Sebastian Wolf

Tagungsbericht: WisteV-wistra-Neujahrstagung 2025

„Wann endet dieses Verfahren?“ - Ursachen und Handhabung von Umfangsverfahren im Wirtschaftsstrafrecht - 17.01-18.01.2025, Frankfurt am Main

I. Einführung

Die 16. WisteV-wistra-Neujahrstagung zu aktuellen wirtschafts- und steuerstrafrechtlichen Fragestellungen hatte sich zum Ziel gesetzt, die Handhabung von Umfangsverfahren im Wirtschaftsstrafrecht zu beleuchten. Rund 200 Teilnehmer kamen am 17. und 18. Januar 2025 in Frankfurt zusammen, um sich über aktuelle Entwicklungen auszutauschen. Die Referenten beleuchteten die verschiedenen Verfahrensstadien aus unterschiedlichen Perspektiven – von der Ermittlungsphase aus Sicht der Staatsanwaltschaft bis zur Prozessführung in der Hauptverhandlung. Dabei lag stets der Schwerpunkt der Vorträge auf der kritischen Frage, inwiefern Umfangsverfahren zum Wohle aller Verfahrensbeteiligten optimiert werden könnten.

RA Dr. Thomas Nuzinger, Mannheim eröffnete die Veranstaltung mit einer kritischen Reflexion über die Definition von Umfangsverfahren. Eine einheitliche Begriffsbestimmung existiere nicht: Gemeinhin würden unter Umfangsverfahren solche Verfahren gefasst, bei denen gem. § 76 III GVG drei Richter und zwei Schöffen an der Entscheidung mitwirken, als auch solche, bei denen der Verteidigung eine Pauschalgebühr nach § 42 RVG zusteht – etwa, weil die regulären Gebühren angesichts des Umfangs oder der Komplexität unangemessen wären. Auch medienwirksame Verfahren, wie z.B. der „Wirecard-Prozess“ oder die „Cum-Ex-Verfahren“, deren Aufarbeitung die Ermittlungsbehörden und Gerichte über Jahre beschäftigt, lassen sich dem Begriff des Umfangsverfahren zuordnen. Lange und komplexe Verfahren seien jedoch kein modernes Phänomen und nicht ausschließlich dem Wirtschaftsstrafrecht zuzuordnen. Thomas Nuzinger erinnerte an das NSU-Verfahren vor dem OLG München, mit über 400 Verhandlungstagen und mehr als 500 Zeugen, sowie an den Frankfurter Ausschwitzprozess, initiiert von Fritz Bauer, der bereits 1963 über 183 Verhandlungstage dauerte und bei dem 319 Zeugen vernommen wurden.[1]

Ob die zunehmende Größe der Gesellschaft und die wirtschaftliche Globalisierung in Zukunft noch größere Herausforderungen für Strafverfolgungsbehörden mit sich bringen, bleibe abzuwarten. Dabei sei nur am Rand auf künstliche Intelligenz verwiesen, die möglicherweise ein ganz neues, eigenes Strafbarkeitsfeld eröffnen könnte.

Im Namen der wistra begrüßte Frau Professorin Schmitt-Leonardy (Bielefeld) die Tagungsteilnehmer. Sie bekräftigte, dass Umfangsverfahren die Justiz seit über 100 Jahren beschäftigen. Die heutige Welt werde allerdings immer komplexer und die streitigen Verfahren würden diesem Trend folgen. Großverfahren hätten inzwischen ein Ausmaß erreicht, bei dem eine weitere Ausdehnung kaum vorstellbar sei. Vor diesem Hintergrund sei es rechtspolitisch geboten, über eine Verbesserungen des bestehenden Systems nachzudenken. Als kontraproduktiv bezeichnete sie den Trend des Gesetzgebers, komplexe Sonder- oder Blankettgesetze zu verabschieden, deren rechtliche Einordnung bereits auf tatbestandlicher Ebene erhebliche Schwierigkeiten bereite. Festzuhalten bleibe, dass eine bessere Verfahrensorganisation, Vorgespräche zwischen allen Beteiligten und effizientere Terminplanungen dem Status quo entgegenwirken könnten. Hinzu komme die absolute Verjährung als „Damoklesschwert“ über jedem Verfahren. Aus rechtsstaatlicher Perspektive stelle sich daher die Frage, ob eine Verlängerung der Verjährungsfrist sinnvoll wäre.

II. Themenblock 1: Das Ermittlungsverfahren in Umfangsverfahren

1. Die verfahrenstechnische Bewältigung von Umfangsverfahren – ausgewählte rechtliche, strategische und praktische Aspekte

Unter Moderation von RA Prof. Dr. Markus Rübenstahl (Frankfurt a. M.) stellte OStA Dr. Nino Goldbeck (Bamberg) im ersten Panel die Organisation umfangreicher Verfahren aus Sicht der Ermittlungsbehörden dar. Das Legalitätsprinzip verlange eine umfassende Aufklärung der materiellen Wahrheit. Gleichzeitig seien die Strafverfolgungsbehörden dem Beschleunigungsgebot und der Notwendigkeit effizienter Verfahren verpflichtet. Eine frühzeitige, gut strukturierte Planung, die immer wieder auf Effizienz hin überprüft werden müsse, sei daher essenziell.

Ein zentraler Aspekt sei die Abwägung, ob Verfahren verbunden oder getrennt werden sollten. Zwar liege es im Interesse der Staatsanwaltschaft, redundante Ermittlungsarbeiten zu vermeiden, jedoch könnten rechtsstaatliche Grundsätze wie die Waffengleichheit und das Recht jedes Beschuldigten auf ein faires Verfahren – Stichwort Informationsparität – eine Trennung von Verfahren rechtfertigen. Diesbezüglich komme der Staatsanwaltschaft eine weite Einschätzungsprärogative zu. Der verantwortliche Staatsanwalt versuche in der konkreten Situation regelmäßig die Vielzahl der Partikularinteressen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Eine besondere Gewichtung komme dabei Haftsachen zu (§ 121 Abs. 1 StPO). Abschließend betonte Goldbeck: Sollte eine sachgerechte Bewertung von Teilermittlungen erst nach vollständiger Aufklärung des Gesamtgeschehens möglich sein, dürfe die Staatsanwaltschaft die abschließende Bewertung nach ständiger Rechtsprechung zurückstellen, bis alle Ermittlungsstränge abgeschlossen seien.

2. Akteneinsicht in Paralellverfahren

Hieran anknüpfend erläuterte Herr RA Christof Püschel, Köln die Akteneinsichtsrechte der Verteidigung bei abgetrennten Verfahren. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren ergebe sich, seinem Plädoyer zufolge, ein Anspruch auf Kenntnisnahme aller ermittelten Informationen – auch außerhalb der Hauptakte. Drei Fallgruppen seien zu unterscheiden:

  • Bei Abtrennung des Verfahrens und gleichzeitiger Fortführung der Ermittlungen im Ursprungsverfahren bestehe ein robuster Anspruch der Verteidigung auf Einsicht in die Akten des parallellaufenden Ursprungsverfahrens.
  • Die Weigerung der Staatsanwaltschaft, Akten des Parallelverfahrens wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks herauszugeben, könnte nach Ansicht von RA Püschel in dem abgetrennten Verfahren zu einem vorübergehenden Verfahrenshindernisführen, das im Einzelfall auch eine Aussetzung der Hauptverhandlung begründen könne.
  • Bei Anklageerhebung in beiden Verfahren vor demselben Gericht bestehe eine Pflicht zur Gewährung der Akteneinsicht, um Waffengleichheit herzustellen.

Die taktisch motivierte Trennung von Verfahren dürfe keinen Einfluss auf das Informationsrecht der Verteidigung haben. Die Durchsetzung dieses Rechts sei eine zentrale Pflicht der Verteidigung.

3. Datenforensik in Umfangsverfahren – Fragen der digitalen Beweissicherung

Im zweiten Panel – moderiert von OStA Dr. Martina Müller-Ehlen (Koblenz) – analysierten RA Dr. Malte Cordes (Dortmund) und Benjamin Löffler (Bad Soden a.T.) die Rolle der Datenforensik in Umfangsverfahren.

RA Dr. Cordes beleuchtete die Herausforderungen der digitalen Beweissicherung gem. § 110 StPO. Insbesondere die massenhafte Sicherstellung elektronischer Datenbestände berge verfassungsrechtliche Risiken, die Verhältnismäßigkeit sei hier besonders kritisch zu prüfen. Als mildere Mittel seien beispielsweise Auskunfts- und Herausgabeverlangen durch die Ermittlungsbehörden zu erwägen. Zudem müssten Ermittler relevante und irrelevante Datenbestände trennen, da jede Sicherstellung einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte des Beschuldigten darstelle. Die pauschale Beschlagnahme des gesamten E-Mail-Bestands eines Unternehmens dürfte deshalb in der Regel gegen das Übermaßverbot verstoßen. Der Ermittlungsbehörde stünden insoweit zahlreiche technische Möglichkeiten zur Verfügung den Ermittlungsumfang auf tatrelevante Beweismittel zu reduzieren.

Auch die Durchsicht der zu beschlagnahmenden Daten stelle ein probates Mittel dafür dar, den Datenumfang insgesamt zu verringern. [2] Große Datenbestände müssten zunächst auf ihre Beweisgeeignetheit überprüft werden. Das bedeute allerdings nicht, dass die zur Durchsicht vorläufig sichergestellten Unterlagen vor einer richterlichen Beschlagnahmeanordnung ausgewertet werden dürfen. Eine Missachtung dieser Pflicht würde einen nicht unerheblichen Verfahrensverstoß darstellen.[3]

Hinsichtlich der Frage, wie lange eine Durchsicht dauern dürfe, lasse sich kein einheitliches Bild zeichnen. Wünschenswert wäre es, dass de lege ferenda der gemäß §110 Abs. 4 i. V. m. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO zuständige Richter eine Höchstdauer für die Durchsicht anordnen könnte oder eine gesetzliche Fristbestimmung in Anlehnung an § 121 Abs. 1 StPO, z. B. von maximal sechs Wochen mit Verlängerungsoption von jeweils vier Wochen unter Darlegung der erschwerenden Umstände mit Prüfung durch eine Beschwerdekammer des LG, vom Gesetzgeber aufgenommen werde.[4]

Einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Anwesenheit bei einer Durchsicht habe das Bundesverfassungsgericht bislang abgelehnt, nachdem ein solches Recht durch das erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 24. 8. 2004 (BGBl I, 2198) ersatzlos gestrichen wurde, vgl. § 110 III a.F..[5] Zwar könne es im Einzelfall zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit geboten sein, den Inhaber des Datenbestandes zur Prüfung der Verfahrenserheblichkeit einzubeziehen,[6] ein pauschaler Teilnahmeanspruch lasse sich daraus allerdings nicht ableiten. Vielmehr müsse die Ermittlungsbehörde im Einzelfall das staatliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung und die Intensität des Datenzugriffs in einen angemessenen Ausgleich bringen.[7] In der Literatur werde deshalb diskutiert, ob mit Blick auf die vorgetragenen Argumente eine planwidrige Regelungslücke bestehe, die eine analoge Anwendung des § 106 Abs. 1 Satz 1 StPO rechtfertigte. Hierfür wird vor allem angeführt, dass die Durchsicht, strukturell betrachtet, Teil der Durchsuchung sei. Zudem bestehe ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei Vernehmungen, §§ 163a Abs. 3 Satz 2, 168c Abs. 1 Satz 1 StPO – „a maiore ad minus“ müsse dies auch für Durchsichten gelten. Letztlich spreche für eine analoge Anwendung des § 106 Abs. 1 Satz 1 StPO, dass die Anwesenheit des Berechtigten bei der Durchsicht eine direkte Kontrolle der Maßnahme ermögliche. So könnte dazu beitragen, dass die Durchsicht verhältnismäßig und im Rahmen des rechtlich Zulässigen durchgeführt werde. Mithin würde ein umfassendes Abwehrrecht gegen den erheblichen staatlichen Eingriff etabliert.[8]

Das Bundesverfassungsgericht setzt den Ermittlungsbehörden erhebliche Schranken für die Durchsicht. Die Einhaltung dieser zu überwachen, ist zentrale Aufgabe der Verteidigung.[9] Aus dem in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verankerten „principle of equality of arms“ lässt sich zudem ein Recht des Beschuldigten auf Beibringung eigener Suchbegriffe ableiten. So kann die Verteidigung gezielt aktiv darauf hinwirken, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände ermittelt, vgl. § 160 Abs. 2 StPO. Mit Blick auf die Zukunft werden KI-Ermittlungshilfen der Ermittlungsbehörden die Verteidigung vor neue Herausforderungen stellen. Der Fokus wird darauf liegen, zu überprüfen, ob KI-Algorithmen fehlerhaft Erkenntnisse aus anderen Verfahren übertragen und so Ergebnisse verfälschen. Hier sieht Dr. Cordes einen akuten Handlungsbedarf des Gesetzgebers, um angesichts bestehender Kontrolldefizite die Teilhaberechts des Betroffenen und seines (anwaltlichen) Vertreters zu gewährleisten.

Gegen die Durchsicht ist der Antrag gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO analog statthaft. Im Übrigen kann auch Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO erhoben werden. Diese Rechtsmittel sind mit Blick auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zunächst auszuschöpfen. Aus schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen kann ein Beweisverwertungsverbot folgen.[10] Irrelevante Unterlagen hat die Ermittlungsbehörde auf Antrag herauszugeben und zu löschen, vgl. § 98 Abs. 2 StPO. Das umfasst Originalasservate und Kopien. Nicht abschließend geklärt ist jedoch, wie mit Erkenntnissen, die auf Grundlage dieser Unterlagen gewonnen wurden, umzugehen ist. Eine überzeugende Ansicht stützt einen Löschungsanspruch auf § 500 Abs. 1 StPO i.V.m. § 75 Abs. 2 BDSG.

4. Big Data – die Auswertung großer Datenmengen

Die von Herrn Dr. Cordes aufgegriffene Frage, ob von Ermittlungsbehörden eingesetzte KI-Systeme fälschlicherweise Erkenntnisse aus anderen Verfahren auf das aktuelle übertragen und so das Ergebnis verfälschen, griff Benjamin Löffler, Bad Soden a.T. auf. Benjamin Löffler ist CTO der Sinabis Analytics GmbH. Sinabis stellt technologische Lösungen zur Verfügung, um große Datenmengen greifbar und durchsuchbar zu machen. Ermittlungsbehörden und Privatpersonen können auf die Dienstleistungen von Sinabis zurückgreifen, um umfangreiche Datenbestände wie Geschäftsverkehr, Chatprotokolle und ähnliche Inhalte strukturiert und schnell auszuwerten.

Benjamin Löffler erläuterte dem juristischen Publikum zunächst, was sich hinter dem Begriff „Big Data“ verbirgt und warum Daten als das „Öl des 21. Jahrhunderts“ gelten. Dabei betonte er vor allem den Vorteil der modernen Technik im Umgang mit großen Datenbeständen. Konkret würden etwa E-Mails von Softwarelösungen in Vektordarstellungen umgewandelt. Dies ermögliche es, durch Algorithmen ähnliche Datenmuster zu identifizieren und inhaltliche Zusammenhänge präzise aufzuzeigen.

Entgegen der von Dr. Cordes thematisierten Bedenken setzt die Sinabis Analytics GmbH für jedes Verfahren eine separat trainierte KI ein, wodurch datensatzübergreifende Verzerrungen ausgeschlossen werden.

An der anschließenden Diskussion hat sich das Publikum rege beteiligt. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob bei großen Datenbeständen die Möglichkeit besteht, nicht verfahrensrelevante Daten aus dem Algorithmus auszusondern und die Suche, auch mit Hilfe seitens der Verteidigung eingebrachten Parametern, zu beschränken.

5. Normative Leitlinien für die Einstellung des Verfahrens

In dem anschließenden Vortrag setzte sich RA Dr. Sebastian Münkel, Mannheim mit der Frage auseinander, ob normative Leitlinien für die §§ 153, 153a, 154 StPO bestehen und ob es gegebenenfalls de lege ferenda solcher bedarf.

Zunächst stellen die §§ 153, 153a, 154 StPO zentrale Instrumente zur Entlastung der Justiz und Verfahrensbeschleunigung dar, indem sie das Legalitätsprinzip durchbrechen und eine einfache Verfahrenserledigung ermöglichen.

Entgegen verbreiteter Vorwürfe zeigt eine statistische Untersuchung jedoch keine Tendenz zur vorschnellen Verfahrenseinstellung – insbesondere im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht.

2023 wurden bundesweit 20 % aller Strafverfahren nach §§ 153, 153a, 154 StPO eingestellt. Im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht zeigt sich eine niedrigere Einstellungsquote von 13%, was auf eine restriktivere Praxis in diesem Teilbereich hindeutet. Vergleichszahlen aus dem Jahr 2014 verdeutlichen einen erheblichen Rückgang der Opportunitätseinstellungen. 2014 wurden noch 36 % der Verfahren nach §§ 153, 153a, 154 StPO eingestellt.

Die gesetzlichen Tatbestände der §§ 153 ff. StPO seien bewusst unbestimmt formuliert, um Flexibilität zu gewährleisten. Konkretisierende Vorgaben finden sich vorrangig in der RiStBV (z.B. Nr. 93 zu Auflagen bei § 153a StPO) und der AStBV für Steuerstrafverfahren mit Kriterien zur „geringen Tatfolge“ (z.B. Schadenshöhe als Orientierungsgröße). Eine bindende Taxierung von Schwellenwerten existiere jedoch nicht, da die Entscheidung stets eine Einzelfallabwägung erfordere.

Das sei aber auch sinnvoll. Die §§ 153, 153a, 154 StPO bilden einen differenzierenden Regelungskanon, der die Rechtsfolge von der Schwere der Schuld und dem öffentlichen Interesse abhängig macht. Damit bietet das Gesetz einen Rahmen für eine gleichmäßige Gesetzesanwendung, die trotzdem dem Einzelfall Rechnung trägt. Einen symbolischen Sicherungsanker bilden dabei stets die Einbindung des Gerichts und das Zustimmungserfordernis des Beschuldigten bei §153a StPO, die willkürliche Ergebnisse verhindern.

Insofern bestehe ein robustes System, dass die Bewältigung von Umfangsverfahren erleichtern kann. Wünschenswert wäre es jedoch, ein Begründungserfordernis für Einstellungen zu etablieren, um dieses Themenfeld dem rechtspolitischen Diskurs weiter zugänglich zu machen.

III. Themenblock 2: Die Hauptverhandlung in Umfangsverfahren

In einem zweiten Themenblock widmeten sich – unter der Moderation von Dr. Alexander Paradissis, Köln – LOStA Professor Dr. Georg-Friedrich Güntge, Schleswig und VRiLG Dr. Michael Nehring, Bonn der Hauptverhandlung in Umfangsverfahren.

1. Sinn und Unsinn des Unmittelbarkeitsprinzips

Zunächst untersuchte LOStA Professor Dr. Güntge kritisch, welchen Erkenntnisgewinn das Unmittelbarkeitsprinzip in Umfangsverfahren verspricht und ob angesichts des Verfahrensumfangs vermehrt Selbstleseverfahren genutzt werden sollten.

Der Grundsatz der Unmittelbarkeit umfasst die formelle Unmittelbarkeit, § 226 StPO, die eine ununterbrochene Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht vorsieht und die materielle Unmittelbarkeit (§ 250 StPO), die das Ersetzen von Zeugenvernehmungen durch Urkunden oder Protokollverlesungen grundsätzlich verbietet. Kritisch diskutiert wurde, ob § 250 StPO auch das Ersetzen durch den Augenscheinsbeweis untersagt, wobei die herrschende Meinung dies nur bei inhaltlicher Aussagensubstitution annimmt.[11] Einige Stimmen in der Literatur vertreten ein umfassenderes „Transferverbot“ für Beweismittel aus dem Ermittlungsverfahren, das jedoch gesetzlich nicht verankert ist.[12]

Tatsächlich wird der Grundsatz durch Ausnahmeregelungen und Rechtsprechung aber regelmäßig durchbrochen: So erlauben §§ 251–254 StPO etwa Protokollverlesungen bei Einverständnis, Erinnerungslücken oder Beweissicherungsbedarf. Der BGH akzeptiert zudem die Verwertung früherer Vernehmungsniederschriften, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung „ausgeschöpft“ wurde.[13]

Bei Umfangsverfahren besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Unmittelbarkeitsgrundsatz und der gebotenen Verfahrenseffizienz. Gerade mit Blick auf Verfahrensinhalte, die bereits schriftlich dargelegt wurden, müsse daher die starre Regelung des § 250 StPO mit Blick auf ihre Sinnhaftigkeit hinterfragt werden. Gleiches gelte für die Befragung von Ermittlungspersonen, die sich in der Regel durch Aktenlektüre auf die Hauptverhandlung vorbereiten.

Vor diesem Hintergrund erscheine eine Abschaffung des § 250 StPO nicht gänzlich abwegig. Mithin könnte § 244 Abs. 2 StPO eine hinreichende Grundlage bieten, um die Erfassung aller relevanten Beweismittel zu gewährleisten.

Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass es unterschiedliche Einschätzungen zur Relevanz von Zeugenaussagen gebe. Entsprechend sinnvoll könne es sein, einer gerichtlichen Entscheidung über die Relevanz einzelner Aussagen und damit verbundener Irrtümer vorzubeugen, indem über § 250 StPO pauschal alle Zeugen gehört werden müssten. Nur so könne auch das Konfrontationsrecht des Beschuldigten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewahrt werden.

Das Selbstleseverfahren in Wirtschaftsstrafsachen stelle eine Herausforderung für den Unmittelbarkeitsgrundsatz dar, der eine öffentliche und mündliche Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht vorsieht. Sowohl das Mündlichkeitsprinzip, als auch die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sind davon betroffen. Obwohl argumentiert wird, dass Selbstlesen die direkteste Form der Beweiserhebung bei Schriftstücken sei, bleibt jedoch kritisch, dass die Kenntniserlangung außerhalb der Hauptverhandlung und ohne Einbindung anderer Verfahrensbeteiligter erfolgt. Der formelle Unmittelbarkeitsgrundsatz soll zudem rechtliches Gehör und Transparenz bezüglich des verwerteten Beweismaterials gewährleisten, was durch das Selbstleseverfahren eingeschränkt werde. Dies beeinträchtige auch die Möglichkeit des Angeklagten, Rückschlüsse auf die Überzeugungsbildung des Gerichts zu ziehen und sein Äußerungsrecht sinnvoll wahrzunehmen. Obwohl das Selbstleseverfahren dem legitimen Zweck diene, umfangreiche Verfahren effizienter zu gestalten, stelle es eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dar und werfe Fragen hinsichtlich der Fairness des Verfahrens auf. Somit stehe es trotz seiner verfahrensökonomischen Vorteile im Konflikt mit wesentlichen Prinzipien des Strafprozessrechts.

2. Zeugen, Sachverständige, Sachverständige Zeugen – eine Einordnung

VRiLG Dr. Michael Nehring, Bonn sprach anschließend über die Abgrenzung zwischen Zeugen, Sachverständigen und sachverständigen Zeugen aus richterlicher Perspektive.

Zeugen schildern selbst wahrgenommene Tatsachen aus ihrer Erinnerung und sind nicht ersetzbar, während Sachverständige als austauschbare Gehilfen des Gerichts Fachwissen vermitteln oder Schlussfolgerungen aus dem Sachverhalt ziehen. Sachverständige Zeugen kombinieren beide Rollen: Sie sind in erster Linie Zeugen. Sie berichten aber über spezifische, fachkundig wahrgenommene Tatsachen, sind aber ebenfalls nicht austauschbar. Rechtsfragen dürfen grundsätzlich nicht durch Sachverständige geklärt werden – diese obliegen ausschließlich dem Gericht.[14] Eine Ausnahme bildet ausländisches Recht, bei dessen Anwendung Sachverständige hinzugezogen werden können.

Im Kontext von Wirtschaftsstrafverfahren spielen Wirtschaftsreferenten eine zentrale Rolle. Als interne Experten der Staatsanwaltschaft unterstützen sie bei der Sichtung von Geschäftsunterlagen, berechnen Schadenssummen (z.B. Steuermehrbelastungen), prüfen Bilanzierungsfehler oder Insolvenzindikatoren. Ihre forensische Erfahrung und Vorarbeit im Ermittlungsverfahren macht sie zu effizienten Beweismitteln.

Problematisch ist ihre potenzielle Befangenheit durch die organisatorische Einbindung in Ermittlungsbehörden. Während die bloße Zugehörigkeit zur Behörde keine Befangenheit begründet,[15] gelte dies nicht, wenn sie eigenständig Ermittlungsentscheidungen treffen (vgl. § 22 Nr. 4 i.V.m. § 74 Abs. 1 S. 1StPO). Denn aktive Ermittler wie Staatsanwälte oder Polizeibeamte sind grundsätzlich von der Sachverständigentätigkeit ausgeschlossen. Entscheidendes Abgrenzungskriterium dürfte mithin sein, ob der Wirtschaftsreferent unabhängig über die Vornahme, den Inhalt und den Umfang einer Ermittlungshandlung „wie ein Staatsanwalt oder Polizeibeamter“ entscheidet bzw. in der Vergangenheit entschieden hat.

Vor diesem Hintergrund ist eine klare funktionale Abgrenzung zwischen den verschiedenen Auskunftspersonen essenziell, um Verfahrensgerechtigkeit und Beweistauglichkeit zu gewährleisten.

3. Podiumsdiskussion

Den ersten Abend beendete ein von RAin Dr. Ricarda Schelzke, Frankfurt a.M. geleitetes Streitgespräch. Die Diskussion zwischen OStA Uwe Mühlhoff, RA Nico Werning und WirtschaftsWoche-Redakteur Lukas Zdrzalek kreiste um die Frage, ob und wie Strafverfahren trotz wachsender Komplexität – insbesondere bei Wirtschaftsdelikten – Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und einen gerechten Schuldausgleich gewährleisten können. Einigkeit bestand darin, dass das Verfahren den Beschuldigten nicht zum Objekt degradieren darf, doch bereits hier zeigten sich Spannungen: Mühlhoff kritisierte, dass wirtschaftlich schwächere Beschuldigte oft härter verfolgt würden, während sich Unternehmen durch Ressourcenüberlegenheit und strategische Prozessführung der Strafverfolgung entzögen.

Allerdings werfen umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren aus seiner Sicht auch praktische Probleme auf. So könne die persönliche Anwesenheitspflicht von Unternehmensverantwortlichen in langwierigen Verfahren die Lenkung eines Unternehmens erheblich beeinträchtigen. Aber auch die Beteiligung von Laienrichtern ohne Aktenkenntnis in komplexen Fällen stelle die Praxis regelmäßig vor besondere Herausforderungen. Gleichzeitig würden Verjährungsfristen eine sorgfältige Beweisaufnahme erschweren.

Werning betonte, dass das Beschleunigungsgebot oft gegen Beschuldigte instrumentalisiert werde – etwa durch Drohungen einen Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn die Terminabstimmung nicht der Vorstellung des Gerichts entspräche.

Zdrzalek verwies auf strukturelle Defizite: Die mangelnde Spezialisierung von Staatsanwaltschaften, das Örtlichkeitsprinzip und eine fehlende Koordination zwischen Behörden begünstigten ineffiziente Verfahren.

Mühlhoff nannte das Legalitätsprinzip als Ursache für „Dauerverfahren“, da jede Anzeige verfolgt werden müsse, ungeachtet knapper Ressourcen. Komplexe Strukturen auszuermitteln koste Zeit.

Dem entgegnete Werning, dass die StPO hinreichend Möglichkeiten biete, ein Verfahren effizient zu führen, wie zum Beispiel das Selbstleseverfahren. Gleichviel wäre es angezeigt, dass Staatsanwälte sich auf zentrale Anklagepunkte in Umfangsverfahren konzentrierten und von ihrem Recht, nach § 154 StPO einzustellen, Gebrauch machen.

Einigkeit bestand darüber, dass komplexe Blankett-Tatbestände den Verfahrensgang weiter komplizieren.

Als Lösungsansätze diskutierten die Teilnehmer prozessuale Vereinfachungen wie die Ausweitung des Kreises verlesbarer Beweismittel (§ 249 II StPO) und eine bessere Richterausbildung für ein stringenteres Verhandlungsmanagement. Strukturell forderten sie spezialisierte Wirtschaftsstaatsanwaltschaften mit überregionaler Zuständigkeit, eine Wirtschafts- und Finanzpolizei sowie regelmäßige „Wasserstandsberichte“ des Gerichts zur Transparenz im Verfahrensfortschritt.

Festgehalten wurde jedoch, dass es ein zentrales Recht des Beschuldigten sei, auf einen Freispruch zu plädieren und die dafür erforderlichen Beweise zu erbringen. Der Staat müsse die hierfür erforderlichen Ressourcen bereitstellen.

IV. Themenblock 3: Materiell-rechtliche Bewältigungsstrategien für Umfangsverfahren

1. Ausdehnung des Bereichs strafbaren Verhaltens durch Pönalisierung leichter nachweisbarer Taten

Der zweite Tag der Tagung widmete sich der Frage, welche materiell-rechtlichen Bewältigungsstrategien für Umfangsverfahren in Frage kommen. Unter Moderation von RAin Dr. Laura Borgel, Frankfurt erörterte OStA Kai Sackreuther, Mannheim, ob der Bereich des Strafbaren durch die Pönalisierung (vermeintlich) leichter zu ermittelnden Verhaltens ausgedehnt wird. Als Praxisbeispiel nannte OStA Sackreuther, § 129 StGB.

Die 2017 reformierte Fassung des § 129 StGB hat den Anwendungsbereich für kriminelle Vereinigungen im Wirtschaftsstrafrecht erweitert, indem sie frühere Hürden wie das Erfordernis der „Unterordnung des Einzelwillens unter den Gruppenwillen“ abschaffte. Stattdessen definiert die aktuelle Legaldefinition eine kriminelle Vereinigung als längerfristigen organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses, wobei auf feste Rollen oder ausgeprägte Strukturen verzichtet wird. Diese Änderung diente der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses 2008/841/JI zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, hebt sich aber durch das zusätzliche Merkmal des „übergeordneten Interesses“ von der europäischen Vorgabe ab, die rein finanziell motivierte Zusammenschlüsse erfasst.

Prozessual ermöglichte bereits die 2008 erfolgte Erweiterung des § 100a StPO die frühzeitigere Anwendung verdeckter Ermittlungsmethoden bei Wirtschaftsdelikten wie Bandenbetrug oder Steuerhinterziehung, wodurch die frühere Notwendigkeit entfiel, § 129 StGB als „Umweg“ für die Anordnung von Telefonüberwachungen zu nutzen.[16] Die Rechtsprechung des BGH konkretisierte die Anwendung des § 129 StGB im Wirtschaftsstrafrecht in zwei Leitentscheidungen: Im „Polizistentrick“-Fall[17] betonte der BGH, dass auch Wirtschaftskriminalität unter die Norm fällt, sofern ein übergeordnetes Gruppeninteresse – etwa über rein individuellen Profit hinaus – vorliegt. Kriterien hierfür sollen u.a. organisatorische Strukturen, grenzüberschreitende Aktivitäten oder interne Sanktionsmechanismen sein. Die „Cyberbunker“-Entscheidung[18] erweiterte dies auf Beihilfestrukturen, die gezielt Straftaten Dritter unterstützen, sofern die Mitglieder konkrete Kenntnis der Haupttaten haben.

Praktisch bleibe die Relevanz von § 129 StGB jedoch begrenzt: Zwar entfällt hier die Notwendigkeit eines Nachweises individueller Tatbeteiligungen, doch seien Ermittlungen zum „übergeordneten Interesse“ und zur Organisationsstruktur ähnlichen aufwändig wie klassische Bandenermittlungen. Ein mögliches Anwendungsfeld seien „Serviceunternehmen“, die Scheinrechnungen für Steuerhinterziehung- oder Betrugsdelikte erstellen. Hier scheine es gut vertretbar angesichts des Gewinnstrebens der einzelnen Täter ein kollektives übergeordnetes Ziel anzuerkennen. Der individuelle Profit des Mitgliedes korreliere stets mit dem Erfolg der Gesamtorganisation, weshalb die einzelnen Täter stets auch ein gemeinsames Interesse am „Gesamtkonstrukt“ verfolgen würden.[19]

Letztlich bleibe § 129 StGB somit ein ergänzendes Instrument mit Nischenbedeutung, das vor allem in komplexen Fällen mit grenzüberschreitenden oder arbeitsteiligen Strukturen zum Tragen kommt.

2. Das uneigentliche Organisationsdelikt als materiellrechtliche Bewältigungsstrategie?

Anschließend beleuchtete RiBGH i.R. Professor Christoph Krehl das uneigentliche Organisationsdelikt.

Erstmals 2004 vom BGH verwendet,[20] dient das uneigentliche Organisationsdelikt dazu, Einzeltaten zu einer „Tat“ im Sinne des § 52 StGB zusammenzufassen, wenn organisatorische, auch vorgelagerte, Beiträge wie der Aufbau eines Vertriebssystems mehrere Delikte gleichzeitig fördern. Dennoch bleibt der Nachweis der Einzeltaten und deren Bezug zum Hintermann erforderlich. Voraussetzung ist ein übergeordneter Tatbeitrag, der mehrere Einzeldelikte gleichzeitig fördert (z. B. durch Leitungsmacht oder die Aufrechterhaltung eines betrügerischen Geschäftsbetriebs). Die Rechtsprechung verzichtet allerdings bewusst auf eine detaillierte konkurrenzrechtliche Aufklärung jeder Einzeltat, da dies oft unverhältnismäßig aufwendig wäre.

Die Organisationsherrschaft hingegen begründet mittelbare Täterschaft, § 25 Abs. 1 StGB, in hierarchischen Strukturen, selbst wenn der unmittelbar handelnde Vordermann vorsätzlich und verantwortlich agiert. Ursprünglich für staatliche Unrechtsregime entwickelt, Stichwort „Mauerschützen“-Entscheidung, wurde das Konzept auf wirtschaftliche Unternehmen übertragen. Der BGH stützt sich hier auf eine normative Gesamtbetrachtungen, bei der die Tatbeiträge des Hintermanns nahezu automatisch zur Tatbestandsverwirklichung führen. Kritiker lehnen diese Ausweitung ab, da die unpräzisen Kriterien wie „Leitungsmacht“ oder „institutionalisierte Abläufe“ das Verantwortungsprinzip untergraben und eine Ausdehnung strafbarer Handlungen ermöglichen. Die Kritik zielt dabei auf die normative Unschärfe der Organisationsherrschaft, die durch die fehlende dogmatische Konturierung eine willkürliche Zurechnung von Täterschaft in Unternehmensstrukturen begünstigt. Insbesondere wird bemängelt, dass die Rechtsprechung keine klaren Maßstäbe für die erforderliche Einflussnahme innerhalb von Hierarchien liefert, wodurch die Strafbarkeit letztlich auf einer offenen Gesamtbetrachtung des Geschehens statt auf einem konkretem Tatbeitrag beruhe.[21]

Prozessual bleibt es notwendig, konkrete Tatbeiträge nachzuweisen und den Zusammenhang zwischen den Handlungen der Tatmittler und dem Hintermann herzustellen. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet Richter dazu, direkte Beteiligungen an Einzeltaten zu prüfen. Nur bei unklarer individueller Förderung kommt der Zweifelssatz („in dubio pro reo“) zugunsten der jeweiligen Einzeltat zur Anwendung.

Abschließend betont Professor Krehl, dass das uneigentliche Organisationsdelikt keine materiellen Strafbarkeitsvoraussetzungen erweitere, sondern lediglich eine Regel zur Bewertung konkurrierender Taten darstelle. Problematisch bleibe jedoch die parallele Rechtsprechung zur Organisationsherrschaft, deren unklare Konturen eine potenziell unzulässige Ausdehnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit begünstigen können. Er fordert, die Rechtsprechung müsse die Figur stärker konturieren und klare Maßstäbe für ihre Anwendung entwickeln.

3. Restriktive Auslegung als Bewältigungsstrategie?

Ob und wie sich der Bereich strafbaren Verhaltens durch eine restriktive Auslegung geltenden Rechts einschränken lässt, stand im Mittelpunkt des Vortrags von Professor Dr. Hans Kudlich, Erlangen. Unter Moderation von RA Christoph Tute, Frankfurt, arbeitete Professor Dr. Kudlich zunächst die Grenzen dieser Strategie heraus. Auf der einen Seite steht das Legalitätsprinzip, dass die Ermittlungsbehörden zur umfassenden Strafverfolgung verpflichtet. Hinzu kommt eine faktische Bindung innerhalb der Rechtsprechung, die sich durch wiederholte Gesetzesauslegung über den Instanzenzug manifestiert.

Allerdings könnte eine restriktive Auslegung von Gesetzen auch als Chance begriffen werden, um Umfangsverfahren handhabbar zu machen. Dieses Vorgehen biete den Vorteil, dass Einschränkungen klar und transparent kommuniziert würden. Dies stehe in klarem Kontrast zu der aktuellen Einstellungspraxis nach §§ 153 ff. StGB.

Einen möglichen Ansatzpunkt für eine restriktive Auslegung biete die neutrale Beihilfe. Die Rechtsprechung differenziert hier zwischen bewusster Förderung strafbaren Verhaltens (§ 27 StGB) und bloß zufälliger Mitwirkung.

Eine strafbare Beihilfehandlung ist nach der Rechtsprechung anzunehmen, wenn der Hilfeleistende weiß, dass der Haupttäter ausschließlich darauf abzielt eine strafbare Handlung zu begehen.[22] In diesem Fall verliert das Handeln des Teilnehmers den Alltagcharakter – die Solidarisierung mit dem Täter ist nicht mehr als sozialadäquat anzusehen.

Hält der Hilfeleistende es dagegen nur für möglich, dass sein Tun für die Begehung einer Straftat genutzt wird, handelt es sich regelmäßig noch nicht um eine strafbare Beihilfehandlung, „es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ.“[23]

Die Rechtsprechung macht die Strafbarkeit mithin abhängig vom Grad des Vorsatzes, wobei für den Fall des bedingten Vorsatzes eine Einschränkung vorgesehen wird. Insgesamt schafft die Rechtsprechung so ein vages Gefüge, dass kaum eindeutige Zuordnungen zulässt. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass auch weit vorgelagertes berufsneutrales Verhalten bereits als Beihilfe gewertet werden kann, wie der Fall eines Händlers von Maschinen zur Zigarettenherstellung zeigt.[24]

Ein weiterer möglicher Ansatzpunkt für eine restriktive Gesetzesauslegung wäre, den von der Praxis definierten Bandenbegriff kritisch zu hinterfragen. Man könne hier sehr viel strenger zwischen Bandenmitgliedschaft und bandenmäßiger Tatbegehung trennen.

Auch mit Blick auf das Vorsatzerfordernis bestehe Raum für eine mögliche restriktive Auslegung. Wirtschaftsstraftaten seien typischerweise Vorsatzdelikte. Allerdings bestehe das Risiko bei einer ex ante Betrachtung der Entscheidungssituation des Beschuldigten nicht hinreichend Rechnung zu tragen. Insofern sei es zentral, vorsatzkritische Elemente in die Abwägung miteinzubeziehen. Fehle beispielsweise ein eigener Vorteil oder habe sich der Handelnde sich in einer Dilemmasituation befunden, müsse die Hypothese eines bedingten Vorsatzes zumindest kritisch hinterfragt werden. Gerade die Vermögensbetreuungspflicht eines Unternehmensfunktionärs könne eine Handlungspflicht auslösen, gleichviel aber auch die Unterlassung von schädigenden Verhalten bedingen. Es sei eine Frage des Einzelfalls und mithin danach, wie ein Verständiger Unternehmer in der Situation gehandelt hätte, Stichwort business judgement rule.

Selbst wenn sich mithin verschiedene Ansatzpunkte ergeben Verfahren im materiellen Recht zu verschlanken, fehlten prozessuale Mechanismen zur Durchsetzung restriktiver Auslegungen. Die Verteidigung habe kaum eine Möglichkeit eine restriktivere Auslegung zu erzwingen.

4. Alternative Strategien zur Bewältigung von Umfangsverfahren

Das letzte Themenfeld der diesjährigen Neujahrestagung beschäftigte sich mit der Frage, ob neben dem Strafverfahren alternative Wege existieren, um Umfangverfahren in einem rechtsstaatlichen Prozess abzuwickeln. Moderiert von RA Dr. Thomas Nuzinger, Mannheim diskutierte RiBGH Alexander Meyberg, Karlsruhe die Vorzüge von §§ 30, 130 OWiG gegenüber Individualstrafen.

Grundsätzlich ermöglichen §§ 30, 130 OWiG bereits in einem frühen Ermittlungsstadium – wenn absehbar ist, dass die Ermittlungen ausufern könnten – eine Verfahrenseinstellung gegen Geldbuße. Dies würde eine aufwändige Aufklärung individueller Vorwerfbarkeiten erübrigen.

30 OWiG stellt zwar eine bußgeldrechtliche Sanktion eigener Art – und eben keine Kriminalstrafe – dar, gilt allerdings als Ausgangspunkt von Überlegungen, Kriminalstrafen gegen Unternehmen in Deutschland einzuführen. Anknüpfungspunkt von § 30 OWiG stellt das vorwerfbare Verhalten einer Person in Leitungsfunktion dar. Damit verfolgt § 30 OWiG in erster Linie einen präventiven Ansatz und will Unternehmen zu Compliance anhalten.

Das Verfahren bringt jedoch auch erhebliche rechtsstaatliche Defizite mit sich, die in die Abwägung mit einfließen müssen. Zum einen würden Deals, gerade in sogenannten „Landmark Cases“, zu einer gestörten Rechtsentwicklung führen. Verfahren, die der Judikatur entzogen werden, würden auch dem rechtspolitischen Diskurs entzogen und bleiben fortan bei der Rechtsfortbildung unberücksichtigt.

Hinzu kommte ein Wahrheitsdefizit. Durch die Verhängung einer Geldbuße werde das Gericht von seiner Pflicht zur Erforschung des wahren Sachverhalts entbunden. Das begünstige eine Verantwortungsverlagerung auf den Nichttäter. Wenn der Verband anstelle des eigentlich Handelnden die Geldbuße akzeptiere, könnte man argumentieren, dass es den Falschen treffe. Dem lasse sich entgegen, dass in der Regel gerade der Verband von den Tatvorteilen profitiere.

Allerdings ergeben sich aus einer verhängten Geldbuße auch Folgefragen, die für ein Unternehmen nicht unerhebliche Konsequenzen haben können, wie z.B. die Frage nach etwaigen Regressansprüchen.

Letztlich müsse der Rechtsstaat befürchten, dass die Präventionswirkung von Strafe verloren gehe, wenn die eigentlich Verantwortlichen nicht mehr zur Verantwortung gezogen würden.

Abschließend betonte RiBGH Meyberg die systemrelevante Rolle einer unabhängigen Justiz angesichts erstarkender autokratischer Tendenzen. Sein Appell an die Zuhörerschaft: „Es gilt, die Stärkung der Justiz aktiv zu unterstützen, damit das Recht weiterhin die Praxis bestimmt – nicht umgekehrt die Praxis das Recht.“

5. Muss es immer das Wirtschaftsstrafrecht sein – ein kritischer Blick

Professor Dr. Wolfgang Spoerr, Berlin analysierte das Zusammenspiel von Zivilrecht, Strafrecht und öffentlichem Recht in der Konfliktbewältigung. Er konstatierte eine zunehmende Verschränkung der Rechtsgebiete und stellte die grundlegende Frage: Ist es sinnvoll, parallel zu einem Haftungsprozess zusätzlich ein Strafverfahren zu führen?

Der aktuelle Status quo zeige einen Wettbewerb der Teilrechtsgebiete um Durchsetzungsmacht bei gleichzeitiger Verschärfung der Sanktionsmechanismen. Bußgeldtatbestände würden massiv erhöht; Blankettnormen stellten Rechtsanwender vor wachsende Interpretationsherausforderungen. Im Zivilrecht zeichne sich ein Trend ab, sämtliche Schadensfolgen durch Kompensationsklagen geltend zu machen – flankiert durch die Zunahme von Verbandsklagen und einem rigideren europarechtlichen Haftungsregime.

Diese Entwicklung führe zu hochkomplexen Parallelverfahren in unterschiedlichen Rechtsbereichen, die die Bürger systematisch überfordern.

Zudem lasse sich beobachten, dass unterschiedliche Teilrechtsordnungen auch unterschiedlich gut geeignet seien, um Verfahren aufzuklären. So habe sich das Strafrecht etwa als sehr effektiv bei der Aufarbeitung der „Diesel-Fälle“ erwiesen, bis es an die Anklage der Individualbeschuldigten gegangen sei. Zivilrechtliche Haftungsprozesse in der gleichen Sache seien weniger wirkungsvoll gewesen.

Aus dieser Erkenntnis heraus formulierte Professor Dr. Wolfgang Spoerr fünf Thesen.

  1. Strafverfolgungsbehörden benötigen keine zivilrechtliche Unterstützung, da sie eigenständig leistungsfähig ermitteln können.
  2. Parallele Verfahrensarten beschneiden Verteidigungsrechte und führen zu Doppelbelastungen.
  3. Die Sanktionshäufung durch unterschiedliche Teilrechtsordnung spiegelt übermäßige Staatsregulierung wider. Ein Problem für Gesellschaft Demokratie und Rechtsstaat.
  4. Das Zivilrecht übertrifft das Strafrecht bei der Verfolgung diffuser Schäden, bei denen sich individuelle Beteiligte nicht identifizieren lassen.
  5. Strafrechtliche Effektivität setzt kollektive Verantwortungszuschreibung voraus, nicht nur Individualschuld.

V. Zusammenfassung

Abschließend fasste RA Dr. Thomas Nuzinger, Mannheim, die Ergebnisse der Tagung zusammen und dankte für den intensiven kollegialen Austausch. Er verblieb mit einem Hinweis auf eine von WisteV durchgeführte Studie hinsichtlich der Verfahrensdauer von Wirtschaftsstrafverfahren und sprach eine herzliche Einladung für die nächstjährige Neujahrestagung aus.

[1]https://www.unesco.org/en/memory-world/frankfurt-auschwitz-trial (zuletzt besucht am 18.01.2025).

[2] Vgl. hierzu BVerfG, NJW 2009, 2431, 2436 Rn. 88.

[3] BVerfG, BeckRS 2022, 34717 Rn. 6.

[4]Park, in: FS Ignor, S. 757, 768 ff.

[5] BVerfG, NJW 2009, 2431, 2437; BVerfG, NJW 2009, 2431, 2437 Rn. 96.

[6] BVerfG, NJW 2005, 1917, 1922; BVerfG, NJW 2009, 2431, 2437 Rn. 96.

[7] BVerfG, NJW 2009, 2431, 2437; BVerfG, NJW 2009, 2431, 2437 Rn. 96.

[8] Vgl. hierzu Dierlamm, in FS Ignor, S. 923, 930 f.

[9] BVerfG, NJW 2009, 2431, 2436 Rn. 84 ff.

[10] Vgl. BVerfG, NJW 2005, 1917, 1923; LG Stralsund, StV-Spezial 2023, 150, 152.

[11] Schmitt, in Meyer-Goßner, StPO, 67. Auflage, § 250 Rn. 2; Güntge, in: Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozess, 8. Auflage, Kapitel 5 Rn. 47.

[12] Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 250 ff. Rn. 15 ff.

[13] BGH, Beschluss vom 8.2.2018 – 3 StR 400/17.

[14] Vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. vom 08.03.2021 – L 7 KO 7/18.

[15] BGHSt 28, 381 ff.; BGH wistra 2000, 307 ff., Rn. 3; BGH wistra 1984, 62 f.

[16] Vgl. Niemann, wistra 2021, 425 m.w.N.

[17] BGH, Urteil vom 02.06.2021 – 3 StR 21/21.

[18] BGH, Urteil vom 12.09.2023 – 3 StR 306/22.

[19]Niemann, wistra 2021, 425, 426.

[20] BGHSt 49, 177.

[21]Joecks/Scheinfeld, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl., § 25, Rn. 164.

[22] Vgl. BGH 1 StR 636/16.

[23] Ebenda.

[24] BGH 1 StR 56/17.

Autorinnen und Autoren

  • Sebastian Wolf
    Sebastian Wolf hat nach Stationen in Freiburg und Lausanne sein Staatsexamen an der Universität Münster abgelegt. Er war mit Mitgründer des Legal-Tech Startups "Read Your Rights". Derzeit promoviert er bei Professor Dr. Hans Kudlich zu einem Thema, welches sich an der Schnittstelle zwischen Compliance und anwaltlichen Berufsrecht bewegt.

WiJ

  • Dr. Kathrin Klose

    Die Reichweite des ne bis in idem-Grundsatzes im Unionsrecht

    Internationales Strafrecht, EU, Rechtshilfe, Auslandsbezüge

  • Raimund Weyand

    Wichtige Entscheidungen zum Insolvenzstrafrecht

    Insolvenz, Bankrott, Bilanz

  • Dr. Simon Pschorr

    Notare sind vor „Jones Day“-Durchsuchungen sicher

    Straf- und Bußgeldverfahren (inklusive OWi-Verfahren)