Raimund Weyand

Wichtige Entscheidungen zum Insolvenzstrafrecht

I. Strafprozessrecht

1. Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen – § 102 StPO

In Fällen, in denen gefertigte Kopien oder eine elektronische Erfassung durch Einscannen im weiteren Verfahren nicht in gleicher Weise zu Beweiszwecken verwendet werden können wie die Originale, sind in Papierform aufgefundene Unterlagen (etwa solche im Sinne der §§ 257 HGB, 140-148 AO) im Original zu beschlagnahmen. Diese Voraussetzungen sind dann gegeben, wenn nur mittels der Gesamtheit der Unterlagen und ihres Zustandes überprüft werden kann, ob eine Befugnis zur Schätzung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO gegeben ist. Dem Betroffenen ist dann die Möglichkeit einzuräumen, Kopien derartiger Unterlagen zu erhalten, wenn er diese für einen von ihm darzulegenden oder sonst allgemein nachvollziehbaren dringenden Zweck benötigt. Er hat nicht das Recht, pauschal die Fertigung und Herausgabe einer Kopie aller sichergestellter Unterlagen zu verlangen.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 1.8.2024 – 18 Qs 14/24, n.v. m. zust. Anm. Hiéramente, jurisPR-StrafR 20/2024, Anm 4. Differenzierend zu der Entscheidung Junkers/Schlüter, jurisPR-Compl 5/2024, Anm. 1.

2. Insolvenzverfahren und strafprozessuale Arrestmaßnahmen – § 111e StPO

Der Insolvenzverwalters kann gegen die auf Grund eines Vermögensarrests gem. § 111e StPO erfolgte Pfändung lediglich einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 111k Abs. 3 StPO stellen. Die Vollstreckungserinnerung gem. § 766 ZPO ist nicht statthaft. § 111i Abs. 1 StPO enthält lediglich einen deklaratorischen Hinweis auf die ohnehin nach der InsO geltende Rechtslage. Sie ändert weder das geltende Recht noch privilegiert sie den Staat. Die Norm löst lediglich das Spannungsverhältnis zwischen dem Insolvenzverfahren und der strafprozessualen Arrestvollziehung zugunsten von Tatgeschädigten auf.

LG Köln, Beschl. v. 2.7.2024 – 118 Qs 12/24, wistra 2024, 436 m. zust. Anm. Niemann.

3. Akteneinsicht an öffentliche Stellen – § 474 StPO

Die auf § 474 Abs. 2 und 3 StPO gestützte Bewilligung der Akteneinsicht in die Ermittlungsakten durch die Staatsanwaltschaft für die Zentralstelle für Sanktionsdurchsetzung stellt einen für den Beschuldigten nach § 23 EGGVG anfechtbaren Justizverwaltungsakt auf dem Gebiet der Strafrechtspflege dar. Eine Verletzung des Beschuldigten in eigenen Rechten ist möglich (§ 24 Abs. 1 EGGVG), wenn die Staatsanwaltschaft einem Dritten Auskünfte aus einem Strafverfahren gewährt. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, der Zentralstelle für Sanktionsdurchsetzung Einsicht in die Ermittlungsakten zu bewilligen, ist an § 7 Abs. 1 Sanktionsdurchsetzungsgesetz i.V.m. § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 StPO zu messen. Die Vorschrift von § 474 Abs. 3 StPO ist nach ihrem Wortlaut auch anwendbar, wenn eine spezielle gesetzliche Vorschrift (hier § 7 Abs. 1 SanktDG) lediglich eine Auskunft bestimmt. Die Entscheidung, ob ausnahmsweise Akteneinsicht statt lediglich Auskunft gewährt wird, steht im pflichtgemäßen Ermessen der ersuchten Stelle. Anerkannter Zweck der Vorschrift des § 474 Abs. 3 StPO ist eine Entlastung der Justiz. Von Auswertungen der Ermittlungserkenntnisse auf eine mögliche Relevanz für die Aufgaben anderer öffentlicher Stellen sollen die Ermittlungsbehörden und die Gerichte freigehalten werden. Der Aspekt, dass die ersuchte Stelle nicht verlässlich zu prüfen vermag, welchen Informationen aus den Ermittlungsakten eine Bedeutung für die von der ersuchenden Behörde zeitnah anzustellenden Ermittlungen zukommen könnte, darf bei der Ermessensentscheidung Berücksichtigung finden.

BayObLG, Beschl. v. 1.7.2024 – 203 VAs 236/24, StraFo 2024, 349. Zust. Schelzke, jurisPR-StrafR 18/2024, Anm. 1.

II. Materielles Strafrecht

1. Insolvenzantragspflicht des faktischen Geschäftsführers – § 15a InsO

Ein er faktische Geschäftsführer bleibt auch nach dem Zeitpunkt der Eintragung eines neuen (Schein‑)Geschäftsführers in das Handelsregister zur Stellung des Insolvenzantrags verpflichtet. Die Antragspflicht kann jedoch erlöschen, etwa durch Abweisung eines Fremdantrags mangels Masse.

BGH, Beschl. v. 8.7.2024 – 1 StR 66/24, ZRI 2024, 939. S. zu der Problematik bereits BGH, Beschl. v. 11.7.2029 – 1 StR 456/18, ZInsO 2019, 2461 m. Anm. Brand, GmbHR 2020, 93; jüngst BGH, Beschl. v. 21.4.2021 – 6 StR 67/21, n.v. Zum Entfallen der Insolvenzantragspflicht s. BGH, Beschl. v. 28.10.2008 – 5 StR 166/08, ZInsO 2008, 1385 m. Anm. Poertzgen, NZI 2009, 127.

2. Schuldnerbegünstigung bei GmbH – § 283d StGB

Ist der Schuldner im Fall des § 283d StGB eine GmbH, kommt es für die Einwilligung (§ 283d Abs. 1 Var. 1 StGB) ins Beiseiteschaffen auf deren Geschäftsführer und nicht auf die Gesellschafter an.

LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 18.10.2024 – 12 NBs 503 Js 2133/21, n.v. Krit hierzu Merschmöller, FD-StrafR 2024, 823637.

III. Zivilrechtliche Entscheidung mit potentieller strafrechtlicher Relevanz

1. Haftung eines ausgeschiedenen Geschäftsführers für Insolvenzverschleppungsschäden – § 823 BGB

Ein aus dem Amt ausgeschiedene Geschäftsführer haftet gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO grundsätzlich auch für Schäden von Neugläubigern, die erst nach seinem Ausscheiden in vertragliche Beziehungen zu der Gesellschaft getreten sind, wenn die durch seine Antragspflichtverletzung geschaffene verschleppungsbedingte Gefahrenlage im Zeitpunkt der Schadensentstehung noch fortbesteht.

BGH, Urt. v. 23.7.2024 – II ZR 206/22, ZIP 2024, 1899. Der Entscheidung zust. Herbert, DB 2024, 2286. Differenzierend Köhler/Ahrend, ZWH 2024, 298

2. Mitwirkungspflichten bei juristischen Personen – §§ 97, 101 InsO

Ist der Schuldner keine natürliche Person, sind die aktuellen Mitglieder des Vertretungsorgans sowie diejenigen Individuen im Insolvenzverfahren zur Mitwirkung und Auskunfterteilung verpflichtet, die nicht früher als zwei Jahre vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus dieser Stellung ausgeschieden sind. Dies gilt auch für faktische Geschäftsführer, soweit diese nach außen aufgetreten sind.

AG Hannover, Beschl. v. 23.5.2024 – 902 IN 491/23, NZI 2024, 777 m. zust. Anm. Fuchs.

3. Umfang der von einem Liquidator abzugebenden Versicherung – § 6 GmbHG

Die vom Liquidator einer GmbH abzugebende Versicherung (§ 67 Abs. 3 S. 1, § 66 Abs. 4, § 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, S. 3, § 8 Abs. 3 S. 1 GmbHG) muss enthalten, dass er auch in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum keinem Berufs- oder Gewebeverbot unterliegt, das dem in § 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 GmbHG genannten Verbot vergleichbar ist.

BGH, Beschl. v. 24.9.2024 – II ZB 15/23, DB 2024, 2684.

4. Pflicht zur Vermögensauskunft durch abberufenen GmbH-Geschäftsführer – § 802c ZPO

Auch ein ehemaliger Geschäftsführer kann weiterhin zur Abgabe der Vermögensauskunft nach § 802c ZPO verpflichtet sein, wenn er nur deshalb abberufen wurde oder seine Stellung niedergelegt hat, um seiner diesbezüglichen Offenbarungspflicht zu entgehen. Davon ist auszugehen, wenn solche Motive offen liegen, oder wegen des zeitlichen Zusammenhangs mit der Erteilung der Vermögensauskunft zu vermuten sind.

LG Neuruppin, Beschl. v. 13.12.2023 – 2 T 58/22, ZInsO 2024, 2164.

IV. Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen mit potentieller strafrechtlicher Relevanz

1. Gewerberechtliche Unzuverlässigkeit – § 35 GewO

Umfassend zu der Problematik Gehm, PStR 2024, 186.

a) Erwerbsobliegenheit und Gewerberecht

Die Voraussetzungen für die Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit sind allein gewerberechtlich zu bewerten. Das Insolvenzrecht verdrängt die Regeln der Gewerbeordnung nicht, sondern steht eigenständig daneben.

VG Berlin, Urt. v. 6.2.2024 – 4 K 541/22, NZI 2024, 473.

Den Schuldner trifft zwar nach § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO eine Erwerbsobliegenheit in der Wohlverhaltensphase. Dies berührt aber nicht das Erfordernis der Zuverlässigkeit zur Ausübung der gewerblichen Tätigkeit. Auch aus § 35 Abs. 2 InsO folgt kein Anspruch auf Wiedergestattung einer gewerblichen Tätigkeit. Diese Norm soll zwar eine selbstständige Tätigkeit des Schuldners ermöglichen. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass generell mithilfe dieses „Umwegs“ über das Insolvenzrecht unzuverlässigen Gewerbetreibenden die Ausübung eines Gewerbes ermöglicht werden soll.

VG Bremen, Beschl. v. 13.9.2018 – 5 K 146/18, NZI 2018, 851.

b) Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt

Auf ein nach Erlass der Gewerbeuntersagung geändertes Zahlungsverhalten kann sich ein überschuldeter Gewerbetreibender nicht berufen, da es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung ankommt.

OVG Bremen, Beschl. v. 11.3.2024 – 1 LA 323/23, ZInsO 2024, 1116.

c) Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit bei nachfolgender Insolvenzeröffnung

Wird das Insolvenzverfahren erst nach Abschluss des Gewerbeuntersagungsverfahrens eröffnet, hat dies keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit einer Gewerbeuntersagung wegen einer auf ungeordnete Vermögensverhältnisse zurückzuführenden Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden. § 12 GewO führt insoweit weder dazu, dass sich der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Gewerbeuntersagung vom Erlass der letzten Behördenentscheidung zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung verschiebt, noch hindert die Vorschrift eine Vollstreckung der Gewerbeuntersagung für die Dauer des Insolvenzverfahrens.

OVG NRW, Beschl. v. 26.2.2024 – 4 B 1054/22, ZInsO 2024, 1179.

2. Akteneinsicht des Insolvenzverwalters in abgeschlossene Steuerverfahren des Schuldners – § 30 AO, §§ 2, 3 InfoZG SchlH

Der Insolvenzbeschlag erstreckt sich auch auf das Recht, die Finanzbehörde von der Wahrung des Steuergeheimnisses (§ 30 AO) zu entbinden. Der Insolvenzverwalter kann folglich anstelle des Insolvenzschuldners der Offenbarung oder Verwertung der dem Steuergeheimnis unterfallenden Daten an Dritte zustimmen. Hieraus resultiert jedoch kein Anspruch gegenüber der Finanzverwaltung auf Einsicht in die Steuerakten. Allein mit einer vorliegenden Zustimmung zur Offenbarung und Verwertung geht keine Auskunftspflicht der Behörde einher.

OVG SchlH, Beschl. v. 14.3.2024 – 6 LA 35/24, ZInsO 2014, 1274. S. bereits BVerwG, Urt. v. 26.4.2018 – 7 C 3.16, DStR 2018, 2441.

3. Wirtschaftlich Berechtigte einer GmbH & Co. KG – § 3 Abs. 2 S. 2 GwG

Nach § 3 Abs. 1 GwG ist wirtschaftlich Berechtigter im Sinne des Geldwäschegesetzes die natürliche Person, in deren Eigentum oder unter deren Kontrolle eine juristische Person, sonstige Gesellschaft oder eine Rechtsgestaltung im Sinne des Abs. 3 letztlich steht (Nr. 1), oder die natürliche Person, auf deren Veranlassung eine Transaktion letztlich durchgeführt oder eine Geschäftsbeziehung letztlich begründet wird (Nr. 2). Eine mittelbare Kontrolle i.S.d. § 3 Abs. 2 S. 2 GwG liegt vor, wenn entsprechende Anteile von einer oder mehreren Vereinigungen nach § 20 Abs. 1 GwG gehalten werden, die von einer natürlichen Person kontrolliert werden.

VG Köln, Urt. v. 29.1.2024, 9 K 6020/21, NZG 2024, 1127. Hierzu Hippeli, jurisPR-HaGesR 5/2024, Anm. 4.

3. Bindungswirkung von Strafurteilen – Art. 20 GG

Dem Gesetzgeber steht es im Rahmen seines normgeberischen Ermessens grundsätzlich frei, verwaltungsrechtliche Folgerungen an rechtskräftige – nicht offensichtlich rechtswidrige – strafgerichtliche Entscheidungen zu knüpfen. Jedoch gebieten die aus Art 20 Abs 3 GG folgende Bindung der Verwaltungsbehörden und -gerichte an „Gesetz und Recht“ und deren aus Art 1 Abs 3 GG folgende Grundrechtsbindung in Sonderfällen offensichtlicher Fehlurteile von der grundsätzlichen Bindung an rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen abzurücken. Dieser Offensichtlichkeitsmaßstab erfordert, dass die Fehlerhaftigkeit ohne nähere Prüfung offen zutage liegt. Die Fehlerhaftigkeit muss gleichsam „sofort ins Auge springen“. Die Annahme eines offensichtlichen Fehlurteils daher im Regelfall ausgeschlossen, wenn deren Darlegung aufwändig ist. Insbesondere ist die strafgerichtliche Verurteilung nicht im Detail nachzuvollziehen; auch eine erneute Beweisaufnahme ist nicht durchzuführen.

VG Stuttgart, Urt. v. 23.1.2024 – 5 K 4730/22, n.v. Zu der Entscheidung s. Rathgeber, FD-StrafR 2024, 816005.

Autorinnen und Autoren

  • Raimund Weyand
    Raimund Weyand war bis zum seinem Eintritt in den Ruhestand am 31.12.2021 stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft Saarbrücken. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Insolvenz-, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht und hat auf diesen Themengebieten bereits zahlreiche Beiträge publiziert. Weyand ist (Mit-)Verfasser mehrerer insolvenz- und wirtschaftsstrafrechtlicher Buchveröffentlichungen, Mitautor des Kommentars von Graf/Jäger/Wittig zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht und gehört seit deren Gründung dem Herausgebergremium der Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht (ZInsO) an.

WiJ

  • Dr. Ulrich Leimenstoll

    Umweltstrafrecht – besondere Herausforderungen für die Verteidigung und strafrechtliche Beratung

    Produkthaftung, Umwelt, Fahrlässigkeit und Zurechnung

  • Dr. Carolin Raspé , Dr. Roland Stein

    Strafrechtliche Risiken bei der Sanktions-Compliance

    Außenwirtschaftsrecht, Kriegswaffenkontrollrecht

  • Ronja Pfefferl , Henrik Halfmann

    Außerstrafrechtliche Folgen von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

    Individual- und Unternehmenssanktionen