Svenja Jutta Luise Karl, Die Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen. Kritik und Verbesserungsvorschläge unter besonderer Berücksichtigung des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens.
Nomos, 2023, 522 Seiten. ISBN 978-3-7560-0719-6, 154,00 EURO
I. Einleitung
Die von Jahn betreute und im Jahr 2023 veröffentliche Dissertation widmet sich einem äußerst aktuellen Thema, dessen praktische Bedeutung in der (wirtschafts-) strafrechtlichen Praxis vielfach unterschätzt werden dürfte. Karl beleuchtet die Regelungen zur elektronischen Akte und widmet sich dabei der Frage, welche Auswirkung die Digitalisierung der Strafakte auf das (verfassungsrechtlich) geschützte Recht auf rechtliches Gehör, insbesondere das Recht auf Akteneinsicht, haben könnte. Zwar ist das Führen der elektronischen Akte derzeit noch fakultativ (§ 32 Abs. 1 S. 1 StPO). Dennoch ist das rechtliche Instrumentarium bereits existent (§§ 32 ff. StPO, diverse Verordnungen, s.u.) und damit einer kritischen Analyse sowie einer (gesetzlichen) Optimierung vor Umstellung auf die elektronische Aktenführung zugänglich. Karl ist angetreten, diese Analyse der Reform vorzunehmen, Problemfelder zu antizipieren und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Die aus Praxissicht wichtigsten Themenfelder sollen im Folgenden skizziert werden. Die für die (wirtschafts-) strafrechtliche Praxis eher mittelbar relevanten Ausführungen zum Aktenbegriff (Kapitel 3, S. 314 ff.) werden hier hingegen ausgeblendet.
II. Inhalt
Die Arbeit von Karl beginnt zunächst mit zwei Grundlagenkapiteln (Abschnitt A, S. 31 ff.). In einem Grundlagenkapitel 1 werden zunächst die verfassungsrechtlichen Grundlagen, insbesondere das in Art. 103 Abs. 1 GG normierte grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör, dargestellt (S. 31 ff.) und die wichtigsten Vorschriften in der StPO vorgestellt (S. 41 ff.). Das folgende Grundlagenkapitel 2 ermöglicht dem Leser einen ersten vertieften Einblick in das Projekt „elektronische Akte“ und stellt die in der anwaltlichen Praxis wohl noch kaum vertrauten (Bundes-) Verordnungen vor, die die Art und Weise der Aktenführung und Akteneinsichtsgewährung in Zukunft maßgeblich prägen werden. So werden u.a. die Strafaktenführungsverordnung, die Dokumentenerstellungs- und Übermittlungsverordnung sowie die Strafakteneinsichtsverordnung erläutert (S. 47 ff.). In diesen Ausführungen wird bereits auf wichtige Weichenstellungen hingewiesen, die später im Detail erläutert werden. So regeln die Verordnungen u.a. die digitalen Formate und die technische Struktur der elektronischen Akte in Strafsachen (S. 57) und schaffen zum Zwecke der Akteneinsichtsgewährung ein neues Konstrukt, das Repräsentat (S. 58, 63 f.).
Die Schaffung eines solchen Repräsentat stellt eine gewichtige Abweichung vom bisherigen Regelungsansatz dar, geht doch die bisherige Rechtslage davon aus, dass das Einsichtsobjekt gleich dem Aktenobjekt ist (S. 73). Die Akte, die Staatsanwältin oder Staatsanwalt in den Händen hält, wird auf dem Postweg übersandt und liegt der Verteidigung unmittelbar vor. In Wirtschaftsstrafverfahren ist es zwar heute bereits üblich, dass Hauptakte, Sonderhefte und Beweismittelordner in digitaler Form übermittelt werden (per Datenträger oder Download). Dennoch entspricht die Übersendung des Originals der Akte dem gesetzgeberischen Leitbild. Dies soll sich mit der geplanten Einführung des Repräsentats ändern.
Dieser Paradigmenwechsel wird von Karl im ersten Kapitel des Abschnitts B dargestellt (S. 69 ff.). Karl erläutert, wie die elektronische Akte der Zukunft strukturiert wird (S. 75), wie mit Metadaten umzugehen ist (S. 76) und kommt dann auf das Repräsentat zu sprechen (S 82 ff.), dessen zentrale Schwäche Karl schnell klar benennt, wenn sie darauf hinweist, dass das Repräsentat – anders als die elektronische Akte selbst – auf das PDF/A-Format beschränkt ist (S. 86) und Dateien im Originalformat nur auf Bedarf übermittelt werden sollen (S. 87).
Karl weist auch auf eine weitere Besonderheit hin. So erfordere die Bearbeitung der elektronischen Akte ein eigenes Bearbeitungstool, welches dem Nutzer der elektronischen Akten nicht nur den Zugriff auf die Akte ermögliche, sondern diesen insbesondere in Umfangsverfahren in die Lage versetze, die Akteninhalte zu strukturieren (S. 95 ff.). Angesichts dieser praktischen Bedeutung des Bearbeitungstools wirft Karl die (berechtigte) Frage auf, ob auch das Tool selbst zur formalen Akte gehört (S. 102). Zudem diskutiert sie, ob die nach dem derzeitigen Regelungskonzept zu erfolgende Akteneinsicht durch Bereitstellung des Repräsentats – ohne das Bearbeitungstool – zu einer Beeinträchtigung der Waffengleichheit führen kann (S. 103 ff.). Dabei zieht sie eine Parallele zum Einsatz einer forensischen Analysesoftware im Rahmen der Auswertung von digitalen Beweisen, die aufgrund beschränkter Ressourcen der (Pflicht-) Verteidigung zu einem praktischen Ungleichgewicht führen kann (S. 110 ff.). Karl mahnt, dass in Zukunft Rechtslücken drohen könnten, wenn die eingesetzten Bearbeitungstools einen erheblichen und vom Empfänger des Repräsentats nicht reproduzierbaren Vorteil versprechen (S. 109). Hier schlägt Karl Anpassungen vor, um zukünftigen Konflikten vorzubeugen (S. 172 ff.). Dass der Einsatz von Bearbeitungstools ein beträchtlicher Faktor werden kann, liegt – nicht nur aufgrund des möglichen zukünftigen Einsatzes von KI – auf der Hand. Angesichts stetig zunehmender Datenmengen dürfte nicht nur die Zahl der erhobenen Beweise ansteigen. Es ist ebenso zu erwarten, dass sich auch Umfang und Komplexität der Akte im engeren Sinne erhöhen wird. In Umfangsverfahren, wie z.B. im Bereich Cum-Ex-Ermittlungen, haben Akten bekanntlich bereits einen Umfang angenommen, der einer „händischen“ Durchsicht kaum mehr zugänglich ist. Zu Recht nimmt Karl daher diese Thematik in den Blick und weist auf mögliche Problemstellungen hin.
Ein größeres Risiko sieht Karl in der drohenden Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten durch die in den Verordnungen vorgesehenen Limitierungen des Repräsentats. Karl stellt dazu zunächst die rechtlichen und faktischen Beschränkungen des Kontrollrechts in der analogen Verfahrenswelt dar (S. 114 ff.) und widmet sich dann der Problemstellung, dass die elektronische Akte (nur) relativ auf das PDF-Format limitiert wird, das Repräsentat hingegen absolut auf das PDF/A-Format (S. 129 ff.). Hierzu erläutert Karl zunächst im Detail die technischen Hintergründe und vor allem die Bedeutung von Metadaten in der digitalen Welt. Diese Metadaten drohten in Konvertierungsvorgängen, insbesondere bei einer Konvertierung von Dateien in das PDF/A-Format verloren zu gehen (S. 137). Auch Inhalte von Dateien drohten bei der Konvertierung verloren zu gehen (z.B. bei Emails oder Excel-Tabellen, vgl. S. 191) bzw. seien einer Konvertierung in PDF überhaupt nicht zugänglich (z.B. Video-Formate, vgl. S. 191).
Gerade weil in der elektronischen Akte auch andere Dateiformate gespeichert werden können, das Repräsentat aber auf PDF/A beschränkt ist und insoweit zwangsläufig eine Konvertierung stattfindet, drohe ein für das rechtliche Gehör potentiell gefährliches Auseinanderfallen zwischen Akte und Repräsentat (S.138 f.). Karl resümiert insoweit treffend: „Durch den Einsatz des Repräsentats in den Akteneinsichtsvorgang wird eine technischer Zwischenschritt in Gestalt der formatbegrenzenden Konvertierung eingeführt, der der Kenntnis und Einflussnahme des Einsichtsberechtigten entzogen ist. Darin verbirgt sich ein Verlustrisiko sowohl auf formaler als auch inhaltlicher Ebene.“ (S. 158).
Diese Beschränkung seien dem Verordnungsgeber bewusst gewesen, da er für diese Fälle einen Hinweis im Repräsentat fordere (S. 185). Auch die Wahl von PDF/A sei bewusst erfolgt. Karl stellt insoweit die technischen Grundlagen zum PDF-Format dar (S. 186 ff.) und weist daraufhin, dass im PDF-Format auch andere Dateitypen eingebettet werden könnten (vgl. S. 193), der Gesetzgeber sich aber für das restriktivere PDF/A-Format entschieden habe (vgl. S. 194 ff.). Karl analysiert zwar im Detail, dass es mittlerweile auch im PDF/A-Format neuere Versionen (PDF/A-3, PDF/A-4) gebe, die eine Einbettung anderer Formate ermöglichten (S. 248 ff.). In den Verordnungen sei auch keine Version des PDF/A-Formats ausdrücklich vorgeschrieben (S. 253), eine rechtssichere Lösung sei insoweit aber dennoch zweifelhaft (S. 260). Karl resümiert: „Das PDF/A-Format erwächst dadurch als Grundproblem des gesamten Digitalisierungsprojekts“.
Die Arbeit untersucht auch, wie derartige Probleme in der Verordnung in der Praxis adressiert werden könnten. Hier bringt Karl u.a. § 32f Abs. 1 S. 3 2. Alt. StPO ins Spiel (S. 240 ff.), der die Bereitstellung von Inhalten der elektronischen Akte auf Antrag und bei Darlegung eines berechtigten Interesses ermöglicht. Diese Option sei zwar bereits wegen des Antragserfordernisses nachteilig (S. 241). Vor allem aber sehe der Verordnungsgeber vor, dass Inhalte der Akte im PDF/A zur Verfügung zu stellen seien (S. 244). Auch für Analogien sieht Karl keinen Raum (S. 246 ff.).
Das Resultat der Betrachtungen ist daher für den Rechtsanwender ernüchternd. Durch die Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts droht eine Divergenz zwischen staatsanwaltschaftlicher Akte und Repräsentat zu entstehen, die bedenklich ist. So nachvollziehbar grundsätzlich die Wahl eines Archivierungsformats für die Ausgestaltung von Aktenführungsbestimmungen ist, so bedenklich ist die Wahl im Rahmen der Gewährung von Akteneinsicht in die elektronische Akte in Strafsachen. Die anwaltliche und staatsanwaltschaftliche Praxis ist aufgefordert, die Entwicklungen in diesem Bereich genau im Blick zu behalten und dafür Sorge zu tragen, dass mit der Digitalisierung des Akteneinsichtsrechts und der Programmierung der Aktenführungssoftware kein (partieller) Rückschritt einhergeht. So ist es derzeit noch gängige Praxis, dass bei Übersendung von Datenträgern in Umfangsverfahren zum Teil auch Dateien in anderen, nicht (verlustfrei) konvertierbaren Formaten übermittelt werden (z.B. Excel-Listen, Videodateien). Sollte hingegen in Zukunft die Erstellung des Repräsentats unter Berücksichtigung der PDF/A-Vorgaben automatisiert werden, könnten derartige, positive Entwicklungen möglicherweise in Vergessenheit geraten.
Ein weiterer von Karl beleuchteter Aspekt des Kontrollrechts ist die Möglichkeit der Authentizitätskontrolle (S.140 ff.). Hier befasst sich Karl u.a. mit dem Einsatz von Hashwerten als digitaler Fingerabdruck (S. 147) sowie dem Einsatz von Prüfsummen als Vergleichsmechanismus (S. 149). Auch hier schlägt Karl kleinere Anpassungen vor (S. 175).
In ihrer Arbeit befasst sich Karl mit einem weiteren, praxisrelevanten Aspekt, den sie an verschiedenen Stellen und unter verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. So befasst sich Karl mit der Frage, ob das bisherige Verständnis und die daraus resultierende Abgrenzung zwischen der Akte im engeren Sinne, die dem Einsichtsrecht unterliegt, und dem Beweisstück, welches (nur) dem Besichtigungsrecht unterliegt, im Zeitalter der elektronischen Akte aufrechterhalten werden kann (S. 207 ff., S. 433 ff.). Ist es zeitgemäß, dass nur das Beweisstück als Beweismittel dienen kann (vgl. dazu S. 222)? Ist es zeitgemäß, wenn der Verzicht auf die Übernahme einer nicht konvertierbaren Datei (z.B. eines Videos) in das Repräsentat mit der Begründung als unproblematisch erachtet wird, dass es sich insoweit ja um ein Beweisstück handele? Karl sieht es insoweit als kritisch an, dass der Verordnungsgeber an diesem traditionellen Konzept festhält (S. 233). Es bedürfe bei einer derartigen Datei nicht des Integritätsschutzes, so dass eine Beschränkung auf die Besichtigung nicht geboten sei (S. 230 f.). Auch sei – anders als bei der heutigen Papierakte – nicht mehr erforderlich, dass eine Datei auf einem gesonderten Datenträger gespeichert wird. Das Aktenführungsprogramm der Staatsanwaltschaft könne als neue Heimat dienen (S. 231). Praktisch könne man diese Dateien über ein Beweisportal zur Verfügung stellen (S. 272 ff.). Damit wäre auch eine formattreue Bereitstellung möglich (S. 278 f.). Bereits nach geltendem Recht, vgl. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO, könne eine Bereitstellung von Datenkopien erfolgen (S. 288 ff.). Karl plädiert insoweit für eine Anpassung der relevanten Verordnungen (S. 310 ff.).
Daneben wirft Karl noch einen Blick auf revisionsrechtliche Aspekte (S. 472 ff.). Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der zentralen Thesen (S. 479 ff.).
III. Resümee
Die Arbeit von Karl ist einem praktisch bedeutenden, wenn auch etwas sperrigen Thema gewidmet. Umso verdienstvoller ist es, dass Karl proaktiv eine äußerst detaillierte Analyse der gesetzlichen, untergesetzlichen, praktischen und technischen Aspekte vorgenommen und zukünftige Konflikte antizipiert hat. Die Dissertation mag für die anwaltliche Praxis zwar nicht gerade einfach zugänglich sein, da die praxisrelevanten Aspekte mit theoretischen Ausführungen verwoben sind und sich der Beantwortung der aufgeworfenen Forschungsfragen unterordnen müssen. Die in der Arbeit diskutierten Themenstellungen werden jedoch einen bedeutenden Einfluss auf die Praxis der Strafverteidigung haben und sollten daher in der anwaltlichen Praxis unbedingt Gehör finden. Rechtspolitik und Praxis sollten das Projekt „elektronische Akte in Strafsachen“ im Blick behalten und die zukünftige Entwicklung kritisch begleiten.