„Behörden zwischen Verwaltungs- und Verfolgungstätigkeit: Der Rollentausch als besondere Herausforderung für die Verteidigung“
WisteV-Veranstaltungsbericht
Zu dem Thema „Behörden zwischen Verwaltungs- und Verfolgungstätigkeit: Der Rollentausch als besondere Herausforderung für die Verteidigung“ fand am 24. Mai 2024 eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung in der Humboldt- Universität zu Berlin statt. Diese wurde von der WisteV Regionalgruppe Ost in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Martin Heger fast auf den Tag genau 15 Jahre nach Gründung der WisteV durchgeführt. Das besondere Thema und die interessanten Referenten zogen selbst an einem warmen Freitagabend viele Teilnehmer*innen in die Räumlichkeiten der Humboldt- Universität.
RA Alexander Sättele führte in die Veranstaltung ein und hob hervor, dass Parallelverfahrenskonstellationen nicht nur im Rahmen präventiven und repressiven Tätigwerdens der Polizei- und Ordnungsbehörden bestehen. Vielmehr gebe es eine Vielzahl an (Rechts-) Bereichen wie das Umweltstrafrecht, das Kapitalmarktstrafrecht und das Steuerstrafrecht, in denen das Thema die Verteidigung vor Herausforderungen stelle. In den folgenden zwei Stunden sollten die knapp 50 Teilnehmer*innen einen Einblick in typische Praxisfälle und strategische Verteidigungserwägungen erhalten.
Bevor die Vorträge begannen, nutzten RA Dr. Mathias Priewer und RAin Dr. Viktoria Schrader die Gelegenheit, ihren Mitorganisator Alexander Sättele gebührend zu verabschieden. Für ihn war diese Veranstaltung die letzte in seiner Funktion als Koordinator der WisteV Regionalgruppe Ost. Er gibt den Staffelstab an Dr. Viktoria Schrader weiter und erhielt als persönliches Abschiedsgeschenk ganz folgerichtig sächsischen Wein.
Im ersten Vortrag führte der „Hausherr“ Prof. Dr. Martin Heger weiter in das Thema ein. Dabei konzentrierte er sich auf das Wechselspiel von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Strafverfolgung könne parallel zur Gefahrenabwehr stattfinden, sodass ein Verhalten nicht nur strafrechtliche, sondern auch verwaltungsrechtliche Konsequenzen begründen könne. Dabei befasste er sich unter anderem mit dem Umweltstrafrecht. Prof. Dr. Martin Heger erarbeitete die Thematik auch anhand der Tatbestandsfunktion für gewerberechtliche Maßnahmen. Zur Veranschaulichung diskutierte er das sog. Gefahrguttransport-Urteil des BVerfG (2 BvR 2462/ 18). In diesem Fall wollte die Polizei nicht primär gefahrendabwehrend handeln, versuchte indes, das Schweigerecht des Betroffenen durch die Auskunftspflicht nach § 9 GGBefG zu umgehen. Prof. Dr. Martin Heger betonte, dass die Selbstbelastungsfreiheit auch dann Anwendung finden muss, wenn ein Auskunftsersuchen zwar gefahrenabwehrrechtlich begründet wird, aber nicht allein präventiv ausgerichtet ist, oder die Gefahr der Verfolgung wegen eines vorangegangen Rechtsverstoßes birgt.
RA Dr. Sebastian Wagner referierte sodann mit Blick auf das Kapitalmarktstrafrecht. Für die BaFin, die in kapitalmarktrechtlichen Angelegenheiten sowohl für Aufsichts- als auch für Sanktionsverfahren zuständig ist, wählte er einen treffenden Vergleich mit dem römischen Gott Janus, der sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft überschaut. Er erläuterte, dass Aufsichts- und Sanktionsverfahren grundsätzlich parallel geführt werden dürfen. Konflikte entstünden jedoch, wenn strafprozessuale und ordnungswidrigkeitenrechtliche Schutzrechte des Betroffenen durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen ausgehebelt werden können. Daher verlange das Verbot der Rollenvertauschung eine organisatorische und zeitliche Trennung der Verfahren. Er wies weiter darauf hin, dass es insbesondere bei Vorlageverlangen gem. § 6 Abs. 3 S. 1 WpHG zur Kollision mit dem nemo- tenetur- Grundsatz kommen kann. Daran anknüpfend ging er Fragen zur Anwendbarkeit und Reichweite dieses Grundsatzes nach. Die dem Verteidiger wohlbekannte Frage nach der Anwendbarkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes auf juristische Personen war ein weiterer Schwerpunkt seines Vortrags.
Im dritten und letzten Vortrag der Veranstaltung erörterte Prof. Dr. Tilman Reichling das Spannungsfeld zwischen Selbstbelastungsfreiheit und steuerlichen Mitwirkungspflichten. Er erläuterte, dass die Doppelfunktion der Finanzbehörde zu Konflikten in Bezug auf die Rechte und Pflichten der Beteiligten im Steuerstraf- und Besteuerungsverfahren führen können. Der Vortrag konzentrierte sich dann auf den gesetzlichen Lösungsansatz in § 393 AO, wie dieser im Verhältnis zu dem Grundsatz der Gleichrangigkeit der Verfahren steht und welche Folgen sich ergeben. Auch hier spielte die Selbstbelastungsfreiheit und ihre Gefährdung in typischen Praxiskonstellationen eine wesentliche Rolle. Zudem behandelte Prof. Dr. Tilman Reichling die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des steuerlichen Zwangsmittelverbots, wobei die sog. „Strafschätzung“ einen Schwerpunkt bildete.
Die anschließende, von Dr. Mathias Priewer geleitete Diskussionsrunde begann mit der Erarbeitung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Parallelverfahrenskonstellationen im Umweltstrafrecht, Kapitalmarktstrafrecht und Steuerstrafrecht. Der Moderator ließ seine These diskutieren, dass die Verfahrensarchitektur bei Parallelverfahrenskonstellationen strukturell darauf angelegt sei, Individualschutzrechte nicht wie gehabt zur Geltung kommen zu lassen, wodurch rechtsstaatliche Garantien typischerweise unterlaufen werden können. Er schlug daher eine Auflösung über das Recht auf ein faires Verfahren bzw. den Grundsatz der Waffengleichheit vor, womit auch Unternehmen effektiv vor den mit einem Rollentausch einhergehenden Risiken geschützt werden könnten. Des Weiteren wurde diskutiert, welche Ansätze praktisch verfolgt werden können, um die Selbstbelastungsfreiheit bei Vorlageverlangen in aufsichtlichen Verfahren zu effektuieren. Abschließend stellte Dr. Mathias Priewer vier mögliche Anforderungen an Behörden vor, um rechtsstaatliche Garantien in Parallelverfahrenskonstellationen effektiv abzusichern: Die Behörde muss denjenigen, gegen den ein Anfangsverdacht besteht, prozessual als Beschuldigten behandeln – selbst wenn ein repressives Verfahren nicht, noch nicht oder nicht mehr existiert (Inkulpationsgebot). Die Behörde muss offenlegen, in welcher Rolle sie tätig wird und welche Zweckrichtung eine Maßnahme hat (Transparenzgebot). Die Behörde darf die prozessuale Rolle des Adressaten der Maßnahme, ihre eigene Rolle und die Zweckrichtung der Maßnahme nicht missbräuchlich falsch qualifizieren (Missbrauchsverbot) und die Behörde darf präventive Maßnahmen nur so weit ausüben wie sie präventiv erforderlich sind (Begrenzungsgebot). Die Thesen von Dr. Mathias Priewer erhielten die Zustimmung von allen Diskussionsteilnehmern und Dr. Sebastian Wagner ergänzte eine weitere Anforderung: Die Behörde muss die Einhaltung dieser Ge- und Verbote durch die aktenmäßige Dokumentation sicherstellen (Dokumentationsgebot).
Der Ausklang der Veranstaltung fand sodann bei Häppchen und Getränken statt und die Teilnehmer*innen nutzten die Gelegenheit, um sich bis in die Nacht weiter auszutauschen.