Besprechung von OLG Koblenz, Beschluss vom 30. März 2021, Az.: 5 Ws 16/21
Vorhergehend:
LG Koblenz, Beschluss vom 23. Juni 2020, Az.: 4 KLs 2050 Js 45429/18
LG Koblenz, Beschluss vom 1. Dezember 2020, Az.: 4 KLs 2050 Js 45429/18
Amtliche Leitsätze:
1. Die Durchsicht beschlagnahmter Papiere bzw. elektronischer Speichermedien ist gemäß § 110 Abs. 1 StPO Aufgabe der Staatsanwaltschaft und auf deren Anordnung ihrer Ermittlungspersonen, nicht der Verteidigung. Zu Beweisstücken im Sinne des § 147 Abs. 1 StPO werden im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellte Datenträger bzw. Schriftstücke erst, wenn die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 1 StPO abgeschlossen und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist. Ein Besichtigungsrecht der Verteidigung entsteht erst nach erfolgter Durchsicht und entsprechender Beschlagnahme.
2. Damit korrespondiert die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden, die Auswertung vorläufig sichergestellter Schriftstücke und Daten im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Rechte eventuell Drittbetroffener zügig vorzunehmen, um abhängig von der Menge des sichergestellten Materials und der Aufwändigkeit der Auswertung in angemessenere Zeit zu entscheiden, was als potentiell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme vorgelegt werden und was an den Beschuldigten oder Drittbetroffenen herausgegeben werden soll. Dabei ist zu gewährleisten, dass nicht noch während bereits laufender Hauptverhandlung zuvor nicht ausgewertete Beweismittel aus dem sichergestellten Datenbestand nachgeschoben werden, welche den übrigen Beteiligten noch unbekannt sind. Ein mit der Durchsicht umfangreicher Datenbestände verbundener erhöhter Auswertungsaufwand rechtfertigt keine andere Vorgehensweise.
I. Sachverhalt & Verfahrensgang
In einem Wirtschaftsstrafverfahren wurden zahlreiche Datenträger sichergestellt, auf denen eine beträchtliche Datenmenge von etwa 12 TB gesichert wurde.
Nach Eröffnung des Hauptverfahrens und während der Durchführung der Hauptverhandlung über einen abgetrennten Teil des Verfahrens setzte die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen und die Auswertung der gesicherten Daten im Ausgangsverfahren fort. Dies führte dazu, dass die Staatsanwaltschaft auch in dem abgetrennten Verfahrensteil Unterlagen in großem Umfang erst während der laufenden Hauptverhandlung vorlegte. Die 4. Große Strafkammer des LG Koblenz setzte die Hauptverhandlung aufgrund der „nachgeschobenen“ Unterlagen auf Antrag der Verteidigung aus.
Die Staatsanwaltschaft teilte den Verteidigern mit, dass die elektronischen Asservate in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft zur Besichtigung vorgehalten würden. Einer der Verteidiger äußerte jedoch Bedenken, dass möglicherweise nachverfolgbar sei, welche Dokumente auf dem bereitgestellten Rechner mit der vorinstallierten Software gesichtet worden seien, und so die Verteidigungsstrategie nachvollzogen werden könne. Darüber hinaus bat er darum, Dokumente ausdrucken zu können.
Die Bedenken ließen sich letztendlich nicht ausräumen. Auch wurde dem Verteidiger keine Möglichkeit zum Ausdruck von Dokumenten eingeräumt; stattdessen wurde ihm angeboten, Fotografien der eingesehenen Dokumente zu fertigen. Der Verteidiger erklärte daraufhin, die Besichtigung unter den genannten Umständen nicht vorzunehmen. Die Staatsanwaltschaft regte schließlich eine gerichtliche Entscheidung über die Art und Weise der Gewährung der Akteneinsicht an.
Die 4. Große Strafkammer stellte mit Beschluss fest, dass den Verteidigern hinsichtlich des abgetrennten Teils des Verfahrens[1] mit Blick auf die elektronischen Asservate ein Besichtigungsrecht zustehe. Darüber hinaus gestattete die 4. Große Strafkammer der Verteidigung, „im Rahmen der Besichtigung“ Kopien der Dateien zu fertigen und zwar auch – im Hinblick auf die Komplexität der Wirtschaftsstrafsache – in Form einer vollständigen Kopie des betreffenden Datenbestandes auf einen externen Datenträger. Die 4. Große Strafkammer verpflichtete die Verteidigung ferner zur Löschung der Daten nach Abschluss des Verfahrens und wies auf die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben hin.
Zur Begründung der Gestattung zur Fertigung von Kopien stützte sich die 4. Große Strafkammer auf den Grundsatz der effektiven Verteidigung. Den Verteidigern sei insbesondere zu ermöglichen, durchgehend – auch während laufender Hauptverhandlung und angepasst an den Stand der Beweisaufnahme – mit Suchbegriffen zu arbeiten, d.h. die Daten mittels eigener Suchbegriffe über eine Suchfunktion zu „durchforsten“[2]. Dazu sei der Zugriff auf die Dateien in ihrer Gesamtheit und nicht nur auf einzelne, anlässlich der Besichtigung in den Räumen der Staatsanwaltschaft abfotografierte Dokumente erforderlich. Die Gefahr eines Beweismittelverlusts sah die 4. Große Strafkammer aufgrund der eingeräumten Möglichkeit, die Daten zu kopieren, nicht.
Gegen den Beschluss der 4. Großen Strafkammer legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde beschränkt auf die Gestattung der Fertigung vollständiger Kopien mit Blick auf solche Unterlagen ein, die nicht bei dem jeweiligen Angeklagten oder bei der jeweils als Geschäftsführer geführten Gesellschaft sichergestellt worden waren. Zur Begründung verwies die Staatsanwaltschaft auf den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sowie von persönlichen Daten. Den Drittenbetroffenen sei jedenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Nachdem die 4. Große Strafkammer den Drittbetroffenen die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben hatte, half sie der Beschwerde der Staatsanwaltschaft teilweise ab und nahm einige Asservate von der Gestattung der Fertigung von Kopien aus. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte daraufhin, den Verteidigern auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin lediglich die Besichtigung der elektronischen Asservate in den Räumen der Staatsanwaltschaft zu gestatten.
In der Zwischenzeit hatte das AG Koblenz die Beschlagnahme verschiedener Datenträger – auch aufgrund der Beweisbedeutung in dem abgetrennten Verfahrensteil – angeordnet.
II. Entscheidung des OLG Koblenz
Der 4. Strafsenat des OLG Koblenz verwarf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft zum Teil als unzulässig.[3]
Unzulässig sei die Beschwerde der Staatsanwaltschaft insoweit, als sie sich gegen die Art und Weise der Gewährung bereits beschlagnahmter Asservate richte. Es fehle an der Statthaftigkeit gemäß § 304 Abs. 1 Halbs. 2 StPO, weil gemäß § 32f Abs. 3 StPO Entscheidungen über die Form der Gewährung von Akteneinsicht nach § 32f Abs. 1 und 2 StPO unanfechtbar seien. Dies gelte auch für Entscheidungen über die Ausgestaltung des Rechts auf Besichtigung von Beweismitteln gemäß § 147 Abs. 1 StPO.[4]
Demgegenüber bestehe eine Anfechtungsmöglichkeit der Staatsanwaltschaft, soweit sich die entsprechenden Daten noch in der Verfügungsgewalt der Staatsanwaltschaft befänden bzw. die Entscheidung darüber, welche Daten als Beweismittel in das Verfahren eingeführt werden sollten, noch ausstehe.
In den Entscheidungsgründen verweist der 4. Strafsenat zur Begründung insbesondere auf § 110 Abs. 1 StPO. Demnach sei die Durchsicht der Papiere bzw. der elektronischen Speichermedien des von der Durchsuchung Betroffenen Aufgabe der Staatsanwaltschaft und auf deren Anordnung ihrer Ermittlungspersonen, nicht aber der Verteidigung.[5] Ein Besichtigungsrecht der Verteidigung bestehe nur für Beweisstücke i.S.v. § 147 Abs. 1 StPO. Dazu würden die im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellten Datenträger erst Teil der Akte, wenn die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 1 StPO erfolgt und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen sei. Erst ab diesem Zeitpunkt greife der vorgenannte Anfechtungsausschluss gemäß § 32f Abs. 3 StPO. Dies begründet der 4. Strafsenat mit der – zumindest zu einem gewissen Maß erforderlichen – Bestimmbarkeit der zu beschlagnahmenden Gegenstände, damit deren Beweisbedeutung eingeschätzt werden könne. Habe das Gericht eine Entscheidung über die Beweisbedeutung getroffen oder habe die Staatsanwaltschaft einzelne Dateien zur Akte hinzugefügt, bedürfe es keiner Anfechtungsmöglichkeit mehr, weil bereits eine gewisse Vorprüfung im Hinblick auf eine mögliche Verfahrensrelevanz und Rechte Dritter durchgeführt worden sei.
Unter Verweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betont der 4. Strafsenat allerdings, dass damit eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft einhergehe, die Auswertung des Datenbestandes zügig vorzunehmen, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu dem Ergebnis zu gelangen, was dem Gericht als möglicherweise beweiserheblich zur Beschlagnahme vorgelegt und was an den Beschuldigten oder Drittbetroffenen herausgegeben werden solle. Hintergrund sei insbesondere, dass – wie hier erfolgt – ein stetiges „Nachschieben“ bisher unbekannter Beweismittel und – als Folge – eine Aussetzung der Hauptverhandlung verhindert werden solle. Der 4. Strafsenat hebt hervor, dass ein entsprechendes Vorgehen der Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall auch mit Blick auf die Menge des vorläufig sichergestellten Materials nicht zu rechtfertigen sei. Polizei- und Justizverwaltung hätten dafür Sorge zu tragen, dass die erforderlichen personellen und technischen Ressourcen zur Verfügung stünden.
In Abgrenzung zu der Entscheidung der 4. Großen Strafkammer des LG Koblenz[6] stellt der 4. Strafsenat klar, dass sich aus § 147 Abs. 1 StPO insbesondere kein Recht der Verteidigung ergebe, vorläufig sichergestellte Datenträger, über deren Beweisbedeutung noch keine Einschätzung getroffen worden sei, „mittels eigener Suchbegriffe nach weiteren als relevant erachteten Dokumenten zu durchforsten“. Die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 1 StPO sei noch Teil der Durchsuchung, an der der Verteidiger nicht teilnehmen dürfe. Die Verteidigung würde dadurch nicht unzulässig beschränkt, weil die Staatsanwaltschaft gemäß § 160 Abs. 2 StPO nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln habe.
Der 4. Strafsenat legt ferner darauf dar, dass seine Entscheidung im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR[7] stehe. Demnach seien die Strafverfolgungsbehörden zwar zur Ermöglichung eines fairen Verfahrens i.S.v. Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK gehalten, der Verteidigung – jedenfalls bei einem stichhaltig begründeten Antrag – alle in ihren Händen befindlichen sachlichen Beweise zulasten und zugunsten des Betroffenen offenzulegen. Auch seien davon solche Beweise umfasst, die die Anklage nicht in Erwägung gezogen oder als relevant angesehen habe. Die Rechtsprechung des EGMR verhalte sich aber nicht zu der Frage, zu welchem Zeitpunkt Einsicht gewährt werden müsse. In dem vom EGMR behandelten Fall sei eine Möglichkeit zur Einsichtnahme nach Anklageerhebung als ausreichend erachtet worden. Ferner gelte auch nach der Rechtsprechung des EGMR die Verpflichtung zur Offenlegung nicht grenzenlos – z.B. aufgrund eines entgegenstehenden erheblichen öffentlichen Interesses oder aufgrund entgegenstehender Grundrechte von Dritten. Der Wahrung der Rechte Dritter diene auch die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 1 StPO. Zu „sachlichen Beweisen“, die sich „in den Händen“ der Strafverfolgungsbehörden befänden, würden Daten erst durch Beschlagnahmeanordnung nach Durchsicht. Der Umstand, dass aufgrund der Größe von Datenbeständen regelmäßig keine Prüfung der Beweiserheblichkeit aller Dateien, sondern die Einschätzung der Beweiserheblichkeit kontextbezogen erfolge, sei ebenfalls mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar.
Darüber hinaus stehe die Entscheidung im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG[8]. Dieses weise hinsichtlich der Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails explizit darauf hin, dass das Verfahrensstadium der Durchsicht i.S.v. § 110 StPO der endgültigen Entscheidung über den Umfang der Beschlagnahme als eingriffsintensivere Maßnahme vorgelagert sei. Der Zweck von § 110 StPO bestehe gerade darin, lediglich diejenigen Informationen einem dauerhaften und damit intensiveren Eingriff zuzuführen, die verfahrensrelevant und verwertbar seien.[9] Der 4. Strafsenat merkt aber – unter Bezugnahme auf das BVerfG – an, dass es im Einzelfall trotz der Streichung der Regelung eines Anwesenheitsrechts des Inhabers der durchzusehenden Papiere und Daten in § 110 Abs. 3 StPO a.F. von Verfassungs wegen geboten und zweckdienlich sein könne, den Inhaber der sichergestellten Daten in die Prüfung der Verfahrenserheblichkeit einzubeziehen. Dies gelte insbesondere bei großen Datenmengen sowie für die Einbeziehung von Drittbetroffenen.
In der Sache hatte die Beschwerde der Staatsanwaltschaft – entsprechend der vorgenannten Grundsätze – insoweit Erfolg, als sie sich gegen die Gestattung der Fertigung von Kopien von solchen Asservaten richtete, die (1) die 4. Große Strafkammer des LG Koblenz nicht von ihrem Beschluss ausgenommen hatte und über die (2) das AG Koblenz noch nicht die Beschlagnahme angeordnet hatte. Die Regelung sei insoweit aufzuheben, weil sich die Asservate – soweit für den 4. Strafsenat ersichtlich – noch in der Phase der Durchsicht befänden und daher einem Zugriff der Verteidigung und einer Verfügung des Gerichts entzogen seien.
III. Einordnung & Kritik
Die Entscheidung des OLG Koblenz ist unter verschiedenen Gesichtspunkten für die Verteidigung bedeutsam.
1. Teilnahmerecht der Verteidigung an der Durchsicht vorläufig sichergestellter Papiere bzw. elektronischer Speichermedien
Der 4. Strafsenat ist der Ansicht, dass ein Besichtigungsrecht der Verteidigung gem. § 147 Abs. 1 StPO nur für Beweisstücke gelte, die erst mit der Beschlagnahmeanordnung entstünden; dieses Besichtigungsrecht bestehe demgegenüber nicht hinsichtlich (bloß) vorläufig gemäß § 110 StPO zur Durchsicht sichergestellter Datenträger.[10] Der Verteidiger habe deshalb kein Recht auf Teilnahme an der Durchsicht vorläufig sichergestellter Unterlagen bzw. Datenträger seines Mandanten.
Die Begründung des 4. Strafsenats orientiert sich im Wesentlichen an der Rechtsprechung des OLG Jena[11]. Dieses hatte sich mit der Frage zu befassen, ob der Verteidigung ein Teilnahmerecht bei der Durchsicht gemäß § 110 StPO zustehe. Ein solches Teilnahmerecht lehnte das OLG Jena ebenfalls mit Verweis darauf ab, dass die Verteidigung nicht zu dem in § 110 StPO genannten Personenkreis gehöre und dass Beweisstücke i.S.v. § 147 Abs. 1 StPO nur dann vorlägen, wenn die Durchsicht erfolgt und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen sei.[12]
Diese Rechtsprechung stößt auf erhebliche Kritik, beschränkt sie die Rechte der Verteidigung doch ganz erheblich. Zurecht wird in der Literatur deshalb für ein Anwesenheits- und Teilnahmerecht des Verteidigers auch bereits bei der Durchsicht vorläufig sichergestellter Unterlagen votiert, das jedenfalls für Unterlagen des eigenen Mandanten gelten müsse.
Teils wird das Anwesenheitsrecht des Verteidigers aus dem Recht auf effektive Verteidigung und dem Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der Vernehmung des Beschuldigten gemäß §§ 163a Abs. 3 Satz 2, § 168c Abs. 1 StPO hergeleitet,[13] teils aus dem Anwesenheitsrecht bei der Durchsuchung gemäß § 106 Abs. 1 Satz 1 StPO.[14]
Zwar geht ein selbstständiges „Durchforsten“ der gesicherten Daten sowie die Fertigung von Kopien elektronischer Asservate – wie auch von der Vorinstanz favorisiert – über die bloße Anwesenheit des Verteidigers hinaus; eine dauerhafte Anwesenheit bei der Durchsicht von großen Datenmengen durch die Staatsanwaltschaft ist aber schlichtweg nicht praktikabel. Auch mit den vorgenannten Ansätzen dürften sich daher Rechte des Verteidigers begründen lassen, die über seine bloße Anwesenheit hinausgehen und den Bedürfnissen einer effektiven Verteidigung bei der vorläufigen Sicherstellung von Datenträgern mit großen Datenmengen seines Mandanten hinreichend Rechnung tragen. Zum Teil wird bereits vorgeschlagen, sich mit den Strafverfolgungsbehörden auf „Suchwortkataloge“ zu verständigen, um so die Durchsicht begleiten und nachvollziehen zu können.[15]
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich aus der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht nur ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers ergeben kann, sondern es von Verfassungs wegen geboten sein kann, den Inhaber – in dem behandelten Fall von vorläufig sichergestellten E-Mails – in die Prüfung der Verfahrenserheblichkeit „einzubeziehen“.[16] Entsprechend dieser offenen Formulierung wies auch der 4. Strafsenat des OLG Koblenz auf die Möglichkeit einer Einbeziehung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit hin, leitete daraus aber kein Recht zur Fertigung von Kopien der elektronischen Asservate vor Anordnung der Beschlagnahme ab und setzte sich damit auch nicht weiter auseinander („ergänzend sei angemerkt“).
Dies passt zu dem – bedauerlicherweise – insgesamt formalistischen Charakter der Begründung des 4. Strafsenats. Die Abgrenzung zur Rechtsprechung des EGMR lässt ebenfalls eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen einer effektiven Verteidigung vermissen. Insbesondere in Fällen, in denen die Datenträger selbst vorläufig sichergestellt worden sind, d.h. nicht „nur“ eine „Spiegelung“ [17] stattgefunden hat, würde der Verteidigung mangels anderweitigen Zugriffs die Möglichkeit genommen, die vorgelegten Daten in den Gesamtkontext einzuordnen und selbständig nach entlastendem Material zu suchen.[18] Der 4. Strafsenat weist in den Entscheidungsgründen selbst darauf hin, dass aufgrund der Datenmenge eine Auswertung aller Dateien regelmäßig nicht in Betracht komme und es einer kontextbezogenen Einschätzung der Beweiserheblichkeit bedürfe. Diese Einschätzungen und deren Grundlage könnte die Verteidigung folglich nicht oder nur eingeschränkt überprüfen.
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerfG geht der 4. Strafsenat lediglich darauf ein, dass die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 1 StPO bzw. § 110 Abs. 4 StPO n.F. letztendlich den Interessen des Betroffenen zur Vermeidung einer eingriffsintensiveren Beschlagnahme diene, lässt aber unerwähnt, dass auch die Durchsicht selbst – insbesondere im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – eine eingriffsintensive Maßnahme darstellt.[19] Dies gilt umso mehr, als sich in der Praxis zum Teil Schwierigkeiten ergeben, die geltenden Grenzen einzuhalten.[20] und die Durchsicht auch in zeitlicher Hinsicht keinen klaren Grenzen unterliegt. Auf die sechsmonatige „Gültigkeit“ von Durchsuchungsbeschlüssen wird insoweit nicht abgestellt.[21]
2. Zeitpunkt des Abschlusses der Durchsicht vorläufig sichergestellter Unterlagen gem. § 110 StPO
Zu begrüßen ist die Entscheidung des 4. Strafsenats jedoch insoweit, als die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 1 StPO bzw. § 110 Abs. 4 StPO n.F. grundsätzlich mit Anklageerhebung abgeschlossen sein muss und deshalb ein stetiges „Nachschieben“ bisher unbekannter Beweismittel auch bei großen Datenmengen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit unzulässig ist.
Festzuhalten ist, dass sich ein solches Vorgehen auch nicht über § 108 StPO rechtfertigen ließe,[22] denn das Auffinden von weiteren Beweismitteln hängt nicht vom Zufall ab, sondern liegt in der Hand der Staatsanwaltschaft, der grundsätzlich alle Beweismittel vorliegen, wenn sie sich durch eine Verfahrensabtrennung sowie eine vorzeitige Anklageerhebung dagegen entscheidet, die Durchsicht aller Asservate abzuwarten.
Auf die Rechtsprechung des BGH, nach der die Staatsanwaltschaft bei neuen Erkenntnissen berechtigt bzw. verpflichtet sein soll, auch während der laufenden Hauptverhandlung weitere Ermittlungen durchzuführen,[23] kann ebenfalls nicht zur Rechtfertigung abgestellt werden, weil sich die neuen Erkenntnisse in dem vom BGH behandelten Fall aus der Hauptverhandlung selbst heraus ergaben.[24] Ob und inwieweit Ermittlungen noch nach Anklageerhebung auch ohne Veranlassung in der Hauptverhandlung zulässig sind, ist umstritten, weil die Ermittlungen eigentlich gemäß § 169a StPO mit Anklageerhebung abgeschlossen sind.[25] Überwiegend wird dies dennoch bejaht, sofern sich die Ermittlungen aufdrängen und die Hauptverhandlung dadurch nicht gestört wird.[26] Ob davon auch der Fall umfasst sein soll, dass sich die Ermittlungen – wie hier – von vornherein „aufgedrängt“ haben, der Anlass also schon bei Anklageerhebung bestand, erscheint jedoch fraglich.
Schließlich erachtete der 4. Strafsenat das „Nachschieben“ von Beweismitteln – in dem konkreten Fall – nicht (nur) aufgrund einer Störung der Hauptverhandlung als unzulässig, sondern stützte sich auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist stets auch den Bedürfnissen einer effektiven Verteidigung Rechnung zu tragen. Diese wird erheblich beeinträchtigt, wenn sich der Angeklagte und die Verteidigung wiederholt und/oder unvorbereitet mit bisher unbekanntem Beweismaterial von erheblichem Umfang konfrontiert sehen.
3. Fazit
Insgesamt bietet die Rechtsprechung des BVerfG und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen Anknüpfungspunkt für die Verteidigung, um (bei großen Datenmengen) auch schon vor der Beschlagnahmeanordnung (in Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden) auf eine Einbindung in die Durchsicht gemäß § 110 Abs. 4 StPO n.F. hinzuwirken. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfte es – abhängig vom Einzelfall und entgegen dem 4. Strafsenat des OLG Koblenz – auch gebieten, die Fertigung von Kopien elektronischer Asservate zu gestatten.[27] Zu begrüßen wäre, wenn der Gesetzgeber den normativen Rahmen anpassen und ein Anwesenheits- und Besichtigungsrecht der Verteidigung bei der Durchsicht (wieder) ausdrücklich verankern und diese an die Bedürfnisse bei großen Datenmengen, die heute vor allem in Wirtschaftsstrafsachen die Regel darstellen, anpassen würde.[28]