Christoph Tute

Strafschärfungsverbot als Bestandteil des Spezialitätsgrundsatzes

OLG Hamburg, Beschluss vom 17. August 2023 - Ausl 63/22

Die folgende Darstellung einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg zum Spezialitätsgrundsatz im Auslieferungsverkehr mit den USA wird zweisprachig veröffentlicht, in einer deutsch- und einer englischsprachigen Version.

OLG Hamburg, Beschluss vom 17. August 2023 – Ausl 63/22

I. Einleitung

In der hier dargestellten Entscheidung setzt sich das Oberlandesgericht Hamburg mit einem Auslieferungsersuchen der USA zum Zwecke der Strafverfolgung auseinander. Das Oberlandesgericht hat die Auslieferung wegen eines konkret drohenden Verstoßes gegen den Spezialitätsgrundsatz für unzulässig erklärt.

Der Spezialitätsgrundsatz besagt im Wesentlichen, dass eine ausgelieferte Person im ersuchenden Staat lediglich innerhalb der durch die Auslieferungsentscheidung des ersuchten Staates gesetzten Grenzen verfolgt werden darf. Im Grundsatz soll die Spezialität damit die Souveränität des ersuchten Staates bei der Leistung von Rechtshilfe schützen. Gerade die vorliegende Entscheidung zeigt aber auch die erhebliche Bedeutung des Spezialitätsgrundsatzes für den Verfolgten selbst auf. Der im Folgenden näher dargestellte Teilaspekt des Spezialitätsgrundsatzes in Form der Unzulässigkeit der Auslieferung bei konkret drohender strafschärfender Berücksichtigung nicht zugelassener Taten bei der Aburteilung von Auslieferungstaten hat damit auch eine besondere Bedeutung für die Beratung von verfolgten Personen als Rechtsbeistand.

II. Zugrundeliegendes Auslieferungsverfahren

Der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg lag ein Auslieferungsersuchen der USA zum Zwecke der Strafverfolgung zu Grunde: Dem Verfolgten wird in den USA vorgeworfen, sich in den Jahren 2018 bis 2022 im Zusammenwirken mit anderen ohne die erforderliche Genehmigung und unter Täuschung der zuständigen US-Behörden, Güter mit doppeltem Verwendungszweck und Güter mit „sensitiver militärischer Technologie“ in den USA verschafft bzw. dies versucht und/oder sich dazu verabredet zu haben, um die Güter an Endabnehmer in Russland zu liefern, wozu es im Einzelfall auch gekommen sein soll. Daneben wird ihm dort vorgeworfen, in den Jahren 2020 bis 2022 Öl im Wert von Hunderten von Millionen US-Dollar aus Venezuela, das unter einem US-Embargo stand, geschmuggelt und US-Finanzinstitute unter falschen Angaben unrechtmäßig dazu veranlasst zu haben, Transaktionen in Millionenhöhe durchzuführen.

Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg hat das Oberlandesgericht nach Eingang der formellen Auslieferungsunterlagen der US-Behörden am 29. Dezember 2022 die formelle Auslieferungshaft wegen lediglich fünf konkreter Taten angeordnet. Danach wird dem Verfolgten in den USA zur Last gelegt, in den Jahren 2018 und 2019 gemeinschaftlich handelnd mit anderen versucht zu haben, unter falschen Angaben Rüstungsgüter bzw. dual-use-Güter von US-Unternehmen zu beschaffen, um sie ohne die erforderliche Genehmigung an Endabnehmer in Russland zu liefern bzw. sich dazu mit seinen Mittätern verabredet zu haben, wobei in nur einem Fall Güter tatsächlich nach Russland geliefert wurden.

Im Verlauf des Auslieferungsverfahrens haben die US-Behörden aufgrund zunächst unzureichender Informationen nach Aufforderung durch das Oberlandesgericht mehrfach ergänzende Auskünfte erteilt, die sich unter anderem auf die Konkretisierung der in der US-Anklageschrift vom 26. September 2022 aufgeführten Güter bezog. Nach erfolgter Konkretisierung und Einholung einer fachtechnischen Bewertung des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle vom 25. April 2023 hat die Generalstaatsanwaltschaft mit Zuschrift vom 27. April 2023 beantragt, die Auslieferung des Verfolgten an die USA in einem – im Antrag der Generalstaatsanwaltschaft konkret angegebenen – geringen Teilumfang, nämlich für drei Taten der Verabredung zur Ausfuhr von insgesamt fünf verschiedenen Gütern, für zulässig und im Übrigen für unzulässig zu erklären.

Das Oberlandesgericht hatte die US-Behörden bereits mit Verfügung vom 30. Januar 2023 gebeten, Erklärungen zum Grundsatz der Spezialität abzugeben und mit Verfügung vom 29. März 2023 an die Beantwortung der erbetenen Erklärungen erinnert. Mit Schreiben vom 11. Mai 2023 hat das Oberlandesgericht die US-Behörden ferner gebeten, detaillierte Fragen zum Spezialitätsgrundsatz zu beantworten. Die US-Botschaft hat mit Verbalnoten vom 30. März 2023 und 20. Juni 2023 und mit Schreiben des US-Justizministeriums vom 30. Juni 2022 darauf geantwortet.

Zuletzt hat das Oberlandesgericht mit Verfügung vom 12. Juli 2023 die Generalstaatsanwaltschaft ersucht, über die die US-Behörden zu bitten, eine Zusicherung im Hinblick darauf abzugeben, dass Straftaten, die von einer deutschen Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nicht erfasst sind, keine strafschärfende Berücksichtigung in einem Verfahren wegen der Taten finden würden, für die eine Auslieferung für zulässig erklärt worden ist. Die US-Behörden haben darauf mit Verbalnote der US-Botschaft vom 3. August 2023 geantwortet und auf ihr Verständnis der Bedeutung und des Umfanges des in Art. 22 des Auslieferungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika („AuslV D-USA“) vereinbarten Spezialitätsgrundsatzes, ihre langjährige Rechtsprechung, ihre Strafzumessungspraxis und die Unabhängigkeit der Gerichte hingewiesen. Insoweit haben die US-Behörden unter anderem der Sache nach ausgeführt, dass ein „wiederholtes kriminelles Verhalten“, welches auch in Taten liegen könne, für die eine Auslieferung nicht bewilligt worden sei, nach US-Recht ein maßgeblicher Strafzumessungsgesichtspunkt sei und die „Berücksichtigung der Durchführung außerhalb der zur Last gelegten Straftat“ im Rahmen der Strafzumessung für die angeklagte Straftat im Einklang mit den US-Rechtsvorschriften stehe und keine Vergeltung der berücksichtigten, aber nicht angeklagten Tat darstelle, sondern eine Vergeltung allein der angeklagten Tat. Der Grundsatz der Spezialität werde laut den US-Behörden deswegen durch die strafschärfende Berücksichtigung nicht verletzt. Die US-Behörden seien wiederum nicht befugt, ein unabhängiges US-Gericht an der Anwendung der vorgenannten Strafzumessungserwägungen zu hindern.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Verfügung vom 11. August 2023 an ihrem Zulässigkeitsantrag vom 27. April 2023 (s.o.) festgehalten und dazu ausgeführt: Die US-Behörden hätten zwar die erbetene Zusicherung nicht abgegeben und könnten diese im Hinblick auf die Unabhängigkeit der US-Gerichte und das dortige Rechtsverständnis, wonach der Spezialitätsgrundsatz eine strafschärfende Berücksichtigung von Taten, für die die Auslieferung nicht bewilligt worden sei, nicht erfasse, auch gar nicht abgeben. Auf die allgemeine Zumessungspraxis der US-Gerichte komme es vorliegend jedoch gar nicht an, denn es müsse lediglich die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nach deutschem Recht im konkreten Fall sichergestellt werden. Dies könne dadurch geschehen, dass die Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts unter die Bedingung gestellt werde, die dann zwangsläufig auch Bestandteil der nachfolgenden Entscheidung über die Bewilligung der Auslieferung durch die Bundesregierung und damit völkerrechtlich verbindlich werden würde. Es sei davon auszugehen, dass die US-Gerichte einen solchen Spezialitätsvorbehalt beachten würden.

Der Rechtsbeistand des Verfolgten hat wiederholt beantragt, die Auslieferung insgesamt für unzulässig zu erklären.

III. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg vom 17. August 2023

Das Oberlandesgericht Hamburg hat mit Beschluss vom 17. August 2023 die von den USA ersuchte Auslieferung des Verfolgten insgesamt für unzulässig erklärt.[1]

Zur Begründung verweist das Oberlandesgericht zunächst darauf, dass die Auslieferung in einem erheblichen Umfang bereits an der Voraussetzung einer beiderseitigen Strafbarkeit scheitere. Bei weiteren Vorwürfen fehle es an einer hinreichenden Konkretisierung.

Hier von besonderem Interesse ist jedoch der Teil der Auslieferungsentscheidung, mit dem die Auslieferung trotz hinreichender Konkretisierung und Annahme einer beiderseitigen Strafbarkeit (nämlich als Verstoß gegen das AWG) abgelehnt wurde, weil nicht gesichert war, dass die Einhaltung des Strafschärfungsverbots als Bestandteil des Spezialitätsgrundsatzes (dazu 1.) durch den ersuchenden Staat beachtet wird – wofür hier konkrete Anhaltspunkte (dazu 2.) vorlagen.

1. Das Oberlandesgericht verweist zunächst auf Art. 22 AuslV D-USA, in dem der Spezialitätsgrundsatz für Auslieferungen zwischen Deutschland und den USA zwischenstaatlich konkret vereinbart ist.[2]

Es kommt sodann im Wege einer ausführlichen Auslegung von Art. 22 AuslV D-USA zu dem zutreffenden Ergebnis, dass dieser letztlich auch eine strafschärfende Berücksichtigung von Taten, hinsichtlich derer die Auslieferung abgelehnt worden ist, untersagt.[3] Als Maßstab für die primär am Völkerrecht ausgerichtete Auslegung benennt das Oberlandesgericht neben dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, laut dem ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland möglichst vermieden werden soll, auch Treu und Glauben, d.h. die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zwecks.[4] Die eigentliche Auslegung erfolgt dann in zwei Schritten:

Ausgangspunkt ist der Wortlaut des Art. 22 AuslV D-USA, nach dem ein auf Grund des Vertrags Ausgelieferter wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Straftat als derjenigen, derentwegen er ausgeliefert worden ist,

nicht verfolgt, abgeurteilt, zur Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung in Haft gehalten oder einer sonstigen Beschränkung seiner persönlichen Freiheit unterworfen werden

darf. Man könnte insoweit von einem Verfolgungs- und Vollstreckungsverbot sprechen.

Im ersten Schritt erkennt das Oberlandesgericht über diesen unmittelbaren Wortlaut hinaus auch ein Verbot, den Ausgelieferten wegen einer anderen Straftat zu bestrafen. Das damit beschriebene Bestrafungsverbot, versteht sich – so auch ausdrücklich das Oberlandesgericht – von selbst und gehört zum anerkannten Kernbestand des Spezialitätsgrundsatzes.[5] Es wird auch von dem hier konkret ersuchenden Staat, den USA, nicht in Abrede gestellt.

Das Oberlandesgericht geht dann aber – entgegen der ausdrücklichen Ansicht der US-Behörden – noch einen Schritt weiter: Es ist laut dem Oberlandesgericht davon auszugehen, dass auch die strafschärfende Berücksichtigung nicht zugelassener Taten bei der Aburteilung von Auslieferungstaten einen Verstoß gegen das soeben genannte Bestrafungsverbot darstellt – damit wird ein Strafschärfungsverbot als Bestandteil des Spezialitätsgrundsatzes anerkannt. [6] Dieses Ergebnis verteidigt das Oberlandesgericht auch zutreffend gegen das Argument der US-Behörden, dass eine strafschärfende Berücksichtigung einer anderen Tat nicht als Bestrafung der nicht zugelassenen Tat, sondern als Teil der Bestrafung der Auslieferungstat aufzufassen sein soll. Diese Erwägung kann jedoch laut dem Oberlandesgericht nicht auf den Spezialitätsgrundsatz, dessen Reichweite

maßgeblich durch den ihm innewohnenden Zweck und seine im Völkerrecht übliche und anerkannte Ausgestaltung bestimmt

werde, übertragen werden.[7] Andernfalls könnte das Bestrafungsverbot unschwer umgangen werden, wenn die Tat zu einer Erhöhung der Strafe für eine andere Tat führen könnte, was wiederum dem Sinngehalt des Spezialitätsgrundsatzes widersprechen würde.

Das Oberlandesgericht ergänzt sodann noch, dass die von ihm gefundene Auslegung des Spezialitätsgrundsatzes jedoch nicht durch zwingendes Völkerrecht vorgegeben sei und damit letztlich der Vertragsfreiheit der beteiligten Staaten unterliege.[8] Da im Auslieferungsvertrag eine abweichende Regelung zwischen Deutschland und den USA nicht getroffen wurde, stand dies der Auslegung des Oberlandesgerichts hier jedoch auch nicht entgegen.

2. Da das damit beschriebene Strafschärfungsverbot als Bestandteil des Spezialitätsgrundsatzes allerdings nur dann zur Unzulässigkeit der Auslieferung führen soll, wenn konkret zu besorgen ist, dass es nach der Auslieferung des Verfolgten nicht ausreichend beachtet werden würde,[9] geht das Oberlandesgericht im Folgenden auf die insoweit vorliegenden stichhaltigen Anhaltspunkte ein: Der entscheidende Aspekt ist dabei die Strafzumessungspraxis der US-Gerichte, die laut dem Oberlandesgericht „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ den Grundsatz der Spezialität konkret zu verletzen droht. Das Oberlandesgericht erwähnt sodann die Entscheidungen der US-Gericht, aufgrund derer es befürchtet,

dass der Verfolgte im Falle einer Verurteilung nicht nur für die ausgelieferten Straftaten, sondern auch für die Taten bestraft werden wird, für die die ersuchte Auslieferung wegen fehlender Strafbarkeit nach deutschem Recht unzulässig ist“.[10]

Hinzu kommen die von den US-Behörden abgegebenen Erklärungen, die diese Rechtsprechung bestätigen und unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es nach US-Rechtsverständnis keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Spezialität darstellt, wenn im Rahmen der Strafzumessung für die ausgelieferte Taten auch weitere Taten des Verfolgten straferhöhend berücksichtigt werden.

Die damit festgestellte konkrete Gefahr kann laut dem Oberlandesgericht auch nicht – wie von der Generalstaatsanwaltschaft vorgeschlagen (s.o.) – dadurch ausgeräumt werden, dass die Auslieferung mit der Bedingung versehen wird, dass Taten, für die die Auslieferung für unzulässig erklärt worden ist, (auch) bei der Festsetzung der Höhe der Strafen für die auslieferungsfähigen Taten nicht berücksichtigt werden dürfen. Ein solcher einseitiger Vorbehalt des ersuchten Staates sei zwar in engen Grenzen möglich, er könne aber nur dann einer völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung des ersuchenden Staates gleichgestellt werden, wenn er rechtlich in gleicher Weise verbindlich ist, wie eine von dem ersuchenden Staat abgegebene rechtsverbindliche Zusicherung. Davon ist im vorliegenden Fall nicht auszugehen, da auch mit der vorgeschlagenen Bedingung erhebliche Zweifel bestehen bleiben, ob der Spezialitätsgrundsatz von den US-Gerichten vollumfänglich beachtet werden würde. Insoweit nimmt das Oberlandesgericht Bezug auf die von den US-Behörden erbetene Zusicherung, dass Straftaten, für die die Auslieferung abgelehnt wird, keine strafschärfende Berücksichtigung in den Verfahren wegen der Taten finden, für die eine Auslieferung für zulässig erklärt worden ist. Da die US-Behörden eine solche Erklärung abgelehnt und vielmehr insbesondere auf ihre entgegenstehende Überzeugung hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Spezialitätsgrundsatzes hingewiesen haben, liege eine klaren Auskunft mit einer eindeutigen Positionierung vor, aufgrund derer es das Oberlandesgericht – auch vor dem Hintergrund des im Auslieferungsverkehr geltenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens – für ausgeschlossen hält, dass die vorgeschlagene Bedingung eine ausreichende Gewähr dafür bieten würde, dass die US-Gerichte entgegen der US-Rechtsauffassung Taten, für die die Auslieferung für unzulässig erklärt worden ist, nicht strafschärfend berücksichtigen werden.

Nach alledem hat das Oberlandesgericht die von den USA ersuchte Auslieferung des Verfolgten folgerichtig insgesamt für unzulässig erklärt.

IV. Bewertung und praktische Bedeutung

Wer von einem Auslieferungsersuchen betroffen ist, wird üblicherweise bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Auslieferungsverfahrens zum ersten Mal mit dem Grundsatz der Spezialität konfrontiert: Im Rahmen der amtsrichterlichen Haftvorführung gehört es zum regelmäßigen Programm, dass der Betroffene nicht nur darüber belehrt wird, dass er auf diesen ihm in den allermeisten Fällen bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten Grundsatz verzichten kann, sondern auch darauf hingewiesen wird, „dass ein solcher Verzicht im Interesse seiner Resozialisierung liegen kann, da er dem ersuchenden Staat die Möglichkeit gibt, alle gegen ihn vorliegenden Tatvorwürfe in einem Verfahren zu erledigen“ (so eine übliche Formulierung aus entsprechenden Sitzungsprotokollen). Die in diesem Hinweis enthaltene Werbung für den Verzicht auf einen fundamentalen Grundsatz des Auslieferungsrechts – zumal gegenüber einer Person, die oft erst wenige Stunden zuvor zum ersten Mal erfahren hat, dass in einem anderen Staat ein Strafverfahren gegen sie geführt wird – mutet doch eher zynisch an; insbesondere, wenn man sich die komplexen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Reichweite des Spezialitätsgrundsatzes vor Augen führt. Sofern der Betroffene dieser frühen Verführung hoffentlich standhält, ist es im weiteren Verlauf des Auslieferungsverfahrens nicht selten einer der wichtigsten Aspekte seiner Verteidigung, sicherzustellen, dass er im Falle einer Auslieferung im ersuchenden Staat tatsächlich auch nur wegen der dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden Taten verfolgt und ggf. bestraft wird – in anderen Worten: dass der Spezialitätsgrundsatz zumindest im weiteren Verlauf ernst genommen wird.

Es ist daher zu begrüßen, dass das Oberlandesgericht Hamburg in der hier dargestellten Entscheidung klarstellt, dass der Spezialitätsgrundsatz auch eine strafschärfende Berücksichtigung nicht zugelassener Taten bei der Aburteilung von Auslieferungstaten verbietet und dass ein konkret drohender Verstoß gegen diesen Aspekt zur vollständigen Unzulässigkeit der Auslieferung führt.

Der konkrete Umgang mit dem Spezialitätsgrundsatz wird damit einmal mehr zur auslieferungsrechtlichen Gretchenfrage.[11] In entsprechenden Fallkonstellationen wird der Umgang mit dem Strafschärfungsverbot durch den ersuchenden Staat stets von den an der Auslieferung beteiligten Behörden zu klären bzw. diese Aufklärung durch entsprechende Anträge und Eingaben des Beistands einzufordern sein. Denn selbst wenn sich daraus am Ende nicht die vollständige Unzulässigkeit der Auslieferung ergibt, wird es für das im ersuchenden Staat anstehende Strafverfahren von erheblicher Bedeutung sein, dass die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes – auch und gerade in seiner Ausprägung als Strafschärfungsverbot – durch eine klare Verpflichtung der Behörden des ersuchenden Staates zur Einhaltung der damit gesetzten Grenzen so gut wie möglich abgesichert ist. Gerade im Auslieferungsverkehr mit Staaten, in denen es mitunter zu drakonischen Strafen kommt, kann es einen fundamentalen Unterschied machen, ob bestimmte Taten bei der Strafzumessung berücksichtigt werden dürfen oder nicht.

In der Praxis dürfte die größte Schwierigkeit für die Verteidigung darin liegen, zu prüfen und darzulegen, dass ein Verstoß des ersuchenden Staates gegen den Spezialitätsgrundsatz „konkret zu besorgen“ ist bzw. „stichhaltige Anhaltspunkte“ dafür vorliegen. Zwar wird man im Auslieferungsverkehr mit den USA schon aus den im hier zugrundeliegenden Auslieferungsverfahren abgegebenen Erklärungen der US-Behörden eine fortdauernde konkrete Gefahr des Verstoßes gegen den Spezialitätsgrundsatz ableiten können, was in vergleichbaren Fällen bis auf Weiteres regelmäßig die vollständige Unzulässigkeit der Auslieferung zur Folge haben dürfte.[12] Im Auslieferungsverkehr mit anderen Staaten müssten „stichhaltige Anhaltspunkte“, sofern sie denn gegeben sind, jedoch erst noch herausgearbeitet werden. Insofern kann es sich für die Verteidigung – je nach vorhandenen Sprachkenntnissen – anbieten, sich zunächst mit einer eigenen Recherche zur Rechtslage im ersuchenden Staat und dem dortigen Umgang mit dem Spezialitätsgrundsatz voranzutasten. Nicht zuletzt, weil es auch auf die im konkreten Fall im ersuchenden Staat zu erwartenden – eventuell auch über das Auslieferungsersuchen hinausgehenden – Vorwürfen gegenüber dem Verfolgten ankommen kann, wird eine verlässliche Recherche kaum möglich sein ohne Unterstützung durch einen Verteidiger im Zielstaat, dessen frühzeitige Einschaltung, wenn es nur irgendwie möglich ist, ohnehin empfehlenswert ist. Da das Ergebnis, wie die hier dargestellte Entscheidung eindrücklich zeigt, die vollständige Unzulässigkeit der Auslieferung sein kann, kann sich dieser Mehraufwand durchaus lohnen.

[1] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 11.
[2] Der zweisprachige Auslieferungsvertrag ist hier zugänglich: http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl280s0646.pdf.
[3] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 16 ff.
[4] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 17 f.
[5] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 21 m.w.N.
[6] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 22 m.w.N.
[7] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 22.
[8] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 23; siehe dazu auch die Anmerkung von Trüg, NJW 2024, 159 (163) mit der vorzugswürdigen Ansicht, „dass es doch Teil zwingenden Völkerrechts ist, jedenfalls für die Auslieferung das Bestrafungsverbot als Kernbestand des Spezialitätsgrundsatzes effektiv dadurch zu schützen, dass die strafschärfende Berücksichtigung nicht zugelassener Taten bei der Aburteilung von Auslieferungstaten nicht zur Disposition von Vertragsparteien gestellt wird“.
[9] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 25 ff. m.w.N.
[10] OLG Hamburg, Beschl. v. 17. August 2023 – Ausl 63/22, juris, Rz. 28; für eine ausführliche Darstellung der Strafzumessung hinsichtlich nicht angeklagter Taten, insbesondere im Zusammenhang mit Auslieferungsverfahren, nach dem US-Recht und der dazu ergangenen Entscheidungen der US-Gerichte siehe die Anmerkung von Hiéramente, StV Spezial 2024, 22.
[11] Siehe zuletzt vor allem BVerfG, Beschl. v. 24. März 2016- 2 BvR 175/16.
[12] Vgl. dazu die Anmerkung von Hiéramente, StV Spezial 2024, 22, der auch darauf hinweist, dass eine Änderung der Rechtsprechung der US-Gerichte nicht absehbar und daher eine dauerhaft tragbare Lösung nur durch eine Änderung des Auslieferungsvertrags möglich sei.

Autorinnen und Autoren

  • Christoph Tute
    Christoph Tute, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, ist Partner der auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht spezialisierten Kanzlei schilling tute. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen auf den Themen Untreue, Korruption, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Umweltdelikte und Vermögensabschöpfung. Außerdem ist er regelmäßig in Auslieferungsverfahren bzw. Verfahren mit Bezug zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen tätig.

WiJ

  • Dr. Ulrich Leimenstoll

    Umweltstrafrecht – besondere Herausforderungen für die Verteidigung und strafrechtliche Beratung

    Produkthaftung, Umwelt, Fahrlässigkeit und Zurechnung

  • Dr. Carolin Raspé , Dr. Roland Stein

    Strafrechtliche Risiken bei der Sanktions-Compliance

    Außenwirtschaftsrecht, Kriegswaffenkontrollrecht

  • Ronja Pfefferl , Henrik Halfmann

    Außerstrafrechtliche Folgen von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

    Individual- und Unternehmenssanktionen