzgebung – können meistens mehrere Vorschriften gleichzeitig auf einen Fall zur Anwendung kommen. Die Criminal Forfeiture richtet sich gegen Vermögenswerte, die direkt mit einer bestimmten Straftat oder einem kriminellen Verhalten in Verbindung stehen, wobei hier der Zusammenhang zwischen den eingezogenen Vermögenswerten und der Straftat durch den Staat nachgewiesen werden muss – in einem Verfahren, in dem strafrechtliche Beweismaßstäbe gelten. Die Abschöpfung wird dabei – anders als nach dem deutschen StGB – als Teil der Strafe angesehen. Diese und weitere Funktionen der Criminal Forfeiture hat der Supreme Court in seiner Entscheidung Kaley v. United States (2014) festgelegt.[5]
Die Civil Forfeiture zeichnet sich hingegen durch die sog. non-conviction-based confiscation on a balance of probabilities aus. Durch sie ist es möglich, Vermögenswerte einzuziehen, von denen selbst der Verdacht ausgeht, dass sie aus einer Straftat oder illegalen Handlung stammen. Die Maßnahme richtet sich daher gerade nicht gegen eine Person,[6] zudem gelten zivilprozessrechtliche Beweismaßstäbe. Von den deutschen Einziehungsregeln ist hier parallel auf § 76 Abs. 4 StGB hinzuweisen, wobei im US-amerikanischen Recht zwischen der Civil und Criminal Forfeiture kein Grundsatz der Subsidiarität existiert.
Von den relevanten Vorschriften ist 18 U.S.C. § 981(a)(1)(c) für Proceeds (= Taterträge) die in der Praxis wichtigste, denn sie für über 200 Federal, State und Foreign Crimes einschlägig. Besonders weitgehende Möglichkeiten der Abschöpfung gelten bei dem (Verdacht) der Geldwäsche, denn nach § 18 U.S.C. §§ 981(a)(1)(A) (Civil Forfeiture) und 982(a)(1) (Criminal Forfeiture) unterliegt der Abschöpfung „all property involved“. Im Fall der Vermischung von illegalem und legalem Vermögen kann somit alles abgeschöpft werden, sodass möglicherweise bei einer teilweisen Verwendung von aus Straftaten stammendem Geld zur Renovierung eines Hauses als Form der Geldwäsche das ganze Haus der Einziehung unterliege.[7]
Den Schluss bildete eine knappe Abhandlung einer sog. Disgorgement of Profits, der Rückzahlung von unrechtmäßig erlangten Profiten und Gewinnen insbesondere im Zusammenhang mit Fällen des Insiderhandels, Wertpapierbetrugs oder ähnlichen Verstößen (FCPA-Fällen).[8] In der anschließenden Diskussion stand vor allem die Thematik der (fehlenden) beiderseitigen Strafbarkeit in Auslieferungssachen im Mittelpunkt.
Den letzten Vortrag des Nachmittags hielt RA Dr. Roland M. Stein, LL.M. Eur, Berlin, zusammen mit RAin Dr. Caroline Raspé, München. Beide warfen einen Blick auf „Maßnahmen zur Eindämmung von Umgehungen der Sanktionen gegen Russland durch internationale Lieferketten“.[9] Ausgehend vom Grundsatz des freien Warenverkehrs im Rahmen des Zollrechts benannten Stein und Raspé konkrete Gründe für Beschränkungen des Warenverkehrs. Zentral ist dabei der Tatbestand der Ausfuhr, neben sonstigen exportkontrollrechtlichen Tatbeständen. Bei der Darstellung restriktiver Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands in der Ukraine unterschieden beide Referenten zwischen Sanktionen gegen natürliche bzw. juristische Personen (VO [EU] Nr. 269/2014[10]) einerseits und Sanktionen gegenüber der Russischen Föderation (VO [EU] Nr. 833/2014[11]) andererseits, jeweils mit konkreten Beispielen für Aus- und Einfuhrverbote. Im Abschnitt zu den Folgen bei etwaigen Sanktionsverstößen wurden die relevanten Straftatbestände nach dem AWG referiert. Im Fokus stand dabei, ob eine effektive Strafbewehrung von Exportbeschränkungen über eine materiell-rechtliche Norm des nationalen Rechts (§ 18 AWG) oder besser über eine „Europäische Strafnorm“ zu bewerkstelligen sei. Beide Referenten sprachen über den EU-Richtlinienentwurf über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union vom 2.12.2022, COM(2022) 684 final[12] und über die auf nationaler Ebene bestehenden erheblichen Unterschiede bei der Einstufung und Sanktionierung von Verstößen zwischen den Mitgliedstaaten, parallel zu einer Aufnahme von Verstößen gegen Sanktionen in die Liste der „EU-Straftatbestände“ (Art. 83 Abs. 1 AEUV). Prozessuale Bestimmungen sowie die faktischen Auswirkungen für Ermittler, Richter und nicht zuletzt Tatverdächtige kamen ebenfalls zur Sprache. Für die Arbeit der Strafverteidigung sehr relevant war die behandelten Möglichkeiten und Nachteile im Rahmen der Klärung möglicher Sanktionsverstöße vor einer Ausfuhr, speziell durch eine konkrete Anfrage beim BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle). Probleme bestehen hier offenbar durch verspätete bzw. unklare Rückmeldungen sowie darin, dass sich die Sach- und Rechtslage nach der Anfrage jederzeit und signifikant ändern kann. Kommt es zur Aufdeckung von Sanktionsverstößen nach einer Ausfuhr, müssen die Vor- und Nachteile einer Selbstanzeige gegeneinander abgewogen werden. Im Rahmen der nochmals aufgegriffenen diffizilen strafrechtlichen Fragestellungen wurden die im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip im Allgemeinen und den Bestimmtheitsgrundsatz im Speziellen (Art. 103 Abs. 2 GG) verfassungsrechtlich problematische Blankettnorm-Technik kritisiert und die subjektive Tatbestandsebene näher analysiert. Abschließend ging es um praxisrelevante Umgehungsverbote und die Notwendigkeit von Compliance Maßnahmen für Unternehmen.
Ein anregendes Streitgespräch zwischen Prof. Dr. Carl-Friedrich Stuckenberg, LL.M. (Harvard), Universität Bonn, und VRiOLG Dr. Christopher Erhard, Frankfurt a.M., und Dr. Matthias Korte, BMJ, Berlin, über die Argumente „Pro und Contra der Aufzeichnung der Hauptverhandlung in Strafsachen“ beschloss nach dem Abendessen den ersten Tag der Tagung. Ein besonderer Blick ruhte dabei auf den Rechtsordnungen und Erfahrungen mit der Dokumentation der gerichtlichen Hauptverhandlung in anderen Ländern.[13] Nachdem die Bundesregierung einen weitreichenden Vorschlag zur Ton-Aufzeichnung der Hauptverhandlung mit der Möglichkeit der Länder, durch Rechtsverordnung Bildaufzeichnungen anzuordnen, gemacht hatte (BT-Drucks. 20/8096),[14] beschloss der Deutsche Bundestag die geplanten Neuregelungen am 17.11.2023 in abgeschwächter Form („Audio verbindlich – Video optional“) mit Gegenstimmen von CDU/CSU und AfD.[15] Der Bundesrat rief am 15.12.2023 den Vermittlungsausschuss an (BR-Drucks. 603/23),[16] wo das Vorhaben weiter beraten wird – unter heftiger Gegenwehr der Justiz im Bund und in den Ländern.[17] Die Einführung in den rechtspolitischen Sachstand übernahm Korte, der darauf hinwies, dass es sich beim Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz (DokHVG) um ein Einspruchs- und nicht um ein Zustimmungsgesetz handele (ein etwaiger Einspruch des Bundesrates könne der Bundestag mit einfacher bzw. qualifizierter Mehrheit zurückweisen; Art. 77 Abs. 4 GG). Nach einem fundierten Überblick von Stuckenberg zu den rechtsvergleichenden Aspekten der Thematik, der in einem rechtshistorischen Kontext die Zurückhaltung der Justiz gegenüber zahlreichen, heute nicht mehr in Frage stehenden Veränderungen im Strafverfahren konstatierte, schilderte Erhard die Bedenken der Justiz gegen eine Aufzeichnung der Hauptverhandlung, namentlich eine Inkompatibilität mit den derzeitigen Restriktionen des Revisionsrechts gegenüber einer Aufarbeitung des Verfahrensganges in der Tatsacheninstanz. Stuckenberg hingegen vertrat die Ansicht, dass eine derartige Entwicklung in Deutschland durchaus, wie bereits in anderen EU-Staaten, in rechtsstaatlich gewinnbringender Form realisierbar sei. Es entwickelte sich ein reges Streitgespräch, in dem insbesondere die bereits vom Rechtsausschuss des Bundesrates aufgeworfenen Aspekte in der Empfehlung zur Anrufung eines Vermittlungsausschusses (BR-Drucks. 603/1/23) zur Sprache kamen. Die konträren Perspektiven kreisten dabei um das „Kosten-Nutzen-Verhältnis“ der anstehenden Neuerungen. Ein Schwerpunkt war dabei die Sorge Erhards um eine Änderung des Aussageverhaltens von Zeugen unter dem Eindruck audiovisueller Technik. Zur Frage, ob das Hauptverhandlungsprotokoll (mit zwingender Beweiskraft) noch eine Berechtigung oder Bedeutung hat, gingen die Meinungen besonders stark auseinander. Die technischen Fragen und Probleme, insbesondere zum geplanten Transkript, bei dem laut den Angaben einer Expertengruppe eine Fehlerquote von 10-20 %, bei Dialektsprechern sogar von 20-30 % erwartbar sei,[18] die allgemeinen Kostenfrage sowie eine weitere zunehmende Arbeitsbelastung für die Justiz blieben ebenfalls nicht von der Diskussion ausgespart. Aus dem Publikum wies RA Eberhard Kempf auf die positive Wirkung einer von der Person selbst wahrgenommenen Kontrolle der eigenen Tätigkeit hin; das Wissen um die Aufzeichnung des eigenen Handelns sei ein „mäßigendes Instrument“ für das Verhalten aller Beteiligten. Die Tonaufzeichnung reduziere zudem den Streitstoff. RA Dr. Stefan Kirsch kritisierte vor allem Art und Inhalt der zwischen den Berufsgruppen geführten Diskussion und die empirische Bodenlosigkeit der teils vorgebrachten Argumente („Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden gerieten in Gefahr“).
Den zweiten Tag der Veranstaltung, der einem rechtsvergleichenden „Blick nach Europa“ gewidmet war, eröffnete MR Markus Busch, BMJ, Berlin, mit einem Vortrag unter dem Titel „Neue EU-Richtlinien zu Korruption, Sanktionsdurchsetzung, Umwelt, Einziehung und Co.“. Busch ging dabei im Kern der Frage nach, welche Freiräume die steigende Regelungsdichte dem nationalen Strafrecht noch lasse. Nach einer Einführung in die Systematik und den Regelungsbereich des Art. 83 Abs. 1 AEUV kam Busch auf die Möglichkeit einer Kompetenzerweiterung per EU-Ratsbeschluss zu sprechen, zuletzt im November 2022 für Verstöße gegen EU-Sanktionen[19]. Ebenso thematisierte er die aktuellen Initiativen der Union auf der Basis von Art. 83 Abs. 2 AEUV (sog. Annexkompetenz). Die Unbestimmtheit des Begriffs der „Mindestvorschriften“ (zur Festlegung von Straftaten und Strafen), das Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV – darunter das sog. Trilog-Verfahren zwischen Rat, EP und Kommission, das sich in den konkreten Abläufen nur teilweise in den Verträgen der Union abbilde – sowie das Verfahren der sog. „Notbremse“ (Art. 83 Abs. 3 AEUV) stellte Busch im Einzelnen dar. Die Vorstellung der möglichen Regelungsbestandteile unter dem Label „Straftaten und Strafen“ machte deutlich, welch beachtliches Regelungsterrain die Union mittlerweile auch im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts eingenommen hat. Letzteres kam in den skizzierten strafrechtspolitischen Ansätzen nochmals deutlich zum Ausdruck, insbesondere im Umweltstrafrecht und in den neuen Vorschlägen zur Bekämpfung der Korruption – einem Deliktsfeld, das in seinem sachlichen Anwendungsbereich auf europäischer Ebene inhaltlich deutlich weiter verstanden wird als auf nationaler Ebene.
Kritisch betrachtete sodann RiLG Dr. Lennart Fleckenstein, Düsseldorf, den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Angleichung nationaler Straftatbestände zur Bekämpfung der Korruption (COM [2023] 234)[20] und zur Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der Umwelt (COM [2021] 851)[21]. Ein Schwerpunkt ruhte dabei auf den geplanten Mindestvorschriften zu Sanktionen gegen natürliche Personen, speziell auf dem Trend zu gestaffelten „Mindesthöchststrafen“ und den Auswirkungen auf das gesamte Sanktionsniveau („unteres Drittel“) bei der Bestimmung einer Strafe durch das Gericht im konkreten Einzelfall. Die Vorstellungen der Kommission zur Sanktionierung juristischer Personen enden aber nicht bei den Hauptstrafen – den vielfältigen Katalog an Ausschluss- und Entziehungsverfahren, die Compliance-Anforderungen sowie die Schließung von Einrichtungen, die Veröffentlichung der Entscheidungen und die richterliche Aufsicht als mögliche Reaktionen porträtierte Fleckenstein ebenfalls. Er sprach über die Problematik umsatzbezogener Mindesthöchstmaße der Geldsanktionen gegen juristische Personen. Am Beispiel der Bußgeldbemessung im Kartellrecht erläuterte Fleckenstein, dass das denkbare Höchstmaß auch hier das gesamte Sanktionsniveau determiniere. Er favorisierte die Einführung bereichsspezifischer Bußgeldleitlinien, nach dem Vorbild des Bußgeldkataloges in § 26a StVG. Abschließend berichtete Fleckenstein über die aktuellen Tendenzen in den geplanten EU-Richtlinien zur Einziehung von Vermögenswerten, u.a. zu einer „Confiscation of unexplained wealth“ (vgl. § 76a Abs. 4 StGB). In der anschließenden Diskussion kam das Sanktionsschema für den in Art. 3 Abs. 2a RL-E-Umweltstrafrecht geplanten „Ökozid-Tatbestand“ zur Sprache.[22] Erwartet wird, dass das Europäische Parlament im Februar 2024 die Richtlinie formell verabschiedet.
Einen spannenden Einblick in die Praxis der internationalen Strafverfolgung durch die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) gewährte Dr. Sonja Heine, DEuStA, Frankfurt a.M., mit ihrem Vortrag über „Erste praktische Erfahrungen und offene Rechtsfragen“ dieser seit Juni 2021 auf Unionsebene tätigen neuen Institution der Strafverfolgung.[23] Ausgehend von den Problemen der grenzüberschreitenden Strafverfolgung in den EU-Mitgliedstaaten ging es zunächst um die Zuständigkeiten und Kompetenzen der EUStA, mit ihrer Zentraleinheit in Luxemburg,[24] an deren Arbeit sich derzeit 22 EU-Mitgliedstaaten beteiligen. Die neue polnische Regierung hat eine Mitarbeit bei der EUStA inzwischen signalisiert. Speziell betrachtete Heine die Erlangung und Vollstreckung von Durchsuchungsbeschlüssen. Sie stellte außerdem die fünf Zentren der EUStA in Deutschland dar (Hamburg, Köln, Berlin, Frankfurt, München – alle jeweils mit einer bundesweiten Verfolgungszuständigkeit) und erläuterte mit einem inhaltlichen Schwerpunkt auf den sog. PIF-Delikten[25] die Funktionsweise der EUStA. Sie wies darauf hin, dass die EUStA neben der EUStA-VO vor allem nationales Recht anwende. Mittlerweile existieren Working Arrangements mit zahlreichen nicht an der EUStA teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten und Nicht-EU-Staaten (Art. 104 EUStA-VO), wobei vor allem die Rechtshilfe mit der Schweiz sich zunächst als schwierig erwiesen habe. Pragmatischer sei dagegen der Austausch mit den Behörden der USA. Eine enge Zusammenarbeit besteht außerdem mit EUROJUST, OLAF und EUROPOL. Die EUStA arbeitet nach dem Legalitätsprinzip, was für Staaten wie die Niederlande, die national nach dem Opportunitätsprinzip vorgehen, mit einer gewissen Umstellung verbunden war.
Erwartungsgemäß thematisierte Heine das vom EuGH (GK) am 21.12.2023 (C-281/22) entschiedene Vorlageverfahren des OLG Wien zu der speziellen Frage, ob bei grenzüberschreitenden Ermittlungen eines Delegierten Europäischen Staatsanwaltes (DEuStA) ein oder zwei gerichtliche Durchsuchungsbeschlüsse erforderlich sind (Art. 31 Abs. 1 u. 2 EUStA-VO), wenn sowohl das Land des das Verfahren führenden DEuStA als auch das Land des ihn unterstützenden DEuStA eine solche gerichtliche Überprüfung vorsehen, und wie der Umfang einer einfachen oder eben doppelten Prüfung einzuschätzen sei.[26] Der EuGH hat hierzu entschieden, dass sich die Kontrolle im unterstützenden Mitgliedstaat in dieser Konstellation lediglich auf Gesichtspunkte der Vollstreckung („execution“) der Ermittlungsmaßnahme beziehen dürfe, zugleich aber betont, dass die Prüfung von Begründung und Anordnung einer Maßnahme der vorherigen gerichtlichen Kontrolle im Mitgliedstaat des betrauten DEuStA unterliegen müsse, wenn es um einen schwerwiegenden Eingriff in die durch die Charta garantierten Rechte der betroffenen Person gehe.[27]
Für 2028 ist eine Revision der EUStA-VO vorgesehen, die nach der Vorstellung der deutschen Seite aber zeitlich durchaus vorgezogenen werden sollte. Heine wies auch auf die allgemein dünne Personaldecke der fünf Zentren in Deutschland hin; derzeit agieren dort 16 Delegierte Europäische Staatsanwälte (DEuStA), bald 20. Diese vergleichsweise geringe Zahl führe mitunter zu Schwierigkeiten bei der Ausübung des Sitzungsdienstes. Es fehle in den Zentren auch der organisatorisch-administrative Unterbau. Die Abstimmung mit der Zentral-Unit in Luxemburg bereite bisweilen Schwierigkeiten (u.a. aufgrund von IT-Problemen). Kurz erwähnte Heine auch die Pläne der Kommission zum Aufbau eines Europäischen Finanzkriminalamtes („Anti-Money Laundering Authority“ – AMLA).[28]
Den Mehrwert der EUStA für die Strafverfolgungspraxis sieht Heine im Wegfall der komplexen Rechtshilfestrukturen bei grenzüberschreitenden Ermittlungen. Die Korrespondenz zwischen den DEuStA und Verteidigern in Deutschland erfolge durchgehend auf Deutsch, der Gerichtssprache. Ein unmittelbarer Kontakt von Verteidigern zur Zentralstelle in Luxemburg – etwa um dort eine Einstellung des Verfahrens anzuregen – sei nicht möglich.
Dr. MatthiasKorte wies in der Diskussion auf das Fehlen eines harmonisierten europäischen Strafverfahrensrechts hin und fragte nach einer etwaigen dadurch bedingten Ineffizienz von Ermittlungen der EUStA. Heine sah keine Vorteile in einem derart harmonisierten Strafverfahrensrecht, jedenfalls sei, wenn man es einführen wolle, eine mehrjährige Übergangsphase auf Arbeitsebene erforderlich. Den aus dem Zuhörerkreis geäußerten Sorgen hinsichtlich der Möglichkeiten eines Forum Shoppings (Auswahl eines für die Strafverfolgung „günstigen“ Mitgliedstaates für die Anklage) hielt Heine die Kriterien in Art. 35, 36 Abs. 1 u. 3 EUStA-VO entgegen.
Abschließend referierte RA Dr. Nikolaos Gazeas, LL.M. (Auckland), Köln, über „Internationale Rechtshilfe und Auslieferung in Wirtschaftsstrafverfahren“. Er gab dabei einen Überblick über die Grundlagen des Auslieferungsverfahrens (innerhalb der EU einerseits, mit Drittstaaten andererseits) sowie über die einschlägigen Rechtsquellen, konkrete Verfahrensfragen und Besonderheiten. Gazeas wies auf die RiVASt hin, zugänglich auf der Homepage des BMJ mit aktuellen Länderinformationen.[29] Rechtsgrundlage einer Auslieferung sei aber regelmäßig eine Rechtsquelle des Völkerrechts. Wesentlich sei die Unterscheidung zwischen Fällen der Ein- und der Auslieferung. Bedeutsam für die Praxis sei in jedem Fall die Einbindung von Kollegen im Ausland, in der Jurisdiktion, in der die Auslieferung bzw. das zugrundeliegende Strafverfahren spielten. Bei der Suche und Vermittlung könne die ECBA helfen.[30]
Zunehmend an Bedeutung gewinne die effektive Präventivverteidigung (Risikoanalyse) in Auslieferungsverfahren – vor der Festnahme (etwa im Falle einer vom Mandanten geplanten Reise ins Ausland). Praktisch im Mittelpunkt standen die Auslieferungen in den cum-ex-Verfahren (VAE-DK) und (CH-D). Gazeas wies darauf hin, dass das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit in der Praxis gerade in diesem Ermittlungskontext stark abgeschwächt sei; es komme bei „cum-ex“ nur auf eine „Vergleichbarkeit“ der auf den zugrundeliegenden Tatverdacht anwendbaren Strafbestimmungen an.[31] Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die in den cum-ex-Verfahren eine gewisse Rolle gespielt haben, seien kein rechtshilfefreundliches Land, erhebliche Probleme bestünden daher in der justiziellen Zusammenarbeit. Mit Deutschland bestehe kein bilateraler Auslieferungs- und Rechtshilfevertrag der VAE, das hindere die Auslieferung zwar prinzipiell nicht, Fälle seien aber faktisch nicht existent. Die VAE zeigten in jüngerer Zeit die Tendenz zu mehr internationaler und bilateraler Kooperation. Aktuell gebe es einen ausverhandelten Vertrag zwischen D-VAE zur sonstigen Rechtshilfe (auf Initiative der VAE); dieser sei aber noch nicht gezeichnet, eine Datenschutzklausel müsse nachverhandelt werden. Nächster Schritt könnte ein Auslieferungsvertrag zwischen D-VAE sein. Problem seien die eklatant schlechten Haftbedingungen in den VAE. Im Ergebnis seien die VAE für Auslieferungen kein safe haven – aber faktisch finde eine Auslieferung in der Praxis eben nicht statt, außer in persönlich sehr exponierten Fällen.
In einem kurzen Ausblick auf die bevorstehende Reform des IRG wies Gazeas auf die geplante Neuregelung zum Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem OLG hin. Eine echte Haftbeschwerde gegen die Entscheidung des OLG (zum BGH) soll es entgegen erster Pläne dagegen nicht geben. Ein Kabinettsbeschluss wird für Sommer 2024 erwartet, eine parlamentarische Beratung soll bis Ende 2024 abgeschlossen sein. Auf die Frage nach der Belastbarkeit von „Red Notice“-Negativ-Auskünften durch Interpol wies Gazeas auf die nicht selten beträchtliche Verfahrensdauer der Auskunft hin, die eine grundsätzlich vorhandene Belastbarkeit der Auskunft deutlich relativiere. Eine Anfrage beim BKA sei bei deutschen Staatsangehörigen erfolgversprechender.
Zum Abschluss der Veranstaltung referierte RA Dr. Thomas Nuzinger die wesentlichen Erkenntnisse der zurückliegenden zwei Tage und verabschiedete die Teilnehmer unter Wertschätzung des belebten Diskurses und unter Hinweis auf die im Januar 2025 geplante Folgeveranstaltung ins Wochenende.
[1] EuGH (GK), Urt. v. 31.1.2023 – C-158/21 Rn. 81 ff. = NJW 2023, 1267 (1270) m. Anm. Gaede.
[2] BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17 (VW-Diesel-Skandal) = NJW 2018, 2385 = NStZ 2019, 159 m. Anm. Knauer; hierzu: Köllner, NZI 2018, 833.
[3] Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) v. 19.12. 1977, Public Law Number 95-213, Statutes at Large 91 (1977): 1494 (https://www.justice.gov/sites/default/files/criminal-fraud/legacy/2012/08/29/corruptrpt-95-213.pdf) in aktueller Fassung (https://www.justice.gov/sites/default/files/criminal-fraud/legacy/2012/11/14/fcpa-german.pdf).
[4] Vgl. hierzu auch Strohmayer (11.3.2021), Enron & Wirecard – (k)ein neues Phänomen?, Newsroom der FH St. Pölten, (https://www.fhstp.ac.at/de/newsroom/news/enron-wirecard-k-ein-neues-phaenomen; Fehr (02.12.2021), Was die Bilanzskandale Enron und Wirecard verbindet, FAZ (abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/was-die-bilanzskandale-enron-und-wirecard-verbindet-17658617.html); Damm (23.7.2020), Der Enron-Skandal zeigt, was den Wirtschaftsprüfern von Ernst & Young bei Wirecard noch bevorstehen könnte. Business Insider (https://www.businessinsider.de/wirtschaft/wirecard-parallelen-zu-enron-ruecken-auch-jetzt-ey-in-den-fokus/).
[5] Kaley v. United States, 571 U.S. 320 (2014).
[6] Vgl. hierzu Vogel, in Schiedeck/Rönnau (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht: Plage oder Gewinn für den Standort Deutschland? 2013 Bd. I/12 m.w.N.
[7] Für weitere Informationen siehe Congressional Research Service, CRS Report, Crime and Forfeiture, 10.1.2023, (abrufbar unter https://sgp.fas.org/crs/misc/97-139.pdf).
[8] Criminal Division of the U.S. Department of Justice and the Enforcement Division of the U.S. Securities and Exchange Commission, A Resources Guide to the U.S. Foreign Corrupt Practices Act 2nd Ed, S. 8, 103 (abrufbar unter Criminal Division of the U.S. Department of Justice and the Enforcement Division of the U.S. Securities and Exchange Commission).
[9] Vgl. hierzu: Eggers/Pawel: Russlandsanktionen: Straf- und bußgeldrechtliche Risiken, BB 2022, 1484.
[10] Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17. März 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen.
[11] Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren.
[12] Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the definition of criminal offences and penalties for the violation of Union restrictive measures (COM(2022) 684 final) of 2 December 2022; siehe BRAK-Stellungnahme, 04/2023, Januar 2023, Register ID: 25412265365-88 (https://www.brak.de/fileadmin/05_zur_rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2023/Stellungnahme-der-brak-2023-04-EN.pdf).
[13]Eisele, Die Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafverfahren. Ein rechtsvergleichender Länderbericht, ZStW 135 (2023), 579-597; von Galen, StraFo 2019, 309-318.
[14] BT-Drucks. 20/8096; hib 621/2023 (https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-964080).
[15] hib 854/2023 (https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-977932).
[16] BR-Drucks. 603/23 (Beschluss) (https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2023/0601-0700/603-23.pdf;jsessionid=F2280CF283584EE92B128EA4E0A6E3D1.live541?__blob=publicationFile&v=2).
[17] Vgl. hierzu die Stellungnahmen der Sachverständigen Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des Weißen Rings und LOStA sowie StA Oliver Piechaczek in der Anhörung vor dem Deutschen Bundestag am 11.10.2023: hib 744/2023 (https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-971114) ,die vor allem die Gefahr für Persönlichkeitsrechte und den Opferschutz bemängelten. Alle Stellungnahmen unter: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw41-pa-recht-hauptverhandlungsdokumentation-969024; siehe auch: https://generalstaatsanwaltschaft-celle.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/justizministerin-und-staatsanwalte-lehnen-die-geplante-videoaufzeichnung-der-strafgerichtlichen-hauptverhandlung-entschieden-ab-220538.html); m.w.N. Erhard, Digitale Dokumentation der Hauptverhandlung, ZRP 1/2013, 12-15; a.A. aber Mosbacher, Stellungnahme zu BT-Drucks. 20/8096, 11.10.2023 (https://www.bundestag.de/resource/blob/969864/5c84c9703dc0eccef58743cece16c6f8/Stellungnahme-Mosbacher-data.pdf).
[18] Bericht der Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, Juni 2021 S. 156 (https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2021_Abschlussbericht_Hauptverhandlung_Anlagenband.pdf?__blob=publicationFile&v=3).
[19] Beschluss des Rates über die Feststellung des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union als einen die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllenden Kriminalitätsbereich (10287/1/22 REV 1); Der Beschluss wurde im November 2022 angenommen (https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/11/28/sanctions-council-adds-the-violation-of-restrictive-measures-to-the-list-of-eu-crimes/).
[20] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung der Korruption, zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates und des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind, sowie zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates; kritisch hierzu: El-Ghazi/Wegner/Zimmermann, EU-Antikorruptions-Rechtsrahmen – ein „Meilenstein“? ZRP 2023, 211; siehe ferner Stellungnahmen im Rahmen der Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages v. 13.11.2023: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw46-pa-recht-bekaempfung-korruption-976316.
[21] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt und zur Ersetzung der Richtlinie 2008/99/EG v. 15.12.2021, COM(2021) 851. Endgültiger Kompromisstext: CoE 16069/23, https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-16069-2023-INIT/en/pdf.
[22] https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-16069-2023-INIT/en/pdf.
[23] Vgl. hierzu auch: Manhart, Europäische Staatsanwaltschaft, in: Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen pp. (Hrsg.), Wenn der Staat Grenzen überschreitet, 11. Dreiländerforum Strafverteidigung, 16./17.9.2022 in Passau (2023), S. 135 ff.; und Pinar, Europäische Staatsanwaltschaft – ein grenzenloses Spiel? ibid., S. 147 ff.
[24] Herrnfeld/Burchard/Brodowski, European Public Prosecutor’s Office (2021); Herrnfeld/Esser (Hrsg.), Europäische Staatsanwaltschaft (2022). vgl. hierzu den Tagungsbericht von Schach, KriPoZ 2022, 314-317.
[25] Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug RL (EU) 2017/1371.
[26]Esser, in: Niedernhuber (Hrsg.), Die neue europäische Staatsanwaltschaft (2023), S. 119-123.
[27] EuGH, Urt. v. 21.12.2023 – C-281/22, Rn. 78.
[28] Vgl. hierzu auch: Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die von den Mitgliedstaaten einzurichtenden Mechanismen zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Aufhebung der Richtlinie (EU) 2015/849 (COM/2021/423 final); Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems für Zwecke der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung (COM/2021/420 final).
[29] https://www.bmj.de/DE/service/rivast/rivast_info/RiVaSt_allg_Info.html.
[30] Die European Criminal Bar Association ist ein Zusammenschluss von Strafverteidigern, die sich auf die durch die Entwicklungen der internationalen Strafverfolgung erhöhten Herausforderungen der Stärkung und Wahrung der Beschuldigtenrechte in derartigen Verfahren in den EU-Mitgliedstaaten spezialisiert haben (https://www.ecba.org/content/index.php; Suchportal: https://www.ecba.org/contactslist/contacts-search-country.php.
[31] BGH, Beschl. v. 20.9.2023 – 1 StR 187/23 (§ 146 CH-StGB (gemeinrechtlicher Bezug).