Die Besetzungsprüfung
WiJ-Checklisten
Die Besetzungsrüge hat weiterhin nichts von ihrer Bedeutung für die Hauptverhandlungspraxis, gerade in umfangreichen und komplexen Strafverfahren, verloren[1]. Der Anspruch des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter ist ein wesentlicher Verfassungsgrundsatz (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). So sehr Verständnis dafür besteht, dass die Präsidien der Landgerichte in Zeiten knapper Ressourcen die Funktionsfähigkeit ihrer Spruchkörper aufrechterhalten müssen[2], so wenig dürfen sie andererseits den Anschein entstehen lassen, den „passenden“ Spruchkörper „zusammenzustellen“. Nur so kann die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden[3].
Die nachfolgende Checkliste soll eine Handreichung für Verteidiger:innnen darstellen, einen raschen und praxisnahen Einstieg in die anspruchsvolle Besetzungsprüfung zu finden.
I. Formalia
Wochenfrist[4] für die Erhebung der Besetzungsrüge ab Zustellung der Besetzungsmitteilung (§ 222b Abs. 1 S. 1 StPO).[5]
(Rechtzeitiger) Antrag auf Einsichtnahme in die Besetzungsunterlagen beim Präsidium des Landgerichts.
Handlungsempfehlung
- Ein Blick vorab in die online verfügbaren Geschäftsverteilungspläne (erste Vorprüfung, ob sich Hinweise auf eine Besetzungsproblematik ergeben könnten)
- Einsichtsgesuch an den Präsidenten des Landgerichts zu den relevanten Unterlagen (auch vorab möglich), und zwar:
- Sämtliche Geschäftsverteilungspläne für die Jahre seit Eingang der Anklageschrift nebst evtl. Änderungsbeschlüssen
- Sämtliche zugehörige Präsidiumsbeschlüsse einschließlich ihrer vollständigen Begründung und Änderungsbeschlüssen
- Unterlagen über Verhinderungen und Vertreterbestellungen
- Schöffenlisten
- Hilfsschöffenlisten
- Schöffenwahllisten
- Protokoll über die Schöffenwahl
- Etwaige Anträge und Verfügungen über die Streichung von Schöffen und Hilfsschöffen von der Schöffenliste
- Sofern die Bestimmung von Ergänzungs-/Vertretungsrichtern nach deren Dienst-/Lebensalter bestimmt wird: Mitteilung von Dienst-/Lebensalter der in Betracht kommenden Richter
- Instruktion des Mandanten über evtl. Zustellung der Besetzungsmitteilung
Formvorschriften entsprechen denen einer revisionsrechtlichen Verfahrensrüge (§ 222b Abs. 1 S. 2 StPO, § 344 Abs. 2 S. 2 StPO)[6]
- Vollständige und aus sich heraus verständliche Darstellung der einschlägigen Regelungen des Geschäftsverteilungsplans, der Präsidiumsbeschlüsse etc. [7]
- Bei Einsichtnahme bereits Kopien sämtlicher Unterlagen anfertigen
Konzentrationsgebot: sämtliche Einwände gegen die Besetzung sind zeitgleich anzubringen (§ 222b Abs. 1 S. 3 StPO)[8]
- Das Rügerecht steht dem Angeklagten und jedem der Verteidiger zu. Die Rüge des einen Beteiligten präkludiert die Rüge der anderen nicht[9]
keine Rügepräklusion durch Verständigung[10] oder wenn vor Ablauf der Wochenfrist bereits ein Urteil ergangen ist[11]
II. Berufsrichter
Maßstab: es muss aufgrund der generell-abstrakten Regelungen des Geschäftsverteilungsplans sowie des kammerinternen Geschäftsverteilungsplans die Zuständigkeit des Spruchkörpers und des einzelnen Richters im Vorhinein so eindeutig wie möglich feststehen.
Handlungsempfehlung zur Prüfung des Geschäftsverteilungsplans:
- Wurde der Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts und der kammerinterne Geschäftsverteilungsplan[12] im Vorjahr wirksam gefasst?
- Wurde er schriftlich niedergelegt?
- Gab es seitdem Änderungen?
- Betreffen die Änderungen die Zuständigkeit für das Verfahren?
- Halten die Änderungsbeschlüsse den gesetzlichen Vorgaben stand?
- Wurden die Regelungen des allgemeinen und kammerinternen Geschäftsverteilungsplans eingehalten?
- Sonderzuständigkeit einer Schwurgerichts-, Jugendschutz- oder Wirtschaftsstrafkammer?
- entspricht die Besetzung der kammerinternen Regelung?[15]
- Sonderfälle
- Vertretungsfall / Heranziehung eines Ergänzungsrichters/-richterin: gibt es hierfür generell-abstrakte Regelungen und wurden diese eingehalten?
- Handelt es sich um einen Fall der Zurückverweisung (§ 354 Abs. 2 S. 1 StPO) oder Eröffnung durch das OLG (§ 210 Abs. 3 StPO): existieren hierfür Regelungen im Geschäftsverteilungsplan?
III. Schöffen
Die Heranziehung der „richtigen“ Schöffen für das jeweilige Verfahren birgt regelmäßig Chancen, Fehler in der Besetzung zu finden.
Die Schöffen werden ebenfalls jährlich im Vorjahr gewählt (§§ 42 ff GVG)[16]. Die (Haupt-)Schöffen werden dabei den (ordentlichen) Sitzungstagen der jeweiligen Strafkammern (oder Schöffengerichte beim Amtsgericht) per Losverfahren zugewiesen und in eine Liste aufgenommen. Die Hilfsschöffen werden in eine gesonderte Hilfsschöffenliste eingetragen.
Handlungsempfehlung zur Prüfung der Heranziehung der Schöffen
- Erfolgte die Wahl in öffentlicher Sitzung (Protokolle befinden sich idR bei den Schöffenunterlagen des LG, ggf. müssen die Unterlagen beim AG eingesehen werden)?
- Waren die ausgewählten Schöffen dem Sitzungstag, an dem der Prozess beginnt, zugelost?
- Beginnt die Hauptverhandlung nicht an einem ihrer ordentlichen Sitzungstage, so ist zu unterscheiden: wurde der ordentliche Sitzungstag nur verschoben, können die für diesen Tag bestimmten Schöffen herangezogen werden; findet der Beginn der Hauptverhandlung aber an einem zusätzlichen Sitzungstag statt, weil der ordentliche Sitzungstag bereits belegt ist, müssen die Hilfsschöffen von der Hilfsschöffenliste herangezogen werden[17].
- Sofern eine Hilfsstrafkammer gebildet wurde, sind grds. die Schöffen der (entlasteten) ordentlichen Strafkammer heranzuziehen, Hilfsschöffen nur, wenn die ordentliche Strafkammer am gleichen Tag eine Verhandlung beginnt[18].
- Eignung zum Schöffenamt[19]?
- Willkürliche Entbindung eines Schöffen[20].
- Wegzug des Schöffen (§§ 77 Abs. 3, 54 GVG)?
[1] Aus jüngster Zeit etwa: BGH, Beschluss v. 17.01.2023 – 2 StR 87/22 (Übertragung bereits anhängiger Verfahren); Beschluss v. 06.09.2022 – 1 StR 63/22 (schlafender Schöffe)
[2] Vgl. Anmerkung Tully zu BGH NStZ 217, 429, 430.
[3] Vgl. BVerfG, Beschluss v. 16.02.2005 – 2 BvR 581/03 (NJW 2005, 2689).
[4] BGH, Beschluss v. 06.01.2021 – 5 StR 519/20 (NStZ-RR 2021, 81) bei nachträglicher Änderung der mitgeteilten Besetzung und defizitärer Mitteilung; vgl. auch Heuchemer, Praxisprobleme der Besetzungsrüge, § 222b StPO, im Wirtschaftsstrafverfahren, NZWiSt 2023, 87.
[5] Zur Statthaftigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens und zur Frage, in welchen Fällen keine Rügepräklusion eintritt, vgl. BGH, Beschluss v. 02.02.2022 – 5 StR 152 3/21 (NJW 2022, 1470)
[6] Vgl. dazu u.a. Müller/Schlothauer/Knauer/Kempf/Oesterle, Münchner Handbuch Strafverteidigung, § 6 Rn 69 ff; Beck`sches Formularbuch für den Strafverteidiger/Hamm, Kap. 7. Besetzungsrüge; KK-Gericke, § 338 Rn 9 ff, 52 ff.
[7] Vgl. dazu etwa BeckOK/Ritscher, § 222b Rn 10 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung.
[8] MK-StPO/Arnoldi, § 222b Rn 23f.
[9] MK-StPO/Arnoldi, § 222b Rn 25 mwN.
[10] BGH, Beschluss v. 17.01.2023 – 2 StR 87/22.
[11] Meyer-Goßner/Schmitt, § 222b Rn 23; vgl. auch OLG Köln, Beschluss v. 16.02.2024 – 2 Ws 58/24, 2 Ws 59/24, 2 Ws 60/24, 2 Ws 61/24 (BeckRS 2024, 3055) mit Anm. Beukelmann/Heim.
[12] Zum kammerinternen Geschäftsverteilungsplan: BGH, Beschluss v. 08.02.2017 (NStZ 2017, 429) mwN.
[13] BGH, Beschluss v. 20.04.2021 – StB 13/21, StB 14/21, StB 15/21 (BeckRS 2021, 9863); BGH, Urteil v. 09.04.2009 – 3 StR 376/08 (NJW 2010, 625); BGH, Urteil v. 30.07.1998 – 5 StR 574/97 (NJW 1999, 154); BVerfG, Beschluss v. 16.02.2005 – 2 BvR 581/03 (NJW 2005, 2689).
[14] BGH, Urteil v. 09.04.2009 – 3 StR 376/08 (NJW 2010, 625); BGH, Urteil v. 08.12.1999 – 3 StR 267/99 (NJW 2000, 1580); Meyer-Goßner/Schmitt, § 21e Rn 16a ff mwN.
[15] Zu zulässigen Abweichungen BGH, Beschluss v. 05.10.2021 – 3 StR 485/20 (NStZ 2022, 315).
[16] Ausführlich zur Schöffenwahl: MK-StPO/Schuster, zu § 42 GVG; Metz, JA 2019, 861.
[17] BGH, Urteil v. 14.07.1995 – 5 StR 532/94 (NJW 1996, 267); BGH, Beschluss v. 09.02.2005 – 2 StR 421/04 (NStZ-RR, 348); BGH, Beschluss v. 07.06.2005 – 2 StR 21/05 (NJW 2005, 3153).
[18] Meyer-Goßner/Schmitt, § 77 GVG Rn 6; BGH, Beschluss v. 07.02. 2007 – 2 StR 370/06 (NStZ 2007, 537).
[19] Ausschlussregelungen in §§ 31-34 GVG; Schöffen können nicht zugleich Haupt- und Hilfsschöffen sein: MK-StPO/Schuster, § 42 GVG mwN.
[20] BGH, Urteil v. 04.02.2015 – 2 StR 76/14; Urteil v. 14.12.2016 – 2 StR 342/15; andererseits aber auch BGH, Beschluss v. 05.10.2021 – 3 StR 485/20; BVerfG, Beschluss v. 16.12.2021 – 2 BvR 2076, 21, 2 BvR 2113/21 (auch zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei Vorabentscheidungsverfahren); zur Frage der Verhinderung außerdem: BGH, Urteil v. 22.11.2013 – 3 StR 162/13.