Contractor Compliance – Neues zu Scheinselbstständigkeit und illegaler Arbeitnehmerüberlassung
Wirtschaftsstrafrecht an der Schnittstelle zur HR Compliance (Teil 3)
Die Verfasser widmen sich aktuellen Themen und Dauerbrennern bei der Beratung von Unternehmen zur HR Compliance, die eine nicht zu unterschätzende bußgeld- und/oder strafrechtliche Komponente aufweisen und vor dem Hintergrund der Haftungsvermeidung beleuchtet werden. Der vorliegende Beitrag fasst Teil 3 der dreiteiligen WisteV Lunch Lecture Vortragsreihe – Contractor Compliance – zusammen.
I. Einführung
Contractor Compliance ist neben AGG-relevanten Themen im Zuge der MeToo-Bewegung sicherlich das Compliance-Thema, das in den letzten Jahren – abseits von den klassischen Compliance Feldern wie etwa der Kartell- oder Korruptionsbekämpfung – am stärksten an Bedeutung gewonnen hat. Die Gründe zweierlei: Tatsächlich die „neue“ Arbeitswelt (Arbeiten 4.0), in der das „alte“ Normalarbeitsverhältnis zunehmend durch neue Beschäftigungsformen verdrängt wird, die zum Teil in neuartigen Netzwerken aufgehen, in denen starre und hierarchische Kommunikationsformen der „alten“ Arbeitswelt einer neuen digitalen Plattformökonomie weichen – vielfältige Erwerbsformen in der IT-Branche sind sicher ein bekanntes Beispiel. Dagegen das „alte“ rechtliche Risikoportfolio für den Fall einer Statusverfehlung, die zu einer „Scheinselbstständigkeit“ und/oder „illegalen Arbeitnehmerüberlassung“ führen kann, verbunden mit erheblichen Konsequenzen für Unternehmen und handelnde Akteure: Strafbarkeit gem. § 266a StGB, Ordnungswidrigkeiten, Nachentrichten von Sozialversicherungsbeiträgen, um nur einige zu nennen. Dies alles flankiert durch jüngste Entwicklungen wie der Einführung des § 611a BGB zum Arbeitnehmerbegriff, neuen Erscheinungsformen wie Crowdworking, Vermeidungsstrategien wie der „Ein-Mann-GmbH“ bis hin zu einer nahezu revolutionären Entscheidung des BGH in Strafsachen zu Vorsatzfragen rechtfertigen eine kurze Re-Orientierung.
II. Fremdpersonaleinsatz & rechtliches Umfeld
Zur Einführung noch einmal ein schneller Überblick über das Phänomen Fremdpersonaleinsatz und das rechtliche Umfeld.
1. Das Thema Fremdpersonal in der Praxis
Beginnend mit einem kurzen Blick auf neuere Statistiken, die die praktische Bedeutung des Phänomens Fremdpersonaleinsatz schnell klarmacht: Ende der 1990er Jahre betrug der Anteil der Selbständigen an der erwerbstätigen Bevölkerung etwa 10%, stieg dann zu Beginn des neuen Jahrtausends auf etwa 11% an und nahm in den vergangenen Jahren wieder leicht ab, beträgt aber noch immer 8,4% im Jahre 2020. Der Anteil der Solo-Selbständigen, d.h. Selbständige ohne eigene Mitarbeiter, entwickelte sich ähnlich und rangierte zwischen etwa 4,6% und 6,3% der erwerbstätigen Bevölkerung. Nur am Rande: Etwa die Hälfte der Selbständigen hat heutzutage einen Hochschulabschluss oder eine Meisterausbildung. Mit knapp 35% ist der größte Anteil der Selbständigen im Bereich Beratung und Management tätig, gefolgt von knapp 29% im Bereich Entwicklung und etwa 11% im Bereich IT-Infrastruktur[1].
2. Rechtsfolgen und Kriterien einer Statusverfehlung
Und genau hier – das zeigt die Praxis – lauern einige Risiken einer Statusverfehlung; die wesentlichen Rechtsfolgen in Kürze: Hier sind zunächst die arbeitsrechtlichen Folgen einer Umdeutung der Werk- und Dienstverträge in Arbeitsverträge – ggf. auch aufgrund einer unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung (§§ 9 Nr. 1, 10 Abs. 1 AÜG) – zu nennen, in Folge dessen die betroffenen Scheinselbstständigen bzw. die illegal Überlassenen den Status regulärer Arbeitnehmer einschließlich Kündigungsschutz und allen sonstigen arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften einklagen können. Eine sog. illegale Arbeitnehmerüberlassung stellt zudem eine Ordnungswidrigkeit dar (§ 16 Abs. 1 Nr. 1 und 1a AÜG) und darüber hinaus – und hier kann es im Einzelfall richtig ernst werden – hat insbesondere die unterbliebene Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge auch eine strafrechtliche Dimension (§ 266a StGB) sowie führt zudem zu erheblichen Haftungsrisiken nicht nur für die betroffenen Unternehmen (§ 28d SGB IV), sondern auch die verantwortlichen Personen (§ 823 BGB i.V.m. § 266a StGB). Abhängig von der Größe des Unternehmens sowie der Anzahl und Dauer der scheinselbstständigen Beschäftigungen können diese Risiken im Einzelfall sogar existenzgefährdend sein; ergänzende Registereinträge (Gewerbszentralregister, Wettbewerbsregister u.a.) sind hier nur ergänzend zu nennen.
Der sog. Statusfrage kommt somit erhebliche Bedeutung zu. Problematisch indes, dass diese durch eine wertende Gesamtbetrachtung geprägt ist, die viele weiche und wenig trennscharfe Kriterien in die Abwägung einstellt und die verschiedenen beteiligten Rechtgebiete zudem verschiedene Akzente in der Schwerpunktsetzung der einzelnen Kriterien legen. Hieran hat auch die Einführung des § 611a Abs. 1 BGB, der eine Legaldefinition des Begriffs des Arbeitsvertrags enthält, nichts geändert. Ein kurzer Blick auf den Wortlaut macht dies bereits deutlich:
„Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen. Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.“
Zusammengefasst: Fragen der betrieblichen Eingliederung und Weisungsanhängigkeit bleiben zentral, die vorgenannte Norm gibt den Weg vor, die Kasuistik ist mittlerweile umfassend und gibt entsprechende Orientierung, auch wenn vor allem bei neuen Erscheinungsformen nicht immer einheitlich, und dies sowohl innerhalb der einzelnen beteiligten Rechtsgebiete als auch rechtsgebietsübergreifend.
III. Wichtige Einzelfälle
Kurzum: erhebliche Herausforderungen für die Compliance-Praxis. Soweit diese vor allem die neuesten Entwicklungen und einem hiervon möglicherweise ausgehenden Reformbedarf im Blick behalten muss, nachfolgend ein kurzer Überblick.
1. GmbH-Geschäftsführer
Beginnend mit dem GmbH-Geschäftsführer, denn hier legt die Sozialgerichtsrechtsprechung mittlerweile strenge Maßstäbe an. Eine „Schön-Wetter-Selbständigkeit“, die sich daraus ableitet, dass dem Betroffenen in harmonischen Zeiten freie Hand gelassen wird, während im Falle von familiären Zerwürfnissen Weisungsunterworfenheit zum Tragen kommt, wird nicht (mehr) anerkannt. Es ist vielmehr eine echte, durch Gesellschaftsrecht vermittelte Rechtsmacht zur Weisungsfreiheit erforderlich (=Mehrheit oder qualifizierte Sperrminorität).[2]
2. „Ein-Mann-GmbH“
Die gleiche Stoßrichtung zu einem beliebten Modell zur Vermeidung von Scheinselbständigkeit. Hierzu hatte sich in der Vergangenheit vor allem die sog. Ein-Mann-GmbH entwickelt, in deren Hülle ein Externer seine Dienste für den Auftraggeber erbrachte. Dem hat das Bundessozialgericht (BSG) nun weitgehend einen Riegel vorgeschoben[3]. Das BSG führt aus:
„Stellt sich die Tätigkeit einer natürlichen Person nach deren tatsächlichem Gesamtbild als abhängige Beschäftigung dar, ist ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht deshalb ausgeschlossen, weil Verträge nur zwischen dem Auftraggeber und einer Kapitalgesellschaft bestehen, deren alleiniger Geschäftsführer und Gesellschafter die natürliche Person ist.“
Es kommt damit weiterhin, und zwar auch bei der Ein-Mann-GmbH, auf die wertende Gesamtbetrachtung an, bei der insbesondere die Frage der Weisungsabhängigkeit und die Einbindung in die betrieblichen Abläufe relevant sind.
3. Vergütungshöhe als „hartes“ Kriterium
Zur Vergütungshöhe als vergleichsweise hartem und verlässlichem Kriterium hatte das BSG noch in seiner Entscheidung zu „Heilpädagogen“ im Jahre 2017 festgehalten:[4]
„Liegt das vereinbarte Honorar wie hier deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und lässt es die Eigenversorgung zu, ist dies jedoch ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.“
Der Vorteil eines solchen Ansatzes beim Einsatz freier Mitarbeiter war selbstredend, dass die Praxis hiermit ein hartes und nachprüfbares Kriterium an der Hand hatte, das im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung gegen eine abhängige Beschäftigung angeführt werden konnte. Gerade in Bereichen, in denen Auftraggeber häufig nur noch hochqualifizierte Anbieter finden, die gerade kein Beschäftigungsverhältnis eingehen wollen, war diesem Argument eine gewichtige Bedeutung zugekommen. Zu denken ist hier beispielsweise an den sehr angespannten Markt für IT-Spezialisten.
Allerdings hat das BSG 4.6.2019 – B 12 R 11/18 R („Honorarärzte“) kurz darauf davon wieder Abstand genommen:[5]
„Die Honorarhöhe ist nur eines von vielen in der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Indizien […] das vorliegend nicht ausschlaggebend ist.“
Diese vom BSG selbst als „Einschränkung“ bezeichnete Abkehr von der Heilpädagogen-Entscheidung begründet das BSG mit den kollektiven Interessen der Mitglieder der Pflichtversicherungssysteme und dem daraus folgenden Solidargedanken. Das BSG sieht in einer zu starken Betonung der Honorarhöhe das Risiko, sich von der Versicherungspflicht „freikaufen“ zu können. Zwar hat das BSG mit dieser Entscheidung dem Indiz der Vergütungshöhe keine generelle Absage erteilt, allerdings dürfte sein Gewicht im Rahmen der Gesamtwürdigung erheblich gesunken sein und ihm allenfalls noch eine nachrangige Bedeutung zukommen.
4. Crowdworker
Das nächste Thema betrifft das sog. Crowdworking, ein Arbeitsmodell, bei dem eine bestimmte Arbeit einer großen Menge an interessierten Arbeitskräften angeboten wird. Diese Form der Arbeit wird durch die Digitalisierung und moderne Computer-Technologie ermöglicht. Registrierte Crowdworker bewerben sich um die einzelnen „Mikro-Jobs“ oder können sie direkt annehmen. Mit einer Entscheidung vom 01.12.2020 hat das BAG zur Frage der Arbeitnehmereigenschaft von Crowdworkern Stellung bezogen[6]. Crowdworker können hiernach Arbeitnehmer sein. Das konkrete Setting der Crowdworking-Plattform hatte im entschiedenen Fall im Hinblick auf die Auftragsannahme- und Vergütungsmechanismen zu einer faktischen Leistungspflicht geführt und die Auftragsabwicklung zu einer kontinuierlichen und engmaschig vorgegebenen Leistungserbringung verdichtet. Auch tatsächliche Zwänge durch eine vom Auftraggeber geschaffene Organisationsstruktur können nach Ansicht des BAG geeignet sein, den Beschäftigten zu dem gewünschten Verhalten zu veranlassen, ohne dass dazu konkrete Weisungen ausgesprochen werden müssen.
IV. Strafrechtlicher Arbeitgeberbegriff des § 266a StGB und Anforderungen an die subjektive Tatseite
1. Kein genuiner Arbeitgeberbegriff in § 266a StGB
Mit Blick auf die strafrechtlichen Konsequenzen der Statusverfehlung ist das Tatbestandsmerkmal „Arbeitgeber“ in § 266a StGB zentral.[7] Die Arbeitgebereigenschaft ist strafbegründendes persönliches Merkmal. Es richtet sich zunächst bei juristischen Personen an den Vertretungsberechtigten. Jeder formal bestellte Geschäftsführer ist Normadressat des § 266a StGB, und zwar unabhängig von der Ressortverteilung im Unternehmen. § 266a StGB kennt aber keinen genuinen Arbeitgeberbegriff. Dieser ist nach h.M. am Maßstab des Sozialversicherungsrechts auszulegen. Der Straftatbestand des § 266a StGB erweist sich somit als streng sozialrechtsakzessorisch – und zwar bezogen auf alle Tatbestandsmerkmale, nicht nur die Arbeitgeberstellung.
Voraussetzung ist somit das Vorliegen einer Beschäftigung des § 7 SGB IV, wonach insbesondere dann eine Beschäftigung vorliegt, wenn ein Arbeitsverhältnis besteht. Der Beschäftigungsbegriff geht aber über das Arbeitsverhältnis hinaus.
Angesichts der stark kasuistisch geprägten Materie[8] und divergierender Rechtsprechung der Arbeits- und Sozialgerichte steht die Bestimmtheit des Straftatbestands § 266a StGB in Frage.[9]
2. Anforderungen an den Tatvorsatz – Rechtsprechungsänderung mit BGH Beschl. v. 24.01.2018 – 1 StR 331/17
Unabhängig von diesen Einzelfällen hat die überfällige Entscheidung des BGH in Strafsachen zu Vorsatzfragen enorme Bedeutung für die Compliance-Praxis; und dies im Übrigen nicht nur im strafrechtlichen Kontext, auch sozialversicherungsrechtliche Verjährungsfragen (rückwirkende Zahlungspflichten für 30 statt 4 Jahre) mitsamt ihrer weitreichenden, ökonomischen Implikationen spielen hier eine entscheidende Rolle.
§ 266a StGB setzt in allen Tatbestandsalternativen Vorsatz voraus. Vorsätzlich handelt, wer die Umstände des gesetzlichen Tatbestands kennt. Der Vorsatz muss sich auf alle Tatbestandsmerkmale des § 266a StGB in seiner jeweiligen Variante erstrecken. Dazu gehören die Arbeitgebereigenschaft, die Fälligkeit zu zahlender Sozialversicherungsbeiträge, die Nichtzahlung sowie die Möglichkeit zur Abführung der Beiträge usw. Der Vorsatz muss ferner den wesentlichen Kausalverlauf und etwaige strafschärfende Umstände umfassen.
Bedingter Vorsatz genügt und wird angenommen, wenn der Täter die Nichtabführung fälliger Sozialversicherungsbeiträge zumindest billigend in Kauf nimmt. Eine entsprechende Absicht ist hingegen nicht erforderlich.[10]
Der 1. Strafsenat des BGH vertrat lange die sehr strenge und viel kritisierte Auffassung, bezüglich des Tatbestandsmerkmals „Arbeitgeber“ handele mit Tatvorsatz, wer alle tatsächlichen Umstände kennt, welche die Arbeitgebereigenschaft begründen.
Irrtümer über die Arbeitgeberstellung stellten hiernach lediglich einen Subsumtionsirrtum dar, der allenfalls geeignet sei, einen durch Durchführung eines Statusverfahrens nach § 7a Abs. 1 S. 1 SGB IV vermeidbaren Verbotsirrtum zu begründen.
An dieser Auffassung hält der 1. Strafsenat des BGH zurecht nicht länger fest. In seiner Entscheidung vom 24.1.2018 – 1 StR 331/17 kündigte er an, hiervon abweichen zu wollen:[11]
„In der Rspr. des BGH werden die Anforderungen an den Inhalt des Vorsatzes in Bezug auf das normative Tatbestandsmerkmal der Stellung als Arbeitgeber in § 266 a StGB und in § 41 a EStG i. V. mit dem Straftatbestand aus § 370 I Nrn. 1 und 2 AO unterschiedlich bestimmt. Nach der Rspr. des BGH wird bezogen auf die subjektive Tatseite in § STGB § 266 a StGB wie folgt differenziert: Der Vorsatz muss sich auf die Eigenschaft als Arbeitgeber und Arbeitnehmer – dabei allerdings nur auf die statusbegründenden tatsächlichen Voraussetzungen, nicht auf die rechtliche Einordnung als solche und die eigene Verpflichtung zur Beitragsabführung – und alle darüber hinausreichenden, die sozialversicherungsrechtlichen Pflichten begründenden tatsächlichen Umstände erstrecken. Liegt diese Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse vor, unterliegt der Täter, wenn er glaubt, nicht Arbeitgeber zu sein oder für die Abführung der Beiträge Sorge tragen zu müssen, keinem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum, sondern (allenfalls) einem – in der Regel vermeidbaren – Verbotsirrtum (BGH, Beschl. v. 7.10.2009 –1 StR 478/09 = NStZ 2010, 337 f. und v. 4.9.2013 –1 StR 94/13 = wistra 2014, 23 [25] Rn 16 – jew. mwN; Urt. V. 15.10.1996 – VI ZR 319/95 = BGHZ 133, 370 [381]).
Demgegenüber gehört nach st. Rspr. des BGH zum Vorsatz der Steuerhinterziehung, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennt oder zumindest für möglich hält und ihn auch verkürzen will (vgl. BGH, Urt. V. 13.11.1953 – BGH 5 StR 342/53 = BGHSt 5, 90 [91 f.] = NJW 1964, 241 und v. 5.3.1986 – BGH 2 StR 666/85 = wistra 1986, 174; Beschl. v. 19.5.1989 – BGH 3 StR 590/88 = BGHR AO § 370 I Vorsatz 2; v. 24.10.1990 – 3 StR 16/90 = BGHR AO § 370 I Vorsatz 4 und v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11 = NStZ 2012, 160 [161] Rn 21 f.). Nimmt der Steuerpflichtige irrtümlich an, ein Steueranspruch sei nicht entstanden, liegt nach der Rspr. ein Tatbestandsirrtum vor, der gem. § 16 I 1 StGB den Vorsatz ausschließt (vgl. BGH, Urt. V. 13.11.1953 –5 StR 342/53 = BGHSt 5, 90 [91 f.] = NJW 1964, 241 und v. 5.3.1986 – 2 StR 666/85 = wistra 1986, 174; Beschl. v. 19.5.1989 – 3 StR 590/88 = BGHR AO § 370 I Vorsatz 2; v. 24.10.1990 – 3 StR 16/90 = BGHR AO § 370 I Vorsatz 4 und v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11 = NStZ 2012, 160 [161] Rn 21 f.). Danach ist ein Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft in § 41 a EStG und die daraus folgende Steuerpflicht, an die der Steueranspruch und der Straftatbestand des § 370 I Nr. 2 AO anknüpfen, als Tatbestandsirrtum zu behandeln.
Da für die Differenzierung kein sachlicher Grund erkennbar ist und es sich jeweils um (normative) Tatbestandsmerkmale handelt, erwägt der Senat – insoweit entgegen den Überlegungen in dem Beschluss des Senats vom 8.9.2011 –1 StR 38/11 = NStZ 2012, 160 [161] Rn 23 ff. –, zukünftig auch die Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft in § 266 a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht insgesamt als (vorsatzausschließenden) Tatbestandsirrtum zu behandeln.“
In den nachfolgenden Entscheidungen der Strafsenate wurde dieser Richtungswechsel vollzogen.
Der Verteidigungsarbeit kommt gleichwohl nicht weniger, sondern mehr Bedeutung zu: Es gilt herauszuarbeiten, bei wem zu welchem Zeitpunkt welche (Er)Kenntnis vorlag – erst recht bei modernen Ausgestaltungen des Fremdpersonaleinsatzes.
VII. Fazit & Ausblick
Vor diesem Hintergrund bleibt es dabei, der Umgang mit Fremdpersonal bleibt ein zentrales Compliance-Thema an der Schnittstelle vor allem von Straf-, Sozial- und Arbeitsrecht. Zum einen, um Statusverfehlungen in der Praxis effektiv zu begegnen, zum anderen bilden Fragen nach Vorsatz und (Organisations-)Verschulden aber auch wirksame Einfallsstore für Verteidigungsstrategien in allen beteiligten Rechtsgebieten; immer vorausgesetzt, eine Contractor Compliance wurde gelebt. Die wesentlichen Eckpunkte einer derartigen Contractor Compliance ganz grob wie folgt umreißen:
- Risikoanalyse, d.h. Evaluierung der Haftungs- sowie weiterer Compliance-Risiken in Anbetracht des Umfangs des geplanten oder vollzogenen Outsourcings etc.
- Fallanalyse, d.h. Feststellung der praktischen Umsetzbarkeit eines geplanten Fremdpersonaleinsatzes auf Basis von Dienst- oder Werkverträgen in Anbetracht der konkreten Tätigkeiten etc.
- Vertragsmanagement, d.h. Entwurf von Musterverträgen einschließlich etwaiger spezifischer Regelungen zur Regulierung von Statusfragen und weiterer compliance-relevanter Aspekte etwa aus den Bereichen Haftung oder IP etc.
- Fallmanagement, d.h. Implementierung von Überwachungs- und Kontrollsystemen zur Umsetzung der Verträge in der betrieblichen Praxis sowie ggf. weiterer Mechanismen etwa zur Koordinierung des Fremdpersonaleinsatzes an Schnittstellen zu eigenen Arbeitnehmern und/oder Betriebsmitteln (z.B. Ticketsysteme oder sonstige Repräsentantenmodelle, Mietmodelle) etc.
Rechtsmanagement, d.h. Evaluierung des rechtlichen Rahmens anhand neuerer Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung etc.
Trotz all dieser Herausforderungen gilt, von multinationalen Konzernen bis hin zum Mittelstand, mittlerweile dürfte es kaum noch Unternehmen geben, in denen das Thema Contractor Compliance in den letzten Jahren keine Rolle gespielt hat. Die vorgenannten Entwicklungen der letzten Jahre zeigen nachdrücklich, dass sich dies in absehbarer Zeit kaum ändern dürfte.
[1] Quelle: Freelancer Kompass 2018
[2] Vgl. BSG vom 14.03.2018 – B 12 R 5/16 R, BSG bereits BSG vom 19.08.2015 – B 12 KR 9/14; BSG vom 11.11.2015 – B 12 R 2/14 R; BSG vom 29.06.2016 – B 12 R 5/14 R.
[3] BSG Urt. v. 20.07.2023 – B 12 BA 1/23 R, B 12 R 15/21 und B 12 BA 4/22 R; anders noch LSG Hessen v. 18.11.2021 – L 1 BA 25/21
[4] BSG v. 31.03.2017 – B 12 R 7/15
[5] BSG v. 04.06.2019 – B 12 R 11/18
[6] BAG v. 01.12.2020 – 9 AZR 102/20
[7] Dazu Klötzer-Assion in: Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold, Contractor Compliance, 2. Aufl. 2023, 2. Teil, 4. Kapitel; Aktuelle Entscheidungen: BGH, Urt. v. 14.6.2023 – 1 StR 74/22 (AG Eigenschaft § 266a StGB + Lohnsteuer); BGH, Beschl. v. 13.6.2023 – 1 StR 126/23 (Nettolohnfiktion, Schätzung, Strafschärfung bei kollusivem Zusammenwirken AG + AN); BGH, Beschl. v. 20.4.2023 – 1 StR 101/23 (Anforderungen an obj. + subj. TB); BGH, Urt. v 8.3.2023 – 1 StR 188/22 (AG Eigenschaft, RAe als freie MA); BGH, Beschl. v. 10.1.2023 – 1 StR 333/22 (AG Eigenschaft + Vorsatz, § 14 StGB Beauftragung); OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22.12.2022 – 1 Ws 225/21 (häusliche Pflege, keine abhängige Beschäftigung); BGH, Beschl. v. 23.3.2022 – 1 StR 511/21 (Bankrott und § 266a StGB, AG Eigenschaft); LG Traunstein Urt. v. 14.1.2022 – 6 KLs 280 Js 102098/16; LG Frankfurt (Oder), Urt. v. 9.3.2020 – 23 Wi KLs 1/18, NJW-Spezial 2020, 474 (Art. 103 GG, jedenfalls kein Vorsatz); BGH, Beschl. v. 3.3.2020 – 5 StR 595/19; BGH, Urt. v. 8.1.2020 – 5 StR 122/19 (Vorsatz nicht festgestellt); BGH, Beschl. v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18 (osteuropäische Pflegekräfte, erste Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH zur Behandlung des Irrtums des Täters über die Arbeitgeberstellung und/oder die Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen in § 266a StGB als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum); BGH, Beschl. v. 13.12.2018 – 5 StR 275/18 (Bühnenbauer); BGH, Urt. v. 24.1.2018 – 1 StR 331/17 (Rechtsprechungsänderung zu Anforderungen an Tatvorsatz).
[8] Siehe z.B. wichtige Entscheidungen der Sozialgerichte: Klötzer-Assion, Entscheidung des BSG zum „Poolarzt“ – Hunderte Dienstverträge beendet, Anmerkung zu BSG Urteil vom 24.10.2023 – B 12 R 9/21 R, https://wistev.de/journal/2024/02/25/entscheidung-des-bsg-zum-poolarzt-hunderte-dienstvertraege-beendet/; Klötzer-Assion, Wichtige Entscheidungen der Sozialgerichte 2021 – 2023 zum Thema Scheinselbständigkeit
Rechtsprechungsübersicht, https://wistev.de/journal/2024/02/24/wichtige-entscheidungen-der-sozialgerichte-2021-2023/.
[9] Siehe z.B. LG Frankfurt (Oder), Urt. v. 9.3.2020 – 23 Wi KLs 1/18, NJW-Spezial 2020, 474 (Art. 103 GG, jedenfalls kein Vorsatz).
[10] Umfassende Darstellung mit weiteren Nachweisen: Klötzer-Assion in: Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold, Contractor Compliance, 2. Aufl. 2023, 4. Teil, 4. Kapitel.
[11]BGH Bschl. v. 24.1.2018 – 1 StR 331/17, wistra 2018, 339 = NStZ-RR 2018, 180, 181 f.; dazu auch Grötsch NStZ 2020, 591.