Der transnationale Strafklageverbrauch im europäisierten Steuerstrafrecht
Nils Stahnke ist mit dem vorliegenden Beitrag Preisträger des WiJ-Aufsatzwettbewerbs 2023.
I. Einleitung
Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland begeisterte Sportfans weltweit. Doch das Bild des „Sommermärchens“ bröckelt: Durch das Bekanntwerden dubioser Zahlungsflüsse im Zuge der Vergabe und Ausrichtung der WM erscheint das Ereignis heute, fast 20 Jahre später, in einem anderen Licht. Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vorwürfe ist im vollen Gange. Im April 2023 hat das OLG Frankfurt entschieden, dass die Einstellung eines in der Schweiz gegen vier ehemalige Fußballfunktionäre geführten Strafverfahrens wegen Betrugs einer Anklage der nämlichen Personen in Deutschland wegen Steuerhinterziehung nicht entgegensteht. Das mediale Interesse an dem Fall soll zum Anlass genommen werden, die Reichweite des transnationalen Strafklageverbrauchs auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts genauer unter die Lupe zu nehmen.
In einem ersten Schritt werden dazu die Grundlagen des transnationalen Strafklageverbrauchs erläutert (unter II.). Anschließend werden ausgewählte Konstellationen analysiert, in denen der Strafklageverbrauch bedeutsam werden kann (unter III.), ehe der Beitrag mit einem Fazit abschließt (unter IV.).
II. Der transnationale Strafklageverbrauch in Europa
Auf dem souveränitätssensiblen Gebiet des Strafrechts vollzieht sich die europäische Integration nur zurückhaltend. Die Mitgliedstaaten sind bislang nicht bereit, die Kontrolle über die Strafrechtspflege umfassend auf die EU zu übertragen.[1] In der Folge existieren in der EU eine Vielzahl von Strafrechtsordnungen, die u.U. Rechtsfolgen für ein und denselben Sachverhalt vorsehen. Mit derartigen positiven Kompetenzkonflikten geht für Unionsbürger das Risiko einer mehrfachen Strafverfolgung durch verschiedene Staaten einher.[2] Dies gilt auch und gerade auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts. Wie noch gezeigt wird, ist ein sich überschneidender Strafrechtsschutz in Art. 325 Abs. 2 AEUV angelegt, wenn nicht sogar gewollt. Ferner ist es denkbar, dass zwei Staaten – zu Recht oder zu Unrecht – jeweils die Besteuerungshoheit bezüglich eines Sachverhalts für sich beanspruchen und damit auch strafverfolgend tätig werden, wenn ihnen gegenüber (aus ihrer Sicht) fehlerhafte, unvollständige oder gar keine steuerlichen Angaben gemacht wurden.
1. Das unionsrechtliche Verbot der Mehrfachverfolgung
Das deutsche Recht sieht keinen Strafklageverbrauch im Falle einer Verurteilung durch einen anderen Staat vor – Art. 103 Abs. 3 GG schützt nur vor einer mehrfachen Verfolgung durch den deutschen Staat.[3] Es gibt auch keine allgemeine Regel des Völkerrechts, die der mehrfachen Aburteilung einer Tat durch unterschiedliche Staaten entgegenstünde.[4] Wurde ein Täter im Ausland wegen einer Tat verurteilt und die verhängte Strafe auch vollstreckt, so ist jene Strafe nach § 51 Abs. 3 StGB lediglich auf die Strafe anzurechnen, die ein deutsches Gericht wegen derselben Tat verhängt.
Ein transnationales Verbot der Mehrfachverfolgung beinhaltet allerdings der zusammen mit dem Schengenraum eingeführte Art. 54 SDÜ. Danach darf ein durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilter Täter nicht mehr durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat verfolgt werden. „Abgeurteilt“ in diesem Sinne ist nicht nur, wer durch ein Gericht verurteilt oder freigesprochen[5] wurde, sondern nach der EuGH-Rechtsprechung genügt bereits eine endgültige behördliche Verfahrenseinstellung[6]. Wurde eine Sanktion verhängt, tritt der Strafklageverbrauch gemäß Art. 54 SDÜ a.E. allerdings nur ein, wenn diese bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.
Auch im primären Unionsrecht (vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV) existiert mit Art. 50 GRCh mittlerweile ein transnationales Mehrfachverfolgungsverbot.[7] Art. 50 GRCh enthält eine mit Blick auf Art. 54 SDÜ fast gleichlautende Bestimmung, die den Strafklageverbrauch – anders als Art. 54 SDÜ – jedoch nicht von einer Vollstreckung abhängig macht[8]. Unterschiede zu Art. 54 SDÜ bestehen zudem darin, dass Art. 50 GRCh sich gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh nur auf die Strafverfolgung durch EU-Mitgliedstaaten auswirkt, wenn diese Unionsrecht durchführen. Dies ist nach dem EuGH allerdings bereits der Fall, wenn die vorgeworfene Steuerhinterziehung zulasten unionsrechtlich harmonisierter Steuern begangen wurde – zumindest dann, wenn die Steuern auch dem Unionshaushalt zugutekommen.[9]
Bei Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ handelt es sich um die beschuldigtenfreundliche Ausprägung des strafverfahrensrechtlichen Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung (vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV),[10] wonach ein Mitgliedstaat zugunsten der effektiven Strafverfolgung eine in einem anderen Mitgliedstaat getroffenen strafrechtlichen Entscheidung zu respektieren hat[11].
2. Der faktische Tatbegriff des EuGH
Art. 54 SDÜ, Art. 50 GRCh verhindern die mehrfache Verfolgung „derselben“ Tat. Da andere (d.h. nicht abgeurteilte) Taten selbstverständlich weiterhin verfolgt werden dürfen, determiniert der Tatbegriff ganz entscheidend Reichweite und Leistungsfähigkeit des Mehrfachverfolgungsverbots.[12]
Im Ausgangspunkt sind zwei Extreme bei der Bestimmung der Tat möglich:[13] Zum einen ließe sich der Tatbegriff i.S. eines idem crimen verstehen. Danach würde das Mehrfachverfolgungsverbot (nur) verhindern, dass mehrmals dieselbe Strafnorm auf einen Sachverhalt angewendet wird. Spricht das Gericht etwa einen wegen Steuerhinterziehung angeklagten Täter frei, könnte dieser noch wegen Betrugs verfolgt werden. Alternativ könnte man auch auf das idem factum abstellen, also den Tatbegriff im tatsächlichen Sinne verstehen, sodass der Strafklageverbrauch bereits eintritt, wenn derselbe Lebenssachverhalt einer rechtlichen Würdigung unterzogen wurde. Auch Zwischenformen sind denkbar, etwa ein faktisch-normatives Verständnis, wonach zur Tat neben dem tatsächlichen Geschehen auch das betroffene Rechtsgut gehört und bei Betroffenheit verschiedener Rechtsgüter folglich auch verschiedene Taten gegeben seien.
Der Tatbegriff[14] der Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ ist unionsrechtsautonom auszulegen.[15] Der EuGH versteht ihn seit der Entscheidung in der Rs. Van Esbroeck in ständiger Rechtsprechung rein faktisch. Demnach „ist das einzige maßgebende Kriterium für die Anwendung von Art. 54 SDÜ das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände“.[16] Bei der Beurteilung räumt der EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten einen weiten Spielraum ein.[17] Grund für das faktische Tatverständnis ist die bereits erwähnte Vielfalt der (nur fragmentarisch harmonisierten) Strafrechtssysteme in der EU. Ein Abstellen auf das idem crimen würde die Freizügigkeit im Unionsgebiet nicht effektiv gewährleisten, da verschiedene Mitgliedstaaten auch verschiedene Straftatbestände auf ein und denselben Sachverhalt anwenden.[18]
In den meisten Rechtsordnungen entspricht die Reichweite des Tatbegriffs der Kognitionsbefugnis des Gerichts: Kann das Gericht den Sachverhalt nicht vollumfänglich, sondern nur in Bezug auf ausgewählte Strafgesetze würdigen, ergibt es Sinn, dass der Strafklageverbrauch auch nur in diesem (begrenzten) Umfang eintritt.[19] Indem der EuGH den Begriff der Tat rein faktisch versteht,[20] spielt es für den Strafklageverbrauch hingegen keine Rolle, ob das ersturteilende Gericht über die Verwirklichung sämtlicher nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten in Betracht kommender Strafgesetze entscheiden konnte.[21]
III. Konkretisierung in ausgewählten Problemfällen
Damit droht die Steuerstrafverfolgung „unter den Tisch zu fallen“, wenn ein Mitgliedstaat, der nicht die Steuerhoheit innehat, zuerst strafverfolgend tätig wird. Denn grundsätzlich setzen die Mitgliedstaaten ihr Strafrecht nicht dazu ein, hoheitliche Rechtsgüter – wie das Steueraufkommen – anderer Staaten zu schützen.[22] Regelmäßig wird ein nationales Gericht oder eine nationale Behörde nur darüber entscheiden, ob Steuern des „eigenen“ Staats hinterzogen wurden.[23] Die so zustande gekommene Entscheidung über die Tat (im faktischen Sinne) ist sodann von jedem anderen Mitgliedstaat „anzuerkennen“, und zwar auch dann, wenn im Rahmen der Würdigung die Verletzung dessen hoheitlicher Rechtsgüter unberücksichtigt geblieben ist.[24]
Bei den Straftaten gegen hoheitliche Rechtsgüter, zu denen auch die Steuerhinterziehung gehört, kann die Reichweite des Tatbegriffs demnach Auswirkungen darauf haben, ob das Unrecht überhaupt abgegolten wird. Im Folgenden soll dies anhand verschiedener Beispielfälle veranschaulicht werden.
1. Zusammentreffen von Steuerstraftat und Nichtsteuerstraftat
Die Gefahr einer Mehrfachverfolgung stellt sich zum einen dann, wenn ein Täter neben einer Steuerhinterziehung auch Delikte des Kernstrafrechts verwirklicht hat.
a) Unberechtigte Geltendmachung von Betriebsausgaben
Um einen solchen Sachverhalt geht es in der „Sommermärchenaffäre“:
Mehrere Funktionäre des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sowie der FIFA sollen das Organisationskomitee des DFB veranlasst haben, einen Geldbetrag i.H.v. EUR 6,7 Mio. an die FIFA zu zahlen unter der mutmaßlich wahrheitswidrigen Angabe, die Kosten dienen der Eröffnungsgala zur WM 2006. In den Steuererklärungen des DFB gegenüber dem deutschen Finanzamt wird diese Zahlung als Betriebsausgabe geltend gemacht, obwohl die Voraussetzungen der § 4 Abs. 4, Abs. 5 EStG mutmaßlich nicht erfüllt sind (weil die Aufwendung nicht „durch den Betrieb veranlasst“ war). In der Schweiz wird gegen die Funktionäre ein Strafverfahren wegen Betrugs zulasten des DFB eingeleitet, aber wegen Verjährungseintritts endgültig eingestellt. In Deutschland werden die Beteiligten später wegen Steuerhinterziehung angeklagt.
Das LG Frankfurt[25] ging in einem unveröffentlichten Beschluss davon aus, es handele sich bei dem in der Schweiz angeklagten mutmaßlichen Betrug und der im deutschen Strafverfahren in Rede stehenden Steuerhinterziehung um dieselbe Tat i.S.d. Art. 54 SDÜ. Das OLG Frankfurt[26] hat diesen Beschluss aufgehoben. Begründend führt es an, dass, obgleich „beide Anklagen an einen zusammenhängenden historischen Gesamtkomplex anknüpfen“, der Betrug ein „Vortatgeschehen im Hinblick auf die hier verfahrensgegenständlichen Steuerstraftaten“ darstelle. Es lägen „keine nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundene Tatsachen“ vor. Selbst, wenn die steuerliche Behandlung der Zahlung im Zeitpunkt der mutmaßlichen Täuschung des Organisationskomitees „möglicherweise von Anfang an in den Blick genommen“ worden sei, handele es sich bei den unrichtigen Angaben in der Steuererklärung nicht um die „zwingende Folge“.
Das OLG Frankfurt stellt mit dem Kriterium der „zwingenden Folge“ offenbar in erster Linie darauf an, ob die in Rede stehenden Handlungen für sich isoliert betrachtet aus Sicht der Täter Sinn ergeben. Diese Erwägung leuchtet ein, vermag sie doch dem Erfordernis der „unlösbaren Verbindung“ Konturen zu verleihen. Zurecht wurde eine Tatidentität verneint.
Der Sachverhalt der „Sommermärchenaffäre“ ist sehr speziell. In der Praxis weitaus häufiger dürfte die Konstellation der unberechtigten Geltendmachung von Betriebsausgaben im Zusammenhang mit einer Straftat Fälle betreffen, in denen strafbare Bestechungszahlungen (z.B. nach § 299 Abs. 2 StGB) entgegen dem Betriebsausgabenabzugsverbot des § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 10 EStG gewinnmindernd in der Steuererklärung berücksichtigt werden.[27] Auch hier wird eine „unlösbare Verbindung“ (zwischen Korruptionshandlung und Abgabe der Steuererklärung) in aller Regel fernliegen.
b) Verschweigen von Erträgen aus einer Straftat
Die Frage nach dem idem stellt sich nicht nur dann, wenn inkriminierte Zahlungen zu Unrecht als Betriebsausgaben geltend gemacht werden, sondern auch, wenn den Finanzbehörden Einkünfte verschwiegen werden, die aus Straftaten herrühren.
Die in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige R begeht über das Internet regelmäßig sog. Ransomware-Erpressungen, bei denen sie mit Schadsoftware die Computer von EU-Ausländern sperrt und die Wiederfreischaltung von der Zahlung eines Lösegelds abhängig macht. Die so vereinnahmten Lösegelder gibt R in ihrer Steuererklärung nicht an.
R hat Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG) erzielt.[28] Die Strafbarkeit der Tätigkeit ändert nichts an ihrer Steuerbarkeit, § 40 AO. Analog zur zuvor geschilderten Konstellation ist danach zu fragen, ob die Täuschung der Finanzbehörde und die Ransomware-Erpressung aus der Täterperspektive auch unabhängig voneinander Sinn ergeben. Da dies zu bejahen ist – die Erpressungshandlung dient der Erzielung eines Lösegelds und die Fehlangaben in der Steuererklärung der Abwendung der Besteuerung –, liegen unterschiedliche Taten i.S.d. Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ vor.
c) Straftaten zur Vorbereitung einer Steuerhinterziehung
Eine einheitliche Tat liegt dagegen nahe, wenn eine kriminelle Handlung der Vorbereitung einer Steuerhinterziehung dient. Typischerweise betrifft dies etwa Urkundenfälschungen zur unberechtigten Geltendmachung des Vorsteuerabzugs (§ 15 UStG).[29] Ein sinnvolles Motiv für die (sonst nutzlose) Fälschung ergibt sich nur bei Berücksichtigung der anschließenden Täuschung der Finanzbehörde.
2. Zusammentreffen mehrerer Steuerstraftaten
Konkurrierende Strafverfolgungsinteressen verschiedener EU-Mitgliedstaaten sind auch dann denkbar, wenn ein Täter mit seinem Handeln in mehreren Staaten jeweils den Tatbestand eines Steuerstrafgesetzes verwirklicht hat.
a) Mehrere Steuerhinterziehungen in Bezug auf denselben Steueranspruch
Unproblematisch ist eine Tatidentität gegeben, wenn die Strafvorschriften (mindestens) zweier Staaten durch die Einwirkung auf denselben Steueranspruch eines Staats verwirklicht wurden. Denkbar ist diese Konstellation, weil das Assimilierungsgebot (Art. 325 Abs. 2 AEUV) die EU-Mitgliedstaaten zur strafrechtlichen Verfolgung der Hinterziehung ausländischer Steuern verpflichten kann – nämlich dann, wenn ein Teil des Ertrags aus der Steuer dem Unionshaushalt[30] zugutekommt und der betreffende Staat auch sein eigenes Steueraufkommen mit dem Instrument des Strafrechts absichert. Zur Umsetzung der Pflicht aus § 325 Abs. 2 AEUV hat Deutschland den Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO, der grundsätzlich nur für deutsche Steuern gilt (§ 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 8 AO), in Abs. 6 sachlich auf bestimmte Steuern erstreckt, die durch andere EU- und EFTA-Mitgliedstaaten verwaltet werden. Damit sind positive Kompetenzkonflikte und infolgedessen die Gefahr der strafrechtlichen Mehrfachverfolgung vorprogrammiert.[31]
Die deutsche Uhrmacherin U unterhält eine inoffizielle Niederlassung in Belgien. Dort erbringt sie für belgische Kunden zahlreiche hochpreisige Reparatur- und Wartungsarbeiten auf „Ohne-Rechnung-Abrede“. Umsatzsteuervoranmeldungen sowie Umsatzsteuererklärungen gibt U in Belgien bewusst nicht ab, obwohl die Dienstleistungen dort[32] umsatzsteuerbar und -steuerpflichtig sind. Hierauf wird das deutsche Finanzamt im Rahmen einer Betriebsprüfung in der Unternehmenszentrale aufmerksam. U wird in Deutschland wegen Hinterziehung der belgischen Umsatzsteuer gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 S. 2 AO verurteilt.
Zwar mögen die Steuerstraftatbestände in den EU-Mitgliedstaaten im Detail unterschiedlich ausgestaltet sein. Da sich der Schutz der Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ aber gerade nicht auf das idem crimen beschränkt, kommt es nur auf die Identität des Täuschungsverhaltens an. Im Beispielfall beziehen sich beide Vorwürfe auf ein Untätigbleiben in derselben logischen Sekunde gegenüber derselben (belgischen) Behörde. Einer Strafverfolgung in Belgien stünde daher die Verurteilung in Deutschland entgegen.
b) „Schmuggelfahrten“
Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Tatidentität bei „Schmuggelfahrten“, in denen ein Täter Waren durch Europa transportiert und auf seiner Route in keinem der durchquerten EU-Mitgliedstaaten steuerliche Erklärungen abgibt.
Spediteur S will Zigaretten, die er in seinem Lkw hinter einer Tarnladung versteckt hat, unbemerkt von Belarus nach Dänemark transportieren, damit sie dort veräußert werden können. Am 23.10.2022 beginnt S seine mehrtägige Fahrt mit der Überquerung der belarussisch-litauischen Grenze, wobei die Route u.a. durch Deutschland führt. Hier werden die Zigaretten am 25.10.2022 im Rahmen einer Polizeikontrolle entdeckt. S wird festgenommen und wegen Hinterziehung der deutschen Tabaksteuer verurteilt (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. § 23 Abs. 1 S. 3 TabStG a.F.). Einige Zeit später wird S in Litauen wegen Hinterziehung der auf die Zigaretten anfallenden litauischen Einfuhrabgaben – Zoll und Einfuhrumsatzsteuer – angeklagt.
Die Einfuhr der Zigaretten nach Litauen und deren Beförderung in den deutschen steuerrechtlich freien Verkehr trennt immerhin eine Zeit von zwei Tagen und eine Entfernung von mindestens 600 km. Der EuGH stellte gleichwohl klar, dass bei derartigen Schmuggelfahrten über mehrere Binnengrenzen Tatidentität gegeben sein kann,[33] benannte allerdings keine allgemeingültigen Kriterien, sondern verwies stattdessen auf den weiten Beurteilungsspielraum der mitgliedstaatlichen Gerichte.[34] Der BGH geht bei der Wahrnehmung dieses Spielraums u.a. von einer Zäsur und damit mehreren eigenständigen Taten aus, (1.) wenn es zu einer „wesentlichen Unterbrechung“ der Fahrt gekommen ist, (2.) wenn ein längeres Zwischenlagern dazu geführt hat, dass die Ware „zur Ruhe gekommen” ist, oder (3.) wenn der genaue Ablauf des Transports bei Beginn der Fahrt noch nicht feststand.[35]
Unschwer zu erkennen ist, dass die Feststellung einer Zäsur (insbesondere in den ersten beiden Fallgruppen) ausgesprochen wertungsoffen ist.[36] Stellt man mit dem hier favorisierten Ansatz auf den „Sinnzusammenhang“ ab, ist zu konstatieren, dass der heimliche Warentransport durch jedes der Länder nur dann Sinn ergibt, wenn der Täter an seinem Ziel ankommt. Im o.g. Beispiel wäre daher eine einheitliche Tat anzunehmen. Zugegebenermaßen kann der Wertungsspielraum auf diese Weise nur begrenzt eliminiert werden. Denn Sinneinheiten lassen sich im Prinzip beliebig eng oder weit definieren.[37] Im Beispielsfall ist ein derart extensives Tatverständnis jedenfalls insofern unbedenklich, als der erstverurteilende Staat die „auf dem Weg“ verübten Täuschungen ausländischer Behörden in vielen „Schmuggelfällen“ wegen Art. 325 Abs. 2 AEUV selbst unter Strafe gestellt haben wird. So hätte das deutsche Gericht im Beispielfall eine Hinterziehung der litauischen Einfuhrabgaben nach § 370 Abs. 1, Abs. 6 AO ahnden können.[38]
c) Mehrere Steuerhinterziehungen in Bezug auf doppelt besteuerte Einkünfte
Die Literatur zum transnationalen ne bis in idem hat sich bislang kaum mit Fällen auseinandergesetzt, in denen ein Täter in zwei Staaten steuerpflichtig ist und dort jeweils Einkünfte in zu geringer Höhe oder gar keine Einkünfte deklariert. Zwar dürften sämtliche EU-Mitgliedstaaten untereinander Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) abgeschlossen haben, also völkerrechtliche Verträge, in denen sich die Vertragsstaaten zur Beschränkung ihres Besteuerungsrechts verpflichten[39]. Selbst, wenn die Vertragsstaaten das DBA übereinstimmend anwenden,[40] ist damit aber nicht ausgeschlossen, dass es in beiden Staaten zur Steuerverkürzung kommen kann, wie folgendes Beispiel zeigt:
H mit Wohnsitz (§ 8 AO) in Süddeutschland fährt jedes Wochenende nach Österreich um dort in einem Hotel „schwarz“ zu arbeiten, wo er während dieser Zeit (von Freitag bis Sonntag) auch übernachtet. In seiner deutschen Steuererklärung gibt H nur die Einkünfte aus seinem „Hauptjob“ in Deutschland an; in Österreich gibt er pflichtwidrig gar keine Steuererklärung ab.
Gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 EStG ist H mit seinem Welteinkommen in Deutschland steuerpflichtig. Gleichzeitig ist er mit seinen Einkünften auch (zumindest beschränkt) in Österreich steuerpflichtig.[41] Eine Doppelbesteuerung wird durch Art. 23 Abs. 1 Buchst. a DBA-Österreich verhindert, indem die in Österreich erzielten Einkünfte von der deutschen Bemessungsgrundlage auszunehmen sind („Freistellung“, S. 1). Bei der Ermittlung des deutschen Steuersatzes sind sie jedoch zu berücksichtigen („Progressionsvorbehalt“, S. 2), sodass Hs Einkünfte aus unselbständiger Arbeit in Deutschland infolge seiner unvollständigen Angaben zu niedrig besteuert werden. Da H somit in beiden Staaten Steuern hinterzogen hat, stellt sich die Frage, ob er sich bei einer Verurteilung in Deutschland gegenüber Österreich auf den Grundsatz ne bis in idem berufen kann (und umgekehrt).
Dass den von den Hinterziehungen betroffenen Steueransprüchen derselbe wirtschaftliche Sachverhalt zugrunde liegt, darf nicht zum voreiligen Schluss auf eine Tatidentität verleiten. Denn das steuerstrafrechtlich relevante Verhalten liegt allein in der Fehlkommunikation gegenüber den nationalen Behörden durch aktives Tun bzw. pflichtwidriges Unterlassen im Nachgang an diesen Sachverhalt.[42]H hat im Beispiel – anders als U in der Konstellation unter III.2.a) – in zwei Staaten je eine eigenständige Täuschung verübt (einmal gegenüber der deutschen und einmal gegenüber der österreichischen Finanzbehörde). Lediglich der Gegenstand, auf den sich die Täuschung bezieht, ist identisch. Dies ist zur Begründung der Tatidentität für sich genommen noch unzureichend.
Gegen eine vorschnelle Bejahung der Tatidentität in Doppelbesteuerungsfällen sprechen die u.U. weitreichenden Folgen: Geht man davon aus, dass die Abgabe einer Steuererklärung Teil einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits abgeurteilten Tat ist, weil beide Staaten denselben grenzüberschreitenden Sachverhalt besteuern, beschränkt sich der Strafklageverbrauch nicht allein auf die Hinterziehung der auf diesen Sachverhalt entfallenen Steuer. Die Abgabe der unvollständigen Steuererklärung kann vielmehr hinsichtlich ihres gesamten Inhalts nicht mehr verfolgt werden. Hat ein Täter neben den vom DBA betroffenen Einkünften noch weitere Einkünfte verschwiegen, verhindert ein etwaiger Strafklageverbrauch auch insoweit die Strafverfolgung.
Dass zwei unterschiedliche Finanzbehörden verschiedener Staaten getäuscht wurden, schließt eine Tatidentität auf der anderen Seite aber nicht per se aus.[43] Beziehen sich beide Täuschungen auf dieselben Einkünfte, kann dies indiziell auf ein idem factum hinweisen. Dies gilt erst recht, wenn der den Einkünften zugrundeliegende Sachverhalt steueroptimierend gestaltet wurde, also ein einheitlicher Tatplan und ggf. eine umfassende laufende Beratung gegeben sind.[44] Ein einheitlicher Vorsatz genügt grundsätzlich nicht für die Annahme eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände.[45] Er kann jedoch Indizwirkung entfalten.[46]
Tathandlung der Steuerhinterziehung durch aktives Tun (vgl. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) ist die Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Steuererklärung. Die Zeitpunkte, in denen der Täter in den beiden Staaten Erklärungen abgibt, können aber erheblich voneinander abweichen. Bestehen unterschiedliche Abgabefristen, ist dies wahrscheinlich. Das OLG Frankfurt hat in dem bereits erwähnten Beschluss[47] ausdrücklich offengelassen, ob es der Tatidentität zwingend entgegensteht, dass der Betrug im Jahr 2005 begangen sein soll, die Steuererklärungen aber erst 2007 abgegeben wurden. Damit wird zumindest angedeutet, dass es zu restriktiv sein könnte, wie in den „Schmuggelfällen“ bereits in einer mehrtägigen „Ruhe“ des Geschehens eine Zäsur zu sehen.
Hat ein Täter sich in zwei Staaten wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (vgl. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) strafbar gemacht, ist der Frage nachzugehen, ob der erstverurteilende Staat dasselbe Unterlassen abgeurteilt hat, an das der zweitverfolgende Staat anknüpfen will. Unter welchen Umständen zwei Unterlassungen eine einheitliche faktische Tat darstellen, ist bislang kaum untersucht worden.[48] Sind im Falle des „doppelten Unterlassens“ keine objektiven Tatsachen ersichtlich, die als Bindeglied für das Untätigbleiben in Betracht kommen (etwa eine einheitliche Verschleierungshandlung), wird man dem Tatentschluss besonderes Gewicht beimessen müssen.
Dies gilt auch, wenn – wie im Beispielfall – ein Tun und ein Unterlassen zusammentreffen. Richtigerweise sollte auch hier wieder die Frage gestellt werden, ob jedes Verhalten isoliert Sinn ergibt, was bzgl. H naheliegt, da einmal die Vermeidung der deutschen und einmal die Vermeidung der österreichischen Besteuerung bezweckt ist. Geboten ist aber stets eine Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls (z.B. einer etwaigen „Sinnlosigkeit“ der Steuerehrlichkeit in nur einem Staat wegen des dann ggf. drohenden Informationsaustauschs[49]).
IV. Fazit und Ausblick
Im Steuerstrafrecht sind in diversen Konstellationen grenzüberschreitende Sachverhalte denkbar, in denen ein transnationaler Strafklageverbrauch zu prüfen ist. Offene Fragen ergeben sich hierbei für erst- und zweitverfolgende Staaten gleichermaßen.
Infolge des faktischen Tatbegriffs des EuGH hat es in vielen Fällen das nationale Gericht des zweitverfolgenden Staats in der Hand, durch die Ausübung des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums darüber zu entscheiden, ob und inwieweit die Verletzung fiskalischer Interessen strafrechtlich geahndet werden kann. Um dem Vorwurf der Willkür zu begegnen, bedarf es der Erarbeitung belastbarer Entscheidungskriterien. Nur so wird die Gefahr der Verfolgung für Unionsbürger vorhersehbar, sodass sich die durch Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ bezweckte Freizügigkeit verwirklichen lässt. In Anlehnung an das OLG Frankfurt bietet es sich m.E. an, darauf abzustellen, ob das Hinwegdenken der einen Handlung den Sinn der anderen Handlungen berührt, weil jene aus der Tätersicht einen übergeordneten Sinn hat (dann: Tatidentität) oder ob die in Rede stehenden Handlungen isoliert betrachtet ein gleichermaßen sinnvolles Tätermotiv erkennen lassen (dann: keine Tatidentität). Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang noch, wer die „Sinnfrage“ zu beantworten hat: Kommt es diesbezüglich allein auf die Vorstellung des Täters an oder hat das Gericht unter Einnahme der Täterperspektive eigene Erwägungen anzustellen? Nicht immer handeln Täter rational.
Erkennt ein erstverurteilendes Strafgericht, dass im verfahrensgegenständlichen Sachverhalt auch der „Verdacht“ einer im EU-Ausland begangenen Steuerhinterziehung im Raum steht, die nach dem anzuwendenden Recht aber nicht abgeurteilt werden kann, stellt sich mit Blick auf den drohenden Strafklageverbrauch die Frage, wie darauf zu reagieren ist: Sollte das im Ausland verwirklichte Unrecht im Strafmaß Berücksichtigung finden?[50] Darf oder muss das Strafverfahren ruhend gestellt werden bis die Straftat im Ausland abgeurteilt worden ist, wenn das damit einhergehende Unrecht das im Inland verwirklichte Unrecht evident übersteigt?
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass eine konsistente Handhabung des transnationalen ne bis in idem noch an vielen Stellen dogmatische Grundlagenarbeit voraussetzt (etwa Untersuchungen zur Tatidentität bei „mehreren“ Unterlassungen). Der Beitrag soll hierzu einen ersten Denkanstoß geben.
[1] Dies ist nach deutscher Verfassungsrechtslage auch nicht uneingeschränkt möglich, da dem Bundestag Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben müssen, s. BVerfGE 123, 267, 406 ff.
[2] Insbesondere ist nicht gewährleistet, dass die betroffenen Staaten die Strafverfolgung koordinieren. Zwar gibt es Mechanismen zur einvernehmlichen Beilegung von Kompetenzkonflikten (notfalls unter Einbindung von Eurojust). Grundsätzlich ist jedoch kein EU-Mitgliedstaat verpflichtet, die Zuständigkeit für ein Strafverfahren gegen seinen Willen abzutreten. Siehe Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Stand Mai 2023, Art. 82 AEUV Rn. 76.
[3] BVerfGE 75, 1, 15 f.; BVerfGE 12, 62, 66; Degenhart in Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 103 Rn. 81.
[4] BVerfGE 75, 1, 24.
[5] EuGH NJW 2018, 1237 (Di Puma), Rn. 39; BGH NJW 2001, 2270.
[6] EuGH NJW 2016, 2939 (Kossowski), Rn. 39; grundlegend EuGH Slg. 2003, I-1345 (Gözütok und Brügge), Rn. 27 ff.
[7] Zu Unterschieden bei der räumlichen Anwendbarkeit Radtke in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2021, § 12 Rn. 33.
[8] Das Verhältnis beider Vorschriften zueinander ist daher umstritten, s. Radtke in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 12 Rn. 58-60.
[9] EuGH NJW 2013, 1415 (Åkerberg Fransson), Rn. 24-28.
[10] Mitsilegas CMLR 43 (2006), 1277, 1300; Satzger in: FS Roxin, 2011, S. 1515, 1520; Vogel/Norouzi JuS 2003, 1059, 1060.
[11] Zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 9 Rn. 25-27.
[12] Radtke in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 12 Rn. 26.
[13] Siehe Stuckenberg in: FS Europa-Institut, 2011, S. 567, 569; ausführlich Voulgaris, Transnationales „ne bis in idem“ zwischen staatlicher Schutz- und Achtungspflicht, 2016, S. 221-227.
[14] Dass Art. 50 GRCh und Art. 54 SDÜ ein einheitlicher Tatbegriff zugrunde liegt, ist schon wegen des abweichenden Wortlauts nicht selbstverständlich, s. EGMR NJOZ 2010, 2630 (Zolotukhin), Rn. 79 f. Der EuGH setzt eine Übereinstimmung stillschweigend voraus.
[15] BGH wistra 2021, 208, 209; BGH NStZ-RR 2019, 259, 260; Hackner NStZ 2011, 425, 427. In der Folge geht er in seiner Reichweite z.T. über den Tatbegriff der StPO hinaus und bleibt z.T. dahinter zurück, s. Inhofer in: BeckOK StPO, Stand Juli 2023, Art. 54 SDÜ Rn. 36.
[16] EuGH Slg. 2006, I-2333 (Van Esbroeck), Rn. 36. Daran anschließend: EuGH Slg. 2006, I-9327 (Van Straaten), Rn. 47; EuGH Slg. 2006, I-9199 (Gasparini), Rn. 54; EuGH Slg. 2007, I-6441 (Kretzinger), Rn. 29; EuGH Slg. 2007, I-6619 (Kraaijenbrink), Rn. 26.
[17] EuGH Slg. 2007, I-6441 (Kretzinger), Rn. 36; ebenso EuGH Slg. 2007, I-6619 (Kraaijenbrink), Rn. 32.
[18] EuGH Slg. 2007, I-6441 (Kretzinger), Rn. 33; EuGH Slg. 2006, I-2333 (Van Esbroeck), Rn. 35.
[19] Stuckenberg in: FS Europa-Institut, 2011, S. 567, 569.
[20] Insbesondere soll es nicht auf eine Identität des geschützten rechtlichen Interesses ankommen, EuGH Slg. 2007, I-6441 (Kretzinger), Rn. 33.
[21] Z.T. wird daher eine Verengung des europäischen Tatbegriffs gefordert, wonach der Strafklageverbrauch nur eintreten soll, soweit der erstverfolgende Staat überhaupt über die Strafbarkeit entscheiden konnte: Kühne JZ 2006, 1019, 1020; Stuckenberg in: FS Europa-Institut, 2011, S. 567, 577. Auch BGHSt 52, 275, 281 f. warf die Frage nach einer Modifikation des Tatbegriffs für Fälle auf, in denen die Jurisdiktionsbefugnis bei der Erstverfolgung begrenzt war, ließ sie aber offen. Erklärt BGH NStZ-RR 2019, 259 die Einordnung der Tatsachen nach den Strafrechtsordnungen für irrelevant, dürfte dies eine Absage an derartige Vorschläge bedeuten.
[22] Aus der deutschen Perspektive Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rn. 35; Eser/Weißer in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 3-9 Rn. 49. Eine umfassende Erstreckung des Strafrechtsschutzes auf hoheitliche Rechtsgüter anderer Staaten wäre auch völkerrechtlich nicht unproblematisch, bedarf es doch hierfür eines „legitimierenden Anknüpfungspunkts“ (genuine link); dazu Ambos in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2020, Vor § 3 Rn. 10-17.
[23] Die Strafvorschriften der AO gelten grundsätzlich nur für Steuern, die vom deutschen Staat verwaltet werden, § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 8 AO. Das Steueraufkommen anderer Staaten wird auch nicht von § 263 StGB geschützt, BGH NJW 1964, 935, 937.
[24] Heger in: Hochmayr (Hrsg.), „Ne bis in idem“ in Europa, 2015, S. 65, 83-85.
[25] LG Frankfurt a.M. v. 27.10.2022 – 5-2 KLs 7550 Js 242375/15 (11/18), n.v.
[26] OLG Frankfurt SpuRt 2023, 317.
[27] S. z.B. BGH NZWiSt 2022, 13, 14; BGH NZWiSt 2018, 379, 386; BGHSt 55, 288, 313.
[28] Zu steuerstrafrechtlichen Aspekten einer Ransomware-Erpressung Höpfner/Stahnke DStR 2023, 2136, 2138 f.
[29] S. z.B. BGHSt 49, 136; LG Hildesheim BeckRS 2022, 47477 Rn. 21; LG Essen BeckRS 2014, 126981 Rn. 11-14.
[30] Die EU finanziert sich durch Eigenmittel (Art. 311 Abs. 2, Abs. 3 AEUV), d.h. durch in einem besonderen Beschlussverfahren definierte Finanzmittel, die von den Mitgliedstaaten erhoben und sodann an den Unionshaushalt weitergeleitet werden. Im aktuell geltenden Eigenmittelbeschluss 2020 (Beschluss [EU, Euratom] 2020/2053, ABl. L 424/1) werden der EU u.a. die Erträge aus den Zöllen und ein Teil des Mehrwertsteueraufkommens zugewiesen.
[31] Vgl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 10. Aufl. 2022, § 10 Rn. 63; Thorhauer, Jurisdiktionskonflikte im Rahmen transnationaler Kriminalität, 2019, S. 227.
[32] Entsprechend § 3a Abs. 1 S. 2 UStG. Das Umsatzsteuerrecht ist durch die MwStSystRL (mit Ausnahme der Steuersätze) vollharmonisiert, Schaumburg in: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2023, Rn. 3.88.
[33] EuGH Slg. 2007, I-6441 (Kretzinger), Rn. 36; s.a. EuGH Slg. 2006 I-2333 (Van Esbroeck), Rn. 37.
[34] EuGH Slg. 2007, I-6441 (Kretzinger), Rn. 36; ebenso EuGH Slg. 2007, I-6619 (Kraaijenbrink), Rn. 32.
[35] BGHSt 52, 275, 283 f. Diese Fallgruppen sind nicht abschließend, sondern exemplarisch zu verstehen („etwa“).
[36] Rübenstahl NJW 2008, 2931, 2934.
[37] Stuckenberg in: FS von Heintschel-Heinegg, 2015, S. 435, 443.
[38] Auch die Hinterziehung litauischer oder polnischer Tabaksteuer hätte verfolgt werden können (vgl. § 370 Abs. 6 S. 2 AO). Da die Tabaksteuer als harmonisierte Verbrauchsteuer aber nur einmal erhoben werden darf, muss sich das erstverfolgende Gericht entscheiden, wessen Steueranspruch es als Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit wählt; so BGH NZWiSt 2016, 23, 25.
[39] Rust in: Frotscher, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 234.
[40] Das ist nicht selbstverständlich. Denkbar ist auch, dass beide Staaten von einem unterschiedlichen Sachverhalt ausgehen oder eine Vorschrift des DBA unterschiedlich auslegen. Zu derartigen positiven Qualifikationskonflikten und zu Mechanismen zur Verhinderung einer dadurch trotz DBA verbleibenden Doppelbesteuerung Geberth in: FG Wassermeyer, 2015, S. 65 ff.
[41] § 1 Abs. 3 i.V.m. § 98 Abs. 1 Nr. 4 ö-EStG.
[42] Vgl. Gaede, Der Steuerbetrug, 2016, S. 679 f.
[43] Nach BGHSt 52, 275, 281 verlangt Art. 54 SDÜ keine Identität der die Erklärungen betreffenden Steuern. Bezogen auf Art. 103 Abs. 3 GG soll nach Bülte in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023, § 370 Rn. 732 auch bei mehreren Erklärungsadressaten „aufgrund des einheitlichen Tatentschlusses“ typischerweise Tatidentität gegeben sein.
[44] So auch Peters in: Schaumburg/Peters, Internationales Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2021, Rn. 4.70.
[45] EuGH Slg. 2007, I-6619 (Kraaijenbrink), Rn. 29; BGHSt 59, 120, 126.
[46] Inhofer in: BeckOK StPO, Art. 54 SDÜ Rn. 39; Peters in: Schaumburg/Peters, Internationales Steuerstrafrecht, Rn. 4.66.
[47] OLG Frankfurt SpuRt 2023, 317.
[48] Diskutiert wird im deutschen Verfassungsrecht v.a. die Frage nach der Tatidentität bei Unterlassensdauerdelikten. Dazu (auch mit Bezügen zum Unionsrecht) Schülting GVRZ 2022, 13 ff. Zu Art. 103 Abs. 3 GG bei der Nichtabgabe mehrerer geschuldeter Steuererklärungen Bülte in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 732.
[49] Zum Aufdeckungsrisiko bei Steuerhinterziehung und gleichzeitiger Nichtabführung von Sozialversicherungsabgaben Bülte NZWiSt 2017, 49, 57.